umgestürzte Kegel auf einem Straßenparcours

Braucht Autonomes Fahren Fürsorge?

Technikbeherrschung ist eine zentrale Dimension der Verknüpfung von Technik mit Männlichkeit (Wajcman 1991). Verletzlichkeit und Fürsorge können jedoch auch Beziehungen zu technischen Artefakten, z.B. Motorräder und Autos, prägen. Ulf Mellström (2003) analysiert in seiner Ethnographie über chinesische Motorradmechaniker in Malaysia, wie Männer homosoziale Fürsorgegemeinschaften mit technischen Artefakten formen. Ähnlich beobachtet es Dag Balkmar (2012) in seiner Ethnographie über schwedische Auto-Tuner.

Motorräder und Autos sind keine Menschen. Doch für die Mechaniker und Autobastler erhalten diese Fahrzeuge einen subjektähnlichen Status, indem sie diese anthropomorphisieren und damit vergeschlechtlichen. Auch im Forschungsfeld des autonomen Fahrens formen Männer homosoziale Fürsorgegemeinschaften mit ihren Forschungsfahrzeugen. Ich habe dies in meiner Studie „Keeping autonomous driving alive. An Ethnography of Visions, Masculinity and Fragility“ untersucht, die kürzlich erschienen ist.

Forschung untersuchen

Zwischen Juni 2012 und November 2015 habe ich ein universitäres Forschungsprojekt im Feld Autonomes Fahren begleitet. Meine Studie speist sich aus ethnographischen Interviews, teilnehmender Beobachtung sowie Analysen von Videodemonstrationen und weiteren Produkten der Wissenschaftskommunikation. In diesem Zeitraum habe ich am Alltag der Projektmitglieder, fast ausschließlich Männer[sic!] teilgenommen. Deshalb schreibe ich im Folgenden im generischen Maskulinum. Schnell wurde mir deutlich, dass die Projektmitglieder viel Zeit und Energie dafür aufwenden, ihr Forschungsfahrzeug am Laufen zu halten, mit dem sie eine ambivalente Fürsorgebeziehung eingegangen sind.

Was sind Forschungsfahrzeuge im Feld Autonomes Fahren?

Forschungsfahrzeuge im Feld Autonomes Fahren sind in der Regel handelsübliche Autos, die mit zusätzlichen Sensoren und Aktoren ausgestattet wurden, die es erlauben das Fahrzeug von einem Computer steuern zu lassen. Diese Fahrzeuge dürfen in Deutschland mit speziellen Ausnahmegenehmigungen unter der Aufsicht von Sicherheitsfahrer*innen am Straßenverkehr teilnehmen. Eine Erprobung ohne Sicherheitsfahrer*innen wäre zu gefährlich und rechtlich unzulässig. Der Tod einer Fußgängerin in Tempe, Arizona im Jahre 2018 zeigt, was passieren kann, wenn ein Erprobungsfahrzeug nicht überwacht wird.

Ein überwachtes Forschungsfahrzeug von innen

Erprobung im Straßenverkehr (Photo: Göde Both)

Das Fürsorge-Kontrolle Dilemma

Außendarstellungen von Projekten im Feld Autonomes Fahren suggerieren, dass die Sicherheitsfahrer*innen nur ‚im Ausnahmefall‘ die Kontrolle über das Auto übernehmen. Doch was konstituiert einen ‚Ausnahmefall‘? In meiner Feldforschung habe ich die Überwachung eines Forschungsfahrzeugs beobachtet und die Sicherheitsfahrer zu ihrer Tätigkeit befragt. Das Forschungsfahrzeug kann unvorhersehbar auf Veränderungen in seiner Umwelt reagieren. Sicherheitsfahrer*innen stehen vor einem Fürsorge-Kontrolle-Dilemma: Wenn sie zu fürsorglich sind, übernehmen sie voreilig die Kontrolle vom Auto. So unterlaufen sie jedoch den Zweck einer Erprobung im Straßenverkehr. Denn mit der Kontrollübernahme erfahren sie nicht, ob das Forschungsfahrzeug die Situation gemeistert hätte. Wenn die Sicherheitsfahrer*innen jedoch zu viel „Vertrauen“ (Interviewzitat) in das Forschungsfahrzeug setzen, besteht die Gefahr eines Kontrollverlustes. Das heißt, in einer ungünstigen Situation könnten die Sicherheitsfahrer*innen einen Unfall nicht mehr verhindern. In den ethnographischen Interviews wird interaktiv das Männlichkeitsideal des verantwortungsvollen Sicherheitsfahrers konstruiert, welcher durch Perspektivübernahme, Selbstkontrolle und kritische Selbstreflexion für eine sichere Erprobung im Straßenverkehr sorgt.

Vision ohne Fürsorge

Parallel zu der Fürsorge um das Forschungsfahrzeug, welches am Laufen gehalten werden muss, wird das Projekt von Visionen getrieben. Die Visionen vom fahrer*innenlosen Auto leugnen die Notwendigkeit von Fürsorge. Sie versprechen u.a., dass fahrer*innenlose Autos nicht nur realisierbar sind, sondern dass sie auch sicherer, effizienter und nachhaltiger als von Menschen gesteuerte Autos sein würden. In diesen visionären Erzählungen werden die Projektmitglieder zu Pionieren, die eine fantastische Zukunft schon heute erleben. Die Dynamik des Forschungsfeldes wird als globaler Wettstreit zwischen Forschungsgruppen erzählt. Auf der Suche nach immer größeren Herausforderungen ‚erobern‘ die Pioniere den für die Robotik als besonders schwierig geltenden – weil unkontrollierbar und häufig unvorhersehbar – urbanen Straßenverkehr.

Ambivalente Beziehung zu Autos

Wo andere Studien die Intimität und Fürsorge für Autos als zentral für die Aufrechterhaltung von männlicher Subjektivität analysieren (Balkmar, 2012; Mellström, 2003), zeigt meine Studie, dass für Informatiker – in meiner Studie kommen ausschließlich Männer vor – das Forschungsfahrzeug eine äußerst ambivalente Ressource zur Konstruktion von Männlichkeit darstellt. Auf der einen Seite erlaubt das Forschungsfahrzeug ihre Forschung als „echt“ (Interviewzitat) – d.h. anwendungsorientiert und potentiell nützlich – zu inszenieren. So beanspruchen Projektmitglieder eine führende Rolle gegenüber anderen Informatiker*innen, die ‚nur‘ programmieren oder ‚lediglich‘ theoretisch arbeiten. Auf der anderen Seite wird die Intimität mit dem Auto als Bedrohung für die Neutralitäts- und Gleichheitsvorgaben (vgl. Prietl, 2018) des Feldes Informatik und ihr professionelles Selbstverständnis wahrgenommen: Als Informatiker seien sie keine „Auto-Tuner“ (Interviewzitat), die durch ihre männliche Liebe zum Automobil Frauen ausgrenzten. Die symbolische Verknüpfung von Technik und Männlichkeit wird nicht durch die Nähe zu Autos bestätigt, sondern gerade durch eine relative Distanz.

Nebeneinander von Fürsorge und Heroismus

Studien zum Verhältnis von Technik und Männlichkeit haben gezeigt, dass Technikwissenschaftler das Gefühl haben können, sich durch ihre Arbeit über die Niederungen des Alltags zu erheben und betonen, wie durch heroische Erzählungen die symbolische Verknüpfung von Technik mit Männlichkeit reproduziert wird (Wajcman 1991). In meinem Buch untersuche ich das Nebeneinander von Fürsorge und Heroismus. Beide Typen von Beziehungen ergänzen einander. Sie müssen jedoch narrativ entkoppelt werden.

Die visionären Erzählungen zelebrieren ein heroisches Männlichkeitsideal und blenden die notwendige Fürsorge für technische Artefakte aus. Die Existenz des Sicherheitsfahrers muss als ‚vorläufig‘ bzw. als Zugeständnis an die zuständigen Behörden kommuniziert werden. Die Visionen vom Autonomen Fahren versprechen ja gerade, dass es in Zukunft keine Fahrer*innen mehr bedarf. Der alltägliche Umgang mit dem Forschungsfahrzeug ist jedoch durch Fürsorge geprägt. In den ethnographischen Interviews wird ein anderes Männlichkeitsideal konstruiert, die sich in der Figuration des verantwortungsvollen Sicherheitsfahrers manifestiert.

 

Göde Both ist promovierter Sozialwissenschaftler und Diplom-Informatiker. Seit 2017 ist er am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien im Projekt „Gendering MINT digital“ als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. In diesem Rahmen zeichnet er sich für die Entwicklung und Erprobung der Lehr-/Lerneinheit „Gender & Informatik“ verantwortlich.

Seine Interessensschwerpunkte bilden Geschlechter-Technikverhältnisse, Informatikkultur, Künstliche Intelligenz, und Wissenschaftskommunikation. Methodologisch orientiert sich Göde Both an Akteur-Netzwerk-Theorie, Technofeminismus und Narrative Analyse.

 

Literatur

Balkmar, Dag (2012): On Men and Cars. An Ethnographic Study of Gendered, Risky and Dangerous Relations. Linköping: Linköpings universitet, Institutionen för Tema (Linköping Studies in Arts and Science, 558).

Both, Göde (2020): Keeping Autonomous Driving Alive. An Ethnography of Visions, Masculinity and Fragility. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich Academic Press.

Mellström, Ulf (2003): Masculinity, Power and Technology. A Malaysian Ethnography. Hampshire, Burlington: Ashgate.

Prietl, Bianca (2018): Energiewende=Geschlechterwende? Eine geschlechtersoziologische Subjektanalyse des Ingenieurs im Bereich erneuerbare Energien. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Wajcman, Judy (1991): Feminism Confronts Technology. Cambridge: Polity.