Das Bild zeigt ein Exemplar des im Artikel besprochenen Buches

Nach 100 Jahren erstmals publiziert: Sarah Rappeports Roman Die Jüdin von Cherut

Eine interkulturelle Liebesgeschichte

„In mehrfacher Hinsicht ein bedeutendes Dokument: als Beschreibung sozialer Modelle, als politische Utopie einer ethnisch egalitären Gesellschaft, als Muster des sozialistischen Realismus in der Literatur“ – so charakterisierte die Neue Zürcher Zeitung am 28. Februar dieses Jahres den Roman Die Jüdin von Cherut aus der Feder der österreichisch-israelischen Schriftstellerin Sarah Rappeport (1890-1980). Die um 1925 entstandene Erzählung handelt von der Jüdin Maria Roth und dem arabischen Kaufmann Husseini, die sich bei ihrer ersten, zufälligen Begegnung in einem Tuchgeschäft ineinander verlieben und mit der Zeit immer mehr von ihren bisherigen Lebensformen entfremden. Maria verlässt den fiktiven Kibbuz Cherut (‚Freiheit‘, historisches Vorbild ist En Charod), Husseini die Stadt Bet-Shean, wo er mit seinen Frauen und Kindern lebt. In Haifa finden die Liebenden, die sich beide für kommunistische Ziele engagieren, zusammen und beginnen ein gemeinsames Leben, das kulturelle Grenzen überwindet.

Wiederentdeckung eines Manuskripts

Das Manuskript des Romans, auf der Schreibmaschine getippt, wurde nach dem Tod der Autorin von ihren Nachkommen aufbewahrt. Vor einigen Jahren gewann Ofer Nordheimer Nur, Historiker an der Universität von Tel Aviv (und Verfasser der 2014 erschienenen Studie „Eros and Tragedy: Jewish Male Fantasies and the Masculine Revolution of Zionism“), Kenntnis davon und stellte den Fund in Vorträgen der akademischen Öffentlichkeit vor. So wurde Moshe Sluhovsky, Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem, auf den Roman aufmerksam und fasste den Plan, ihn alsbald zu veröffentlichen. Die Enkelinnen von Sarah Rappeport stimmten zu und stellten ihm Kopien des Manuskripts zur Verfügung.

Ein Gemeinschaftsprojekt

Dann ging alles sehr schnell, denn der Rahmen, in dem die Veröffentlichung erfolgen konnte, bestand schon. Seit 2016 kooperierten Moshe Sluhovsky und ich im Rahmen des von der German-Israeli-Foundation for Scientific Research and Development geförderten Forschungsprojekts „Jewish Presence in Weimar Gay and Lesbian Culture and the German-Jewish Contribution to the Emergence of Gay Culture in Palestine/Israel, 1933-1960“ (2016-2019). Moshe Sluhovsky verfasste eine kulturgeschichtliche Einführung. Ich übernahm die Aufgabe, anhand der ungeordneten Blätter und Durchschläge, die verschiedene, zum Teil fragmentarische Versionen des Romans überliefern, eine einheitliche Lesefassung zu erstellen und eine literaturgeschichtliche Einordnung zu schreiben. Als Dritte im Bunde kam Netta Bar-Ziv hinzu; sie führte Gespräche mit den betagten Enkelinnen von Sarah Rappeport, konnte Einblick in das Familienarchiv nehmen und steuerte auf dieser Grundlage eine Lebensbeschreibung der bislang unbekannten Autorin bei. Nora Pester, Verlegerin des Hentrich & Hentrich Verlags, und Liliana Ruth Feierstein, Herausgeberein der Reihe „Jüdische Spuren“, zeigten sich sogleich begeistert von diesem Buchprojekt und ermöglichten die bibliophile Publikation des Romans.

Einblicke in die Geschlechtergeschichte

Auch in geschlechtergeschichtlicher Hinsicht hat die Erzählung einiges zu bieten. Sie gewährt nicht nur Einblicke in das soziale Milieu der Kibbuzim in den 1920er Jahren, sondern konfrontiert auch die Liebesgeschichte zwischen der Jüdin Maria und dem Araber Hussein mit der innigen Freundschaft, die dessen Ehefrauen miteinander verbindet. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Der Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld besuchte während seiner Palästinareise im Frühjahr 1932 nicht nur Tel Aviv, Jerusalem und Haifa, sondern auch die Kibbuzim Beit Alfa und En Charod, wo er allem Anschein nach Sarah Rappeport kennenlernte. Liest man Rappeports fiktiven Roman und Hirschfelds dokumentarischen Reisebericht zusammen, gewinnt man einen lebhaften Eindruck von den Reformideen über Liebe und Sexualität, Ehe und Familie, die Hirschfeld in Berlin und auf seiner Weltreise propagierte und nun bei seinem Besuch im Kibbuz teilweise verwirklicht fand.

Eine faszinierende Schriftstellerin

Man möchte mehr von und über Sarah Rappeport lesen. Sie hat weitere literarische Werke verfasst, teils in deutscher, teils in hebräischer Sprache, die noch auf ihre Veröffentlichung warten. Auch ihre Biographie, die von Preßburg (Bratislava) über Wien und Göttingen nach Palästina führt, ist noch nicht vollständig erforscht. Die studierte Chemikerin und begeisterte Zionistin gab Anfang der 1920er Jahre das urbane Leben in der Wiener Bourgeoisie auf, um mit Mann und Kindern ein entbehrungsreiches Leben in der Gemeinschaft des Kibbuz Bet Alfa zu führen. Während ihr Partner, der Mathematiker und Philosoph Elijahu Rappeport, schon vor der Auswanderung nach Palästina zu einem vielversprechenden, von Martin Buber geförderten Schriftsteller avanciert war (ein Briefwechsel legt Zeugnis davon ab), begann für Sarah erst nach der Auswanderung die Zeit der literarischen Produktivität. Unterstützung fand sie bei dem befreundeten Wiener Maler und Journalisten Arthur Stadler, der das Manuskript ihres Romans lektorierte. Seine Versuche, einen Verleger für sie zu finden, blieben jedoch erfolglos. Wer den aufschlussreichen Brief, den Stadler mit dem redigierten Manuskript an Sarah Rappeport zurückschickte, nachlesen möchte, findet ihn im Anhang des nun publizierten Buchs.

„Am Rand / Der betonierten Straßen“

Dem Roman vorangestellt ist ein Gedicht, das Sarah Rappeport ihrer Erzählung beigefügt hat. Es bietet eine impressionistische Miniatur, die den Kontrast zwischen der einheimischen Landbevölkerung und den zionistischen Pionier*innen auf den Punkt bringt. Die Verse, die einen Eindruck vom literarischen Stil der Autorin geben, lauten: „Nach Vollkommenheit dürstend / Sehe ich in diesem Lande / Nur die flatternden Gewänder der Fellachen, / Bewegt wie der Wind, / Getönt wie die Erde, / Wandern sie am Rand / Der betonierten Straßen, / Nur sie, geboren im Rhythmus des Landes“.

 

Sarah Rappeport, Die Jüdin von Cherut. Hg. v. Andreas Kraß u. Moshe Sluhovsky. Berlin/Leipzig: Hentrich und Hentrich 2020 (Jüdische Spuren 9). 213 Seiten, 16,90 Euro.

 

Andreas Kraß ist Professor für deutsche Literatur des Mittelalters am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität. Gemeinsam mit dem Historiker Moshe Sluhovsky und der Literaturwissenschaftlerin Tamar Hess von der Hebräischen Universität in Jerusalem führt er zurzeit ein von der Berliner Einstein-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt zum Thema „Jewish Homosexual Modernism in the German Speaking World and in Mandatory Palestine/Israel“ durch (2020-2022).