Das Foto zeigt zwei physische Buchausgaben der im Text besprochenen Novelle: Puppe Else - Eine Lesben-Novelle

Eigenzeit in Marlene Stentens Puppe Else. Eine Lesben-Novelle (1977)

„Wenn ich einmal fünf Stunden hintereinander gemalt habe, halte ich es überhaupt nicht mehr aus, täglich achteinhalb Stunden irgendwo eingesperrt zu sein. Keine Zeit, für nichts Zeit! Ich muß meine Bedürfnisse überprüfen und abbauen, dann soviel Geld beiseite legen, wie möglich ist, um einmal lange, lange Zeit ohne Arbeit, ganz frei zu leben.“
Marlene Stenten, Puppe Else, S. 120.

Irene Düntsch, die Ich-Erzählerin der Lesben-Novelle Puppe Else von Marlene Stenten, empört sich in dem angeführten Zitat über das Missverhältnis von individuell verfüg- und gestaltbarer Zeit zu den Zwängen der Arbeitswelt, denen sie unterliegt. Ihr Bedürfnis zu malen und somit frei über die eigene Zeit zu verfügen, ist der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, untergeordnet. Den für meine Arbeit zentralen Begriff der Eigenzeit verstehe ich in Anlehnung an Helga Nowotnys soziologischen Essay Eigenzeit (1989) als subjektiv wahrgenommene und erfahrene Zeit, über die im besten Fall frei verfügt werden kann. Dabei verhält sich Eigenzeit, das wird auch am Zitat aus Puppe Else deutlich, stets in Abgrenzung zu einer als gesellschaftlich gedachten Zeitordnung, hier eine patriarchal verstandene Fremd- oder Systemzeit, die wiederum disziplinierend auf das Individuum einwirkt.

Lesbische* Zeiten und Eigenzeiten

Mit Blick auf die Literatur wurde das Konzept der Eigenzeit von dem DFG-Schwerpunktprogramm Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne aufgegriffen und u.a. für die Literaturwissenschaft anwendbar gemacht. In meinem Dissertationsprojekt beziehe ich mich auf die Arbeiten des Programms, entwickele jedoch den Ansatz, hinsichtlich einer Analyse lesbischer* Zeiten und Eigenzeiten, weiter. Ich gehe von der These aus, dass sich im Zuge der Neuen Frauen*- und Lesben*bewegungen in den 1970er Jahren ein spezifisches Zeitbewusstsein entwickelte, das sich auch in der Literatur ablesen lässt. Eine breite Reflexion zur Relevanz und Bedeutung von Zeit und Eigenzeit wurde angestoßen, die etwa die unterschiedliche Bewertung von als männlich* gedachten Zeiten im Verhältnis zur Lebenszeit von Frauen* und Lesben* problematisierte. Ebenso traten die Wahrnehmung des eigenen Zeiterlebens und das Streben nach der Verfügungsmacht über die eigene Zeit in den Fokus. Daraus erwuchsen in den 1970er und 1980 Jahren Überlegungen über alternative Konzepte von Zeit, Eigenzeit und Lebensmodellen, die sich gegen die herrschende Bewertung von Zeit richteten. Literatur wurde somit zu einem Ort des Experimentierens mit Vorstellungen von Zeit und Leben.

Literarische Konstruktionen von Eigenzeiten

Anknüpfend an diese Überlegungen untersucht meine Dissertation literarische Texte aus BRD und DDR im Zeitraum zwischen 1971 und 1983, um sie auf ihre Konstruktionen von Eigenzeiten hin zu befragen. In den von mir gesichteten sechs Texten zeigt sich in der Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifisch normativen, patriarchalen Zeitordnungen und Lebensläufen ein geschärftes Zeitbewusstsein, das mit dem Wunsch der Protagonist*innen korrespondiert, sich eine eigene selbstbestimmte Zeit zu ‚erschreiben‘.

Literarische Zeitorganisation zwischen Novelle und Tagebuch

Auch die Lesben-Novelle Puppe Else bedient sich der Darstellungsform des Tagebuchs, das jedoch mit der Textform Novelle vermengt wird. Das Tagebuch ist linear und reflektiert subjektive Ereignisse und Gefühle mit Datumsangaben, während die Novelle eine nicht-lineare Erzählweise verfolgt. Zu Beginn der Novelle steht in aller Regel ein skandalträchtiges Ereignis, das in der Folge aufgeklärt oder ergründet werden muss. Puppe Else ist in drei Teile gegliedert, die aus datierten Tagebucheinträgen bestehen und in sich chronologisch geordnet sind. Der erste Teil bezieht sich auf die Reise Irene-Düntschs nach Paris im September 1970, der zweite Teil beschreibt die ersten Wochen ihrer Bekanntschaft mit Katharina, die im Jahre 1969 liegen, und der dritte Teil beschäftigt sich mit der intensivierenden Liebe der Ich-Erzählerin zu ihrer heterosexuellen Kollegin Katharina. Irene ist in Katharina verliebt, die ihr jedoch nicht die gleichen Gefühle entgegenbringt. Im Anhang wird das Rätsel um eine „unerhörte“ Begebenheit, den vermeintlichen Mord der Ich-Erzählerin an Katharina, aufgelöst und es wird enthüllt, dass Katharina nicht tot ist. Irene-Düntsch realisiert, dass sie nicht in der Lage war, Katharina zu töten, und findet zu ihrer eigenen Perspektive auf die Geschehnisse und ihr Verliebtsein. Dieser kurze Moment am Ende einer Suche nach der eigenen Position repräsentiert eine selbstbestimmte Eigenzeit.

Zeit mit Katharina

Im Mittelpunkt des ersten Teils steht der vermeintliche Mord an der geliebten Kollegin Katharina durch die Ich-Erzählerin Irene Düntsch. Irene reist nach Paris auf der Suche nach Katharina, die zuvor die Arbeit in Berlin gekündigt hatte, wobei die Reise in die Stadt der Liebe zu einer satirisch-grotesken Abrechnung mit heteronormativen Geschlechtervorstellungen und -rollen sowie der heterosexuellen Liebe wird. Paris ist entgegen der Idealvorstellung als Stadt der Liebe von Monstern und seltsamen Menschen bevölkert und Irene fühlt sich zugleich von sich selbst, ihrer Wahrnehmung und ihrem Handeln merkwürdig entfremdet. Irene trifft in Paris auf eine verkehrte Welt, in der sie als lesbische* Frau nicht mehr die ‚Andere‘ ist, sondern es die Gesellschaft um sie herum ist, die ‚verkehrt‘ erscheint. Als sie Katharina endlich findet, eskaliert die Situation und es kommt zu einem gewaltsamen Übergriff auf Katharina. Irene glaubt, dass sie Katharina getötet hat und flieht aus Paris. Zurück in Berlin versucht sie, ihre Angst vor Verhaftung durch die Übertragung ihrer handschriftlichen Tagebuchaufzeichnungen in Schreibmaschinenschrift zu überwinden. Der Prozess hilft ihr, emotional ruhiger zu werden, aber sie kann immer noch nicht verstehen, was passiert ist.

Bruch mit tradierten Erzählmustern?

In der Novelle geht es um Selbstermächtigung und der Suche nach einer alternativen lesbischen* Erzählperspektive gegenüber patriarchalen Mustern und der Auseinandersetzung mit tradierten Weiblichkeits*imagines. Das Symbol der Puppe Else verschränkt verschiedene Weiblichkeitsnarrative und -Vvrstellungen. Katharina ist das Objekt des Begehrens der Ich-Erzählerin und damit eine ‚typische Form‘ der Objektifizierung der Frau*, die eigentlich durch den männlich*-voyeuristischen Blick, hier jedoch durch die lesbische* Ich-Erzählerin bewirkt wird.

Irene Düntsch rechnet in der Novelle mit einer zutiefst homophoben patriarchalen Gesellschaft ab, mit deren Vorstellung von Weiblichkeit* und Heterosexualität sowie den tradierten Erzählmustern. Zugleich legt sie ihr eigenes patriarchales Verhalten gegenüber Katharina offen und verweist damit auf die geringen Möglichkeiten für weiblich*-lesbische* Perspektiven Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre, in der die Handlung situiert ist.

Alternative Wirklichkeiten

Meine Analyse zu Temporalität in Puppe Else veranschaulicht, wie lesbische* und/oder feministische Literatur der frühen 1970er Jahre zum generierenden Medium alternativer Wirklichkeiten wurde: Nicht nur stellt die Literatur die bestehenden Grenzen der Verfügbarkeit von Zeit für Frauen* und Lesben* in der Gegenwart der 1970er Jahre dar und problematisiert sie, sondern sie imaginiert und erprobt auch mögliche realitätsvorbereitende lesbisch*-feministische* Eigenzeiten und mögliche spezifisch weiblich*-lesbische* Erzählperspektiven jenseits der existierenden patriarchal geprägten. Puppe Else eröffnet heutigen Leser*innen außerdem einen Einblick in die Suche nach adäquaten ästhetischen Darstellungsformen, die sich noch vor der Etablierung einer Frauen*- und Lesben*bewegung mit der Frage nach einem weiblich*-lesbischen* Blick beschäftigten.

 

Abgeschlossenes Dissertationsprojekt zu Eigenzeit. Temporalität in der lesbisch*-feministischen* Literatur des geteilten Deutschlands (1971–1983)

 

Literatur

STENTEN, Marlene: Puppe Else. Eine Lesben-Novelle. Frankfurt am Main 1990.

NOWOTNY, Helga: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt am Main 1984.

 

Bücher im Titelbild

1) Ausgabe von 1977/1980 vom Sudelbuchverlag | Alle Rechte vorbehalten! | Copyright: Sudelbuchverlag | Auflage 1980 | c/o I. Dalinghaus | Kyffhäuserstr. 10 | 1000 Berlin 30 | Druck: Contrast | Vertrieb: Frauenbuchvertrieb GmbH | Mehringdamm 32-34 | 1000 Berlin 61

2) Fischer-Verlag-Ausgabe von 1984/1990 | Ungekürzte Ausgabe | Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH | Frankfurt am Main, September 1984 | Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Sudelbuchverlag GmbH, Berlin | Die Originalausgabe erschien 1977 unter dem Titel ‚Puppe Else. Eine lesbische Novelle‘ im Sudelbuchverlag Berlin | Copyright 1977 by Sudelbuchverlag GmbH, Berlin | Umschlaggestaltung: Susanne Berner  | Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck | Printed in Germany

 

Janin Afken ist seit 2016 als wissenschaftliche Mitarbeiter*in an der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Sie studierte Deutsche Literatur und Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin und war zuvor als Buchhändlerin tätig. Aktuell arbeitet sie zu Jewishness in der lesbischen Subkultur der Weimarer Republik und untersucht, in welcher Weise die Namen Ruth, Erika und Esther als Chiffren für queere Jewishness in der Literatur fungierten.

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