Das Bild zeigt Clara Zetkin (links) und Rosa Luxemburg auf dem Weg zum SPD-Kongress in Magdeburg 1910.

#AusdemSeminarraum: Emanzipation und Revolution um 1900

Um 1900 transformieren sich sowohl der Zugriff auf Körper- und Geschlechtlichkeit als auch das Verständnis von Gender und Sexualität im Kontext eines größeren sozialen und ökonomischen Wandels. Vor dem Hintergrund dieser Verschiebungen konzipierten wir unser Seminar »Emanzipation und Revolution – Kritische Perspektiven auf Gender und Sexualität um die Jahrhundertwende (1890-1930)« am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien. Das Seminar wurde im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen der Humboldt-Universität und der Princeton University angeboten und dementsprechend zusammen von einer Doktorandin der Humboldt-Universität, Susanne Klimroth, und einer Doktorandin der Princeton University, Mari Jarris, unterrichtet. Aufgrund der pandemiebedingten Onlinelehre haben wir uns für ein synchrones Format und wöchentliche Zoom-Seminar-Sitzungen entschieden.

Die Idee zum Seminar ist aus gemeinsamen Gesprächen zu unseren sich überlappenden Forschungsinteressen entstanden. Im Zentrum standen die vielfältigen Perspektiven von Autorinnen, die um 1900 literarisch, essayistisch und wissenschaftlich Perspektiven auf Gender und Sexualität entwarfen. Wie denken weiblich gelesene Schreibende über Sexualität? Wie wurden Themen wie Mutterschaft, Hausarbeit, Abtreibungsrechte, Sinnlichkeit und Sexarbeit im frühen 20. Jahrhundert konzipiert? Welche politischen Motive prägten engagierte Akteur*innen in diesem Zeitraum?
Ein besonderes Anliegen war uns bereits während der Seminarkonzeption, dass wir den Studierenden Texte einiger zu selten gelesener Autor*innen vorstellen wollten. Die Studierenden haben trotz der Unbekanntheit vieler Autorinnen mit Neugier und Begeisterung auf die Texte reagiert. Als wir ihnen die Wahl zwischen einem kanonischen Text von Sigmund Freud und einem kaum rezipierten Text von Johanna Elberskirchen, „Die Liebe des dritten Geschlechts“ angeboten haben, fiel die Wahl auf den Letzteren.
Ziel des Seminars war es zum einen, die Texte in ihrem historischen Kontext zu lesen und zeitgenössische Debatten zu rekonstruieren, beispielsweise die politischen Differenzen der bürgerlichen und der sozialistischen Frauenbewegung. Zum anderen sollte eine kritische Umgangsweise mit dem historischen Material, unter Einbezug aktueller Diskurse und Theorien eingeübt werden. Dabei war es uns wichtig eine kollektive Arbeitsatmosphäre zu schaffen und die Sitzungen auf der Grundlage der Fragen und Beobachtungen der Studierenden zu strukturieren.

Historische Debatten und Bezüge zur Gegenwart

Eine der ersten Beobachtungen, die die Studierenden machten, waren die heterogenen Beziehungen der ausgewählten Autorinnen zur sogenannten Frauenfrage. So haben sich einige Akteurinnen wie beispielsweise Lou Andreas-Salomé, Franziska zu Reventlow oder Rosa Luxemburg vom „Feminismus“ der Zeit explizit abgegrenzt: entweder, weil sie sich nicht politisch positionieren wollten oder, weil sie „Feminismus“ aus marxistischer Sicht mit bürgerlichem Reformismus gleichgesetzt haben. Autorinnen wie beispielsweise Marieluise Fleißer haben für sich selbst keine Positionierung als Feministin vorgenommen, doch bieten ihre Texte aus unserer Sicht Anlässe für feministische Lektüren. Einige Autorinnen wie Grete Meisel-Heß oder Hedwig Dohm entstammten dem Umkreis der bürgerlichen Frauenbewegung. Ausführlicher haben wir uns mit den Argumenten sozialistischer Denkerinnen wie Clara Zetkin, Lu Märten und Aleksandra Kollontaj beschäftigt, die trotz der Opposition innerhalb der Arbeiterbewegung Gender und Sexualität im Rahmen des Marxismus theoretisiert haben.

Inhaltlich näherten wir uns den Themen und Texten des Seminars in drei Unterabschnitten – »Geschlechtlichkeit und Sexualität«, »Autonomie und Arbeit« und »Gender, Race und Revolution« an. Im ersten Abschnitt standen dabei sowohl literarische als auch theoretische Entwürfe weiblicher Sexualität im Fokus. Wir lasen beispielsweise Auszüge der sexualtheoretischen Schrift „Die sexuelle Krise“ (1909) von Grete Meisel-Heß, literarische Darstellungen und Aneignungen weiblichen Begehrens von Lou Andreas-Salomé und Franziska zu Reventlow sowie Auszüge aus Johanna Elberskirchens sexualtheoretischer Auseinandersetzung mit und positiver Umwertung der Homosexualität. Die Studierenden haben ihre Überraschung über die Aktualität der Themen und Fragestellungen immer wieder ausgedrückt, die sowohl zu Diskussionen über Methoden der Analyse historischer Texte geführt, als auch Gespräche über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum gegenwärtigen Diskurs angeregt haben. Die Vielfalt der theoretischen und literarischen Texte hatte den Vorteil, dass in jeder Sitzung unterschiedliche Studierende ihre Expertisen einfließen lassen konnten, während andere neue Perspektiven und Gattungen kennenlernen konnten.

Intensive Textarbeit

Unser didaktisches Ziel war es, eine egalitäre und demokratische Kommunikationsbasis zu schaffen, die einen Lernprozess für alle Beteiligten, einschließlich uns Lehrenden, eröffnet. Die Seminarleistung für alle Studierenden bestand darin, wöchentlich Beobachtungen und Fragen
zu den jeweiligen Texten vorab bei Moodle einzustellen. Dies bot uns einerseits die Gelegenheit, in Vorbereitung auf die Sitzung entsprechende Hintergrundinformationen gezielt abstimmen zu können sowie eine gemeinsame Textdiskussion auf Grundlage dieser Fragen vorzubereiten. Ferner ermöglichte die Gleichzeitigkeit mündlicher und schriftlicher Beteiligungsoptionen Studierende gezielt einzubeziehen, die sich im Schriftlichen wohler fühlen, indem wir sie beispielsweise in den einleitenden Worten namentlich erwähnten oder sie baten ihr Argument noch einmal im Plenum zusammenzufassen. Die Sitzung eröffneten wir zumeist mit einem kurzen inhaltlichen Input und entsprechenden Kontextualisierungen, die spezifische Fragen von Studierenden zum Ausgangspunkt nahmen.

Bereits im Moodle-Kurs war erkennbar, dass die Studierenden die Beobachtungen ihrer Kommiliton*innen rege mitverfolgten und sich aufeinander bezogen. Die intensive Auseinandersetzung der Studierenden mit den Argumenten, die bereits in den schriftlichen Kommentaren ersichtlich wurde, ermöglichte einen direkten Einstieg in gemeinsame Diskussionen während der Seminarsitzung. Um auch hier den verschiedenen kommunikativen Bedürfnissen der Studierenden gerecht zu werden, haben wir neben dem Schwerpunkt auf den Diskussionen im Plenum wöchentlich Arbeitsphasen in Kleingruppen eingerichtet. Die Textdiskussion erfolgte auf zwei Ebenen: Einerseits analysierten die Studierenden durch die Lektüre der Primär- und Sekundärliteratur Argumente und rhetorische beziehungsweise ästhetische Strategien, andererseits dienten diese Texte als Basis zur Diskussion größerer Zusammenhänge und Interdependenzen. So sollten gemeinsam übergeordnete Fragen nach Kanonisierungsprozessen, zum historischen Kontext, und zu ökonomischen sowie gesellschaftlichen Produktionsbedingungen des Textes beantwortet werden. Als methodische Ausgangspunkte dieser Diskussion diente das gemeinsame Erarbeiten eines Theorie- und Methodenapparates im Umfeld verschiedener queer-feministischer Theorien sowie der (impliziten) Vermittlung literaturwissenschaftlicher Analysekategorien im Zuge ihrer Anwendung zur Textinterpretation.

Den Erfolg des Seminars verdanken wir den Studierenden, die sich trotz der Erschöpfung des dritten Semesters der Online-Lehre durchgehend engagiert, sich intensiv und kritisch mit den Texten auseinandergesetzt und originelle Beobachtungen zur Diskussion beigetragen haben.

 

Das Format #AusDemSeminarraum bietet die Gelegenheit, Lehr- und Studienerfahrungen in den Gender Studiengängen an der Humboldt-Universität zu Berlin zu reflektieren und darüber zu berichten. Die Gender Studies an der HU bieten seit mehr als zwanzig Jahren transdisziplinäre, intersektionale und wissenskritische Lehre an. Daraus erwachsen sind gefestigte Netzwerke und vielfältiges Erfahrungswissen, von denen die Gestaltung der Lehrveranstaltungen in jedem Semester profitiert. Zugleich bleiben Lehr- und Lernprozesse lebendig, sie stellen sich aktuellen Herausforderungen – wie im laufenden Semester der Umstellung auf digitale Lehre  – und fordern neue Gestaltungsweisen, sie entdecken innovative Themen und vielfältige Zugänge und sind oftmals gekennzeichnet vom herausragenden Engagement aller Beteiligten. Wer sich für die Lehre in den Gender Studies interessiert, wird hier Anregungen finden.

 

Mari Jarris ist Doktorandin am Institut für Komparatistik der Princeton University und am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität. Ihre Dissertation untersucht Utopie und Gender im deutschen und russischen Sozialismus des 19. und 20. Jahrhunderts.

Susanne Klimroth ist Doktorandin im bi-nationalen Promotionsprogramm »Das Wissen der Literatur« an der Humboldt-Universität Berlin und verbringt derzeit einen Forschungsaufenthalt an der Cornell University. Ihre Promotion befasst sich mit den geschlechterpolitischen Dimensionen von abscheulichen Körpern in der deutschen Literatur der Moderne.