Das Bild zeigt das Gemälde: Raub der Sabinerinnen

Let’s talk about it: Ein Einblick in unseren Workshop: „‚vim licet appelles‘: Wie sprechen wir über Sexualität und Macht in antiken Texten?“

Wir, eine Gruppe aus neun Studierenden und zwei Dozierenden der klassischen Philologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, haben im Sommersemester 2021 einen außer-curriculären Workshop zum Thema „sexualisierte Gewalt in antiken Texten“ mit zahlreichen Teilnehmer*innen abgehalten. Das Ganze fand online über Zoom statt.

Worum genau ging es in unserem Workshop und wieso interessiert uns dieses Thema? Im Laufe unseres Studiums der Latinistik beschäftigen wir uns viel mit antiken Klassikern wie zum Beispiel der Ars amatoria von Ovid. Zwei Bücher dieser Instruktion zur ‚Kunst der Liebe‘ sind an Männer gerichtet; das dritte richtet sich vorgeblich an Frauen, rechnet aber offenkundig auch mit einer männlichen Leserschaft. Im ersten Buch der Ars amatoria liest man folgende Verse (668-669):

Vim licet appelles: grata est vis ista puellis.

Quod iuvat, invitae saepe dedisse volunt.

Es steht dir frei, es Gewalt zu nennen: Den Mädchen ist solche Gewalt lieb. 

Weil es sie erfreut und sie oft wollen, dass sie sich gegen ihren Willen hingeben. 

Dem*der Leser*in drängen sich Fragen auf: Ist das okay, was ich hier gerade lese? Wird dieser Satz jetzt ebenso übersetzt wie die übrigen und fügt er sich unkommentiert in die Flut der Verse ein? Haben die klassischen Autoren wie Ovid eine so unantastbare Hoheit, dass wir den Inhalt ihrer Werke hinnehmen müssen, ohne ihn zu hinterfragen?

Um bei Ovid zu bleiben, der auch in seinem Verwandlungsepos, den Metamorphosen, unter anderem von den „Liebesabenteuern des Zeus“ berichtet, so findet sich nach kurzem Googeln eine Diskussion in einem Latein-Forum aus dem Jahr 2011 zu ebendiesem Thema. Die Frage, die an die Forumsmitglieder gestellt wurde, lautete: „Findet ihr es zu hart, wenn man die Liebesgeschichten in den Metamorphosen – also vornehmlich die von Jupiter – als Vergewaltigungen bezeichnet?

Das Bildschirmfoto zeigt Beiträge in einem Diskussionsforum.
Abbildung 1: Bildschirmfoto

Latinist*innen wie etwa Prof. Dr. Katharina Wesselmann, die wir auch für unseren Workshop gewinnen konnten, beschäftigen sich bereits seit langer Zeit mit dem Thema, wie mit sexualisierter Gewalt in antiken Texten und mythischen Geschichten umzugehen ist. Sie spricht über eine blinde Tradition und den Versuch, eine Sensibilisierung in den Altertumswissenschaften voranzutreiben.

Der Forums-Screenshot zeigt, dass sich Leute schon zehn Jahre vor unserem Workshop auch außerhalb der Wissenschaft mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben. Die Forumsdiskussion veranschaulicht deutlich, dass oft das beschwichtigende Argument einer grundsätzlichen Andersartigkeit der Antike gebraucht wird, das die modernen Leser*innen davon befreien (oder: daran hindern?) soll, die Szenen sexualisierter Gewalt in literarischer Darstellung in antiken Texten zu hinterfragen: Andere Verteilung der Geschlechterrollen, andere gesellschaftliche Normen, andere Religion. Doch diese Sichtweisen wollten wir so nicht hinnehmen.

Ein Workshop muss her

Wie schaffen wir es also, dass diesem Thema mehr Bedeutung und Aufmerksamkeit entgegengebracht wird? Unsere Idee war es, einen Workshop zu veranstalten, um in diesem Rahmen offen zu sprechen und zu diskutieren. Zu diesem Zweck haben wir uns ein umfassendes Sicherheitskonzept überlegt, um allen Teilnehmer*innen einen sicheren Raum für einen respektvollen Austausch anbieten zu können.

Eingeleitet wurde unser Workshop von zwei Gastrednerinnen. Frau Prof. Dr. Katharina Wesselmann, die an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zur „Fachdidaktik der Alten Sprachen“ lehrt und Autorin des Buches „Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen“ ist, sprach über die Darstellungen und Deutungen sexualisierter Macht in antiken Texten. Frau Prof. Dr. Kerstin Palm, die am Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin die Bereichsleitung für Gender & Science innehat, hielt einen Vortrag über die Sensibilität beim Gebrauch von Gender-Sprache.

Den Workshop selbst haben wir inhaltlich in drei Unter-Workshops aufgebaut: 1. Grammatik und Lexik, 2. Textanalyse und 3. Didaktik. Alle drei Workshops fanden dann hintereinander am selben Tag statt. Die Ergebnisse aller Workshops wurden am Ende in einer einstündigen und von Prof. Dr. Lisa Cordes (Institut für Klassische Philologie, HU) moderierten Schlussdiskussion zusammengetragen.

In Workshop 1 „Grammatik und Lexik“ wurde der Umgang mit Übersetzungen von lateinischen Wörtern und Wendungen, die in Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt häufig vorkommen, zum Thema gemacht. Dabei wurde gemeinsam erörtert, welche Schwierigkeiten bei der Nutzung von Wörterbüchern in Hinblick auf die Bedeutungswahl auftreten, wenn dies im Kontext sexualisierter Gewalt passiert. So wie zum Beispiel das Wort „scelus“, das zu Deutsch als „Verbrechen“ oder „Frevel“, aber auch als „Fehler“, „Bosheit“ oder „Schandfleck“ übersetzt werden kann. Man sieht bereits, im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt können hier je nach Übersetzung unterschiedliche Nuancen entstehen.

Das Bild zeigt STatuen der Figuren Apollo und Daphne.
Abbildung 2: Apollo und Daphne

In Workshop 2 „Textanalyse“ haben wir einige Szenen aus verschiedenen literarischen Werken unterschiedlicher Genres gelesen, in denen es um sexualisierte Gewalt geht. Dabei haben uns Fragen wie „Wie manifestiert sich der Gewaltakt?“, „Erzählperspektiven: Welche Einblicke erhalten Lesende in die Handlungen und Emotionen von Täter und Opfer“ und „Trifft die angegebene Übersetzung die Bedeutung des lateinischen Textes?“ beschäftigt. Hier entstanden spannende Diskussionen über die Darstellung und Kontextualisierung von Scham, Schande und Schuld, ebenso waren auch Machtgefälle zwischen Opfern und Tätern ein wichtiger Diskussionsschwerpunkt.

In Workshop 3 „Didaktik“ stand der Umgang in der Lehre mit antiken Texten, die sexualisierte Gewalt zum Inhalt haben, im Mittelpunkt. Sowohl an Schulen als auch an Universitäten ist eine kritische und reflektierte Auseinandersetzung mit gewissen Textstellen notwendig für das Verständnis der lateinischen Literatur.

Workshop 3 war thematisch gegliedert in: 1. „Sicherheitsmaßnahmen“ (präventive Sicherheitsmaßnahmen wie trigger warnings und intervenierende Maßnahmen in Lehrveranstaltungen), 2. „Meta-Reflexion“ (Diskussion über die „HEADS-UP“ Methode von Vanessa de Oliveira) und 3. „Lehrbuchanalyse“ (am Beispiel des sogenannten ‚Raubes der Sabinerinnen‘ sollte gezeigt werden, wie dieser Text in Schulbüchern dargestellt und wie sich darin diesem sensiblen Thema gewidmet wird). Bei dieser Geschichte handelt es sich um einen wichtigen Bestandteil des Gründungsmythos Roms, beschrieben u.a. von dem römischen Historiker Livius (ca. 59 v. Chr. – ca. 17 n. Chr.) in seinem Geschichtswerk „ab urbe condita“. Demzufolge gab es in der neu gegründeten Stadt Rom zu wenig Frauen. In einer List lud Romulus das benachbarte Volk der Sabiner zu Spielen nach Rom ein und die Römer ‚raubten‘ alle jungen Frauen, um sie zu heiraten und nachfolgende Generationen zeugen zu können. Es zeigt sich, dass diese Geschichte viel Reflexionspotential für den Unterricht bietet; allein die Frage, ob Schüler*innen unterschiedlicher Altersstufen klar ist bzw. klar gemacht werden sollte, was mit dem ‚Raub‘ gemeint ist, bietet Material für Diskussionen.

Das Bild zeigt das Gemälde: Raub der Sabinerinnen
Abbildung 3: Raub der Sabinerinnen

Aus einem sensiblen Umgang mit Texten lernen

Fakt ist, dass man als (aus)gebildete*r Latinist*in an Geschichten wie denen von Ovid oder Livius nicht vorbeikommt. Diese beiden Autoren nicht zu lesen, bedeutet einen enormen Verlust für das Verständnis der lateinischen, klassischen Literatur. Somit muss es uns ein Anliegen bleiben, uns auf einer kritischen und reflektierenden Ebene mit antiken Texten zu beschäftigen. Denn trotz der großen zeitlichen und kulturellen Distanz werden in den Texten hochaktuelle Themen verhandelt. Und möglicherweise bietet eben diese Distanz, die uns von der Antike trennt, Potential für neue Perspektiven. Solche und ähnliche Aspekte diskutierten wir in der Schlussdiskussion. Wir hoffen, durch unseren Workshop das Interesse an solchen Fragen erhöht zu haben und dass solche Diskurse ein starker und nachhaltiger Teil der universitären Lehre und des Schulunterrichts werden.

 

Abbildungen

Abb.1: Screenshot aus albertmartin.de Forum, https://www.albertmartin.de/latein/forum/?view=21767, aufgerufen am 6.9.2021, 23:23.

Abb.2: Apollo und Daphne, Abbildung der Marmorfigur von Bernini, aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Apollo_und_Daphne#/media/Datei:Apollo_and_Daphne_(Bernini).jpg, aufgerufen am 5.9.2021, 12:48. CC BY SA 4.0

Abb.3: Raub der Sabinerinnen, Gemälde von Johann Heinrich Schönfeld um 1640, aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Romulus_und_Remus#/media/Datei:Johann_Heinrich_Schönfeld_004.jpg, aufgerufen am 5.9.2021, 13:02. gemeinfrei

 

Natascha Kostial hat in Wien Geschichte und Alte Geschichte sowie Klassische Philologie studiert. Seit April 2020 ist sie an der Humboldt-Universität zu Berlin eingeschrieben und studiert dort im Kernfach Latein sowie Bibliotheks- und Informationswissenschaften im Zweitfach. Seit Anfang dieses Jahres arbeitet sie auch als Studentische Hilfskraft am Robert K. Merton-Zentrum für Wissenschaftsforschung. In Job und Studium stehen die Transformation von Gesellschaften und Werten in ihrem Interessensfokus.