Umfangreiche Baumaßnahmen am Institut für Europäische Ethnologie und die Corona-Krise haben auch in meinem Fall dazu geführt, dass ich zuhause am Schreibtisch sitze. Hier bin ich allerdings nicht alleine. Wenn meine Partnerin ihre Home-Office-Tage hat, muss ich weichen, alles zusammenräumen, an den Küchentisch umziehen oder aufs Sofa. Mein Schreibtisch befindet sich so im steten Wechsel, der mit einem recht puristischen Äußeren einhergeht, um nicht unnötig Krempel von A nach B tragen zu müssen. Vielleicht haben die meisten Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse einen solch passageren Zustand angenommen: Ein andauerndes Noch-nicht oder Nicht-mehr und die damit verbundene Aushandlung dessen, was wesentlich, unverzichtbar, eben systemrelevant ist. Soll ich die Reise im Sommer wirklich buchen oder doch wieder keinen Urlaub machen? Sind die Masken noch zu gebrauchen? Hätte ich doch bloß, als es noch möglich war…
Zwischenstationen
Auf einen Dienstlaptop und einen College-Block überschaubar reduziert, lerne ich seit einigen Tagen meinen neuen Arbeitsplatz als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Mobilisierung von Recht durch/als Kollektivierung? Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsrecht als institutionelle und politische Praxis“ der DFG-Forschungsgruppe Recht-Geschlecht-Kollektivität kennen. Einigermaßen aufgeregt erwarte ich dort in einer Art Übergangsposition die Zusage der DFG zur Weiterführung des Projekts in einer zweiten Förderphase. Das würde mir die Gelegenheit geben zu meinem Herzensanliegen, dem politischen Kampf um geburtshilfliche Infrastrukturen und die Versorgung mit Hebammenhilfe in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu promovieren. Ein Thema, dass ich noch gänzlich ohne Sorgen über mögliche Feldzugänge in Zeiten von Corona und weitgehend ohne Vorgaben entwickeln durfte – eine Kapriole meines eigenen Lebenslaufs, getragen vom Gesamtprojekt und mit Mitteln ausgestattet. Nach Jahren in der Altenpflege und einer Ausbildung zur Hebamme ist mein Promotionsvorhaben im Anschluss an das Studium der Europäischen Ethnologie und Gender Studies das Salz in der Suppe meiner eigenen Selbstvergewisserung, das Sahnehäubchen auf dem tiefen See der Reflexion und Aussöhnung mit einem durch Unterfinanzierung, (Cis-)Sexismus und Rassismus gewaltförmig ausgestalteten Medizinsystem und dessen Effekten. Vorläufig bin ich also angekommen mit meinen Zweifeln, meinem Erstaunen und schieren Entsetzen. Damit das Verstehen und Reflektieren eine Zwischenstation auf dem Weg zur Veränderung und kein sicherer Rückzugsort wird, möchte ich politisch und sozial situiert über die Dinge nachdenken und mich nicht auf die sogenannte Sachebene allein beziehen. Schließlich müssen Möglichkeiten und Zukünfte, manchmal auch phantasmatischer Art denkbar gemacht werden – muss das Noch-nicht verstehbar werden, um ein Nicht-mehr werden zu können.
Recht als politischer Alltag
Während meines Masters hatte ich Gelegenheit meine Forschung zur Rechtsmobilisierung (Masterarbeit „Mobil machen. Antidiskriminierung und das Recht auf Reisen im Fernlinienbus“) im Kontext barrierefreier Mobilität im Rahmen meiner SHK-Stelle im o.g. Projekt zu realisieren. Ich musste aushalten, in einen wissenschaftlichen Kontext einzutreten, dessen theoretische Grundlagen mir nicht vertraut waren. Nachdem ich mich im Studium vor allem mit Fragen von Körper und Sexualität beschäftigt hatte, waren zumindest Recht und Kollektivität eher sperrige Begriffe. Letztlich waren Fragen von Geschlecht und die Arbeit an den Kategorien der Differenz, meine Brücken zum Antidiskriminierungsrechts und stellten die Anschlussfähigkeit zu meinen Interessen her. Dabei bestand die Herausforderung gerade darin, ohne persönliche Betroffenheit die im Forschungsprojekt angelegte Auseinandersetzung mit der rechtlichen Kategorie der Behinderung und ihren Interdependenzen aufzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, Diskriminierungslagen zu reproduzieren. Mich ins rechtspolitische Feld barrierefreier Mobilität einzuarbeiten, bedeutete deshalb ein kollaboratives Vorgehen gemeinsam mit einem behindertenrechtspolitischen Verband, dessen entsprechende Lobbyarbeit ich näher untersuchte. Egal ob als Care-Verhältnis (als so genanntes Leistungsrecht, zum Beispiel der Anspruch auf bestimmte Hilfsmittel gegenüber der Krankenkasse) oder als „angemessene Vorkehrung“ (als fallunabhängige Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsregelungen): Rechtliche Kategorien begegnen mir als Fluchtpunkte, auf die sich gleichstellungspolitische Akteur:innen beziehen und durch die sie entlang gesellschaftlicher Infrastrukturen (wie Gesundheit oder Mobilität) versammelt werden. Denn im Rahmen von Infrastrukturpolitiken sind Verbände der politischen Selbstvertretung von marginalisierten Gruppen zunehmend zur Partizipation in formalisierten Beteiligungsverfahren aufgefordert, wo sie auf andere Akteur:innen des entsprechenden (verkehrs- oder gesundheitspolitischen) Feldes stoßen – Vertreter:innen von Berufsgruppen, Verwaltungsmitarbeiter:innen, Politiker:innen, Interessensvertreter:innen anderer Schnittstellen, Unternehmen und Dienstleister:innen. In diesem speziellen Kontext rechtspolitischer Arbeit entwickeln sich Wege strategischer Rechtsmobilisierung und wechselvolle, komplexe politische Allianzen, die den auf die Infrastruktur gerichteten gemeinsamen Anliegen von Akteur:innen mit äußerst unterschiedlichen politischen Interessen folgen. Dies bedeutet, dass emanzipatorische Politiken innerhalb solcher Formate unter Druck stehen, zum Funktionieren einer bestehenden, jedoch exkludierenden und in vielerlei Hinsicht diskriminierenden Infrastruktur beizutragen und sie gleichzeitig zum Gegenstand von Veränderung und produktiver Störung zu machen. Dies kann mit Verschiebungen des imaginierten politischen Kollektivs einhergehen: Statt „Menschen mit Beeinträchtigung“ stehen dann zum Beispiel „Fahrgäste mit Mobilitätseinschränkungen“ (umfasst auch Reisende mit viel Gepäck oder mit Kinderwagen), im Fokus der politischen Arbeit von gleichstellungspolitischen Verbänden; statt mangelhafte Rollstuhlmobilität im Fernverkehr mit Bussen gegenüber diskriminierenden Busunternehmen juristisch zu ahnden, wird dann die Stärkung von öffentlichen Mobilitätsangeboten in Abgrenzung zum Individual- und Autoverkehr als gemeinsames rechtspolitisches Ziel voran getrieben.
Wissenschaft Corona-praktisch
Am Übergang in die erhoffte zweite Förderphase, die sich diesen Infrastrukturen nun näher widmen möchte, steht die Abschlusstagung der ersten. Um die geplante Tagung einer Forschungsgruppe, an der fünf Universitäten und sechs Lehrstühle beteiligt sind, nun Corona-konform durchzuführen, bedarf es jedoch nicht weniger, sondern mehr Ressourcen, personell, finanziell wie intellektuell: externe Dienstleistungen einkaufen, Methoden der Online-Präsentation ersinnen, Nutzungsweisen von Tools erlernen. Anders als es das gegenüber der Originalplanung ‚verschlankte‘ Online-Format womöglich nahelegt, bedeutet das Abweichen und Umplanen auch, dass andere Aufgaben und Inhalte hintenangestellt werden müssen, dass wichtige Ansätze in den einzelnen Forschungszusammenhängen unberücksichtigt bleiben oder Veröffentlichungen gegenüber ‚dem Wesentlichen‘ (das Projekt am Laufen halten) zur Disposition stehen – weniger Output bei mehr Arbeit.
Dabei vermag es der duftende Dampf unserer geistigen Arbeit nur manchmal über das geöffnete Zoom-Fenster in unsere heimischen Küchen und Wohnzimmer herein zu wehen und uns mit der Würze sozialer Verbundenheit auszustatten, die letztlich die Voraussetzung dafür bereitstellt, gemeinsam und interdisziplinär über Recht, Geschlecht und Kollektivität in emanzipatorischen und solidarischen Begriffen nachzudenken. Das produktive Einkochen dessen, was unsere wissenschaftliche Arbeit ausmacht, nimmt einen Großteil unserer Aufmerksamkeit und Arbeitskraft in Anspruch. Die dicke Suppe, in der wir nun schwimmen, besteht aus einer guten Portion Geduld, aus Vertrauen und Durchhaltevermögen, – allesamt Zutaten, die unser Arbeiten in der Krise überhaupt aufrechterhalten, aber nur bedingt zur Messung wissenschaftlicher Exzellenz herangezogen werden.
Am Übergang Sorge zu tragen, bedeutet auch, Beziehungen und Erkenntnisse herüber zu retten, einen Generationenwechsel zu gestalten, Anschlussfähigkeit zu generieren. Diese unbequeme Zeit des sich Nicht-einrichten-Könnens bringt auch die nötige Offenheit mit sich, diese Aufgaben kreativ anzugehen und ihre politischen Gehalte sind deutlich erkennbar: Was wünschen sich die einzelnen Statusgruppen oder Menschen mit Sorgeaufgaben im Projekt? Wie können bereits aufgenommene Forschungsfäden sinnvoll fortgeführt werden? Wer kann uns dabei unterstützen? Wie können wir unsere Ressourcen mit anderen teilen? Wie werden wir unserer praktischen Verantwortung in der Corona-Krise gegenüber der Allgemeinheit gerecht? Aus meiner Sicht treffen diese Fragen letztlich alle ins Mark des Erkenntnisinteresses der Forschung zu Recht, Geschlecht, Kollektivität und machen Mut, weiter zu denken und zu forschen. Es gilt macht- und ungleichheitssensibel die Beziehung zwischen dem Allgemeinen und dem Gemeinsamen als gestaltbar und politisch, als historisch überformt und als Gegenstand von Zukunftsentwürfen und Prozessen gesellschaftlicher Veränderung zu begreifen. Gerade in Zeiten der Krise muss es das Ziel sein, nicht auf einen Kampf um die Deutung des Allgemeinen und dessen Interessen („Systemrelevanz“) zurückzufallen, sondern Formate der Solidarität und die Begriffe des Gemeinsamen und der gegenseitigen Abhängigkeit zu stärken.
Michèle Kretschel, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie. Sie hat Europäische Ethnologie, Gender Studies (Hu- Berlin) und Angewandte Sexualwissenschaft (HS Merseburg) studiert. Als Hebamme interessiert sie sich in ihrer geplanten Promotion für die Infrastrukturen des gerechten Gebärens und die mit ihnen verknüpften Politiken und Prozesse der Rechtsmobilisierung.