Abbildung: Reiseschein Itinerary Mexico

Urlaubsreisen – (k)ein Thema für die Genderforschung?

Frauenreiseforschung

In den vergangenen Jahrzehnten hat feministisch inspirierte Forschung nicht nur Theoriearbeit geleistet, sondern ganz pragmatisch systematisch ,vergessene‘ Frauen, die sich in Wissenschaft, Kunst, Literatur oder Politik einen Namen gemacht hatten, aus dem Dunkel der Geschichte befreit. Darunter befanden sich auch jene weiblichen Reisenden, die sich als Schriftstellerinnen im 18. und 19. Jahrhundert einen Namen erworben hatten. Ein wichtiges Ergebnis dieser Bemühungen ist die kommentierte Neuveröffentlichung ihrer Reisebeschreibungen, die heutigen Leser*innen einen leichten Zugang zu ihren Werken ermöglicht. In einem frühen Stadium der Frauenreiseforschung wurden diese Protagonistinnen noch als „Heldinnen, Ausnahmefrauen und ‚Proto-Feministinnen‘“ präsentiert. (Habinger, 2006) Doch das war bald überwunden zu Gunsten eines kritischen Zugangs zu ihren Leistungen als Schriftstellerinnen oder Ethnographinnen, zu ihrer Weltsicht und ihren Vorurteilen. Allerdings: In die männlich geprägte Ahnenliste der großen Entdeckungsreisenden wurden sie nicht aufgenommen. So bleibt es bei dem bis heute gültigen Resümee: „Auch in neueren Untersuchungen werden reisende und forschende Europäerinnen kaum berücksichtigt oder oft nur als ‚Sonderkategorie‘ geführt.“ (Habinger, 2006) Dafür haben sich in den letzten Jahren vermehrt Journalist*innen dieser Frauen bemächtigt, um sie als besonders mutige Vertreterinnen ihres Geschlechts idealisierend zu präsentieren.

Massentourismus – ein Werk der Touristinnen?

Betrachtet man den feministischen Diskurs, ist allerdings nicht zu übersehen, dass dieser selbst ein gewichtiges Argument in Feld geführt hat, durch das Frauen theoretisch aus der Sphäre des Reisens verbannt wurden. Wenn die Frau – wie in feministischer Forschung herausgearbeitet – sozialhistorisch im Haus verortet wurde, dann ist sie schlecht als Weltreisende vorstellbar. Dabei ist es ebenso lehrreich wie unterhaltsam, jenen Bedingungen nachzuspüren, die ihre häuslichen Bindungen gelockert haben. Erst mit den Touristinnen, den Vergnügungsreisenden scheint sich der Widerspruch aufzulösen. Doch wurde damit neues ideologisches Ungemach heraufbeschworen. Es galt, diese nun so genannten Massentouristen abzuwerten, indem das Ideal des nach wie vor männlich strebenden Reisenden in Gestalt des Individualtouristen ins 20. Jahrhundert gerettet wurde. Pauschalreisen schienen dagegen weiblich dominiert zu sein. Dahinter steckt allerdings die tiefe Abneigung der schon immer reisefreudigen Eliten gegenüber den ,kleinen‘ Leuten, mit denen sie sich am Urlaubsort möglicherweise konfrontiert sahen. Es war besonders die Gestalt des reisenden ,Tippfräuleins‘, die einerseits als Prototyp der geistlosen Massentouristin galt, andererseits aber den Reiseveranstaltern als neue Kundin willkommen war. Positiv gewendet ist die Demokratisierung der Urlaubsreise im 20. Jahrhundert daran gebunden, dass neue soziale Gruppen, allen voran die Angestellten ihre durchaus nicht üppigen Einkünfte für diesen Zweck eingesetzt haben.

Tourismus – ein weites Feld für die Genderforschung

Auch die Genderforschung hat sich des Massentourismus angenommen – allen voran Wissenschaftler*innen aus dem angelsächsischen Raum. Sie arbeiten insbesondere an einer Kritik der ökonomischen Verhältnisse im Tourismus. Es geht um die (auch sexuelle) Ausbeutung der Bereisten durch Tourist*innen, die Perspektive ‚race‘ eingeschlossen, um sexualisierte Tourismuswerbung, um das Ungleichgewicht von schlecht bezahlten weiblichen Angestellten der Branche und hochdotierten männlichen Chefs auch hier zu Lande. Während für die Historiker*innen das Ungleichgewicht der Geschlechter unter den Reisenden im Zentrum stand, scheint sich diese Frage mit dem Aufkommen des Massentourismus erledigt zu haben. Die in entsprechenden Studien entlang den binären Kategorien von Mann und Frau erfasste Reisebilanz ist nahezu ausgeglichen und Untersuchungen, die sich mit Unterschieden beschäftigen, sind eher selten. Die jährlich in Deutschland durchgeführten und auf der Internationalen Tourismusbörse in Berlin (ITB) vorgestellten repräsentativen Untersuchungen zum Reiseverhalten wenden sich nur selten Aspekten der Geschlechterverhältnisse zu. Das gilt im Übrigen auch für das Forschungsdesign selbst. Zwei Bereiche fallen jedoch ins Auge – Ungleichzeitigkeiten bei Reisewünschen und Reisegestaltung im Lebenslauf sowie, damit zusammenhängend, in der Zusammensetzung und den Motiven der großen Gruppe Alleinreisender. Dazu gehört, dass Frauen oft erst nach der Familienphase ihren Bedürfnissen entsprechend verreisen. (Irmscher, 2020)

Familienurlaub – ein Haushalt auf Reisen

Gegenwärtig wird diskutiert, ob die durch Corona-Maßnahmen erzwungene Häuslichkeit die ,alte‘ Verteilung der Haushalts- und Erziehungsaufgaben wieder aufleben lässt. Glücklicherweise ist den Expert*innen klar, dass es in ,normalen‘ Zeiten auch nicht viel anders ist. Wie aber sieht es im Urlaub aus? Während ein (konservativer) Soziologe wie Scheuch in den 1970er Jahren darauf hinwies, welche Erleichterung es für die Hausfrau sein muss, in ihrem Feriendomizil das Essen vorgesetzt zu bekommen, schwärmt ein anderer Tourismusforscher von der Freiheit der Mütter auf dem Campingplatz, wo sie ihre Familie unter einfachen Bedingungen bekochen können. (Scheuch, 1977 und Hennig, 1999) Bietet nicht der Familienurlaub jedes Jahr die Gelegenheit, die familialen Geschlechterverhältnisse wie in einem Brennglas zu studieren? Wäre es nicht in dieser Hinsicht eine dankbare Aufgabe, den Trend zur Ferienwohnung respektive zum Ferienhaus zu untersuchen? Die Werbung verspricht Selbstbestimmung. Man müsse sich mit dem Frühstück nicht nach dem Zeitplan des Hotels richten – doch wer bringt das Frühstück dann auf den Tisch, räumt ab, bestückt den Geschirrspüler und entwirft den Speiseplan?

Einladung zum brainstorming

Geschlechterverhältnisse und Reise, das ist ein einladendes Forschungsfeld mit bisher mehr oder weniger beackerten Regionen, angefangen von der geschlechterpolaren Konstruktion der Welt (,weibliches‘ Europa), einzelner Landschaften (,männliches‘ Schottland) und Destinationen (Harem und Schlachtfeld), von Fiktionen der Eroberung (Rassismus und sexuelle Ausbeutung), von geschlechtsbedingten Hierarchien im Gefüge der Reiseveranstalter und unter den Reisenden selbst (männliche Erklärer und weibliche Zuhörer), um nur einige zu nennen. Um hier neue Vorhaben zu erschließen, wäre es allerdings notwendig, Massentourismus nicht nur aus kulturkritischer Perspektive zu betrachten, sondern als kulturelle Praxis der Vielen. Das fällt Akademiker*innen besonders schwer, obwohl sie seit zweihundert Jahren jene soziale Gruppe repräsentieren, die die höchste Reiseintensität aufzuweisen hat und in der sich die ,Reisepioniere‘ befinden.

Literatur

Habinger, Gabriele: Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Wien 2006, S. 115.

Ebd., S.109.

Irmscher, Gerlinde: Die Touristin Wanda Frisch. Eine Reisebiografie im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2020. S. 35 ff.

Scheuch, Erwin: Soziologie der Freizeit, in: König, René: Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 11: Freizeit und Konsum, Stuttgart 1977, S. 145

Hennig, Christoph: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt a. M. 1999, S. 33

 

Gerlinde Irmscher war bis 2014 Privatdozentin am Kulturwissenschaftlichen Seminar an der Humboldt-Universität zu Berlin. Unter anderem das Thema „Reisen“ bot ihr in Lehrveranstaltungen wie Veröffentlichungen Gelegenheit, kulturellen Phänomene in Theorie und Praxis aufzuspüren und zu untersuchen.