Mein Schreibtisch ist eigentlich immer zu klein. Denn um denken zu können, muss ich mich mit Stimmen, Bildern, Texten umgeben und die stapeln sich dann gerne. Oft liegen in der Folge scheinbar unvereinbare Dinge nebeneinander, so wie derzeit (WiSe 2020/2021) diverse Bücher zu Porn Studies und Post-Porn im Rahmen meines Master-Seminars zu Virginie Despentes neben den Cahiers Simone Weils, ohne die ich mittlerweile nirgendwo mehr hingehe. Zu Simone Weil arbeite ich auch in meiner Habilitation über „Seelentopologien“, in der ich mich Fragen der Seele als relationaler Raumkonstruktion widme und dazu nicht nur im 20. Jahrhundert forsche, sondern auch im 16. Jahrhundert, genauer gesagt in den Schriften der spanischen Mystikerin Teresa von Ávila. Seit April 2020 mache ich dies nun – von der LMU München kommend – an der HU Berlin, genauer gesagt im Rahmen einer Stelle, deren Denomination eine ganze Zeile einnimmt: Juniorprofessur für Literatur und Religion in den romanischen Kulturen unter besonderer Berücksichtigung von Geschlechterstudien. Weil die Denomination so lang ist, werden die Geschlechterstudien öfter einfach weggelassen, was ich jedes Mal korrigiere, nicht zuletzt, weil solcherart Weglassung natürlich gerade auch in Bezug auf den Gegenstand der Geschlechterstudien eine nicht zu akzeptierende Tilgung ist.
Berlin/HU/ZtG
Seit Juli 2020 bin ich Mitglied des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien und in jeder Hinsicht beeindruckt, sowohl von den Studierenden als auch von den Lehrenden und Mitarbeiter*innen. Es ist eine Gemeinschaft, die ein Zentrum hat und gleichzeitig durch die Transdisziplinarität stets eine grundlegende Offenheit und Beweglichkeit lebt. Dies bricht die allen Gemeinschaften konstitutiv innewohnende Dynamik von Einschluss und Ausschluss auf. Kurzum: Ich fühle mich hier sehr wohl!
Binarität durchkreuzen
Was das Interesse insbesondere an Virginie Despentes und Paul B. Preciado mit der seit Langem bestehenden Leidenschaft für mystische Texte verbindet und damit das Gegensätzliche der Nachbarschaft auf meinem Schreibtisch womöglich überbrückt, ist die Überzeugung, dass das binäre Denken dazu da ist, überwunden und in ein Denken des ‚trans‘ überführt zu werden. Durch meine jahrelange Meditationserfahrung weiß ich jedoch auch, dass dies nur in einer täglichen Praxis geschehen kann, in der Denken zu Handeln wird. Als Wissenschaftlerin versuche ich, dies sowohl im Unterrichten als auch im Forschen zu tun, was aber selbstredend als stets-im-Prozess-seiend, in einem unaufhörlichen Werden zu verstehen ist. Ein Ausdruck dieses Versuchs ist das Simone-Weil-Denkkollektiv, eine Website, die ich zusammen mit Max Walther (Uni Weimar) und Thomas Sojer (Uni Graz/Erfurt) 2019 gegründet habe und die wissenschaftliche Forschung mit künstlerischer Forschung, Kunst und Philosophie in Dialog bringt. Im Dezember 2020 haben wir die erfreuliche Nachricht über eine Förderung im Rahmen der HUVAC (Humboldt Virtual Academic Collaboration) erhalten, was uns ermöglicht, ein Jahr lang intensiv mit der Universität Wien zusammen zu arbeiten und dabei wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern.
Doch zurück zu meinem Schreibtisch…
Ganz rechts liegt ein Buch oder vielmehr ein Heft der kanadischen Altphilologin/Dichterin/ Denkerin Anne Carson, deren Texte ich 2018 während meines Fellowships an der UC Berkeley kennenlernte und die mich seitdem inspiriert wie kaum jemand anderes. Sie ermutigt mich immer wieder, an Grenzen zu gehen und neue, authentische Formen des (wissenschaftlichen) Schreibens, Lehrens und Lernens zu suchen.
Vorbilder(innen)
Ganz links neben meinem Laptop findet sich ein Buch von Judith N. Shklar über Hannah Arendt. Wenn ich den Bildausschnitt meines Schreibtisches etwas anders gewählt hätte, sähe man zudem eine Postkarte, auf der Arendt in ihrer typischen Raucherpose abgebildet ist. Arendt gehört auch zu den Frauen, deren Werk mich im eigenen Denken stetig antreibt.
Wenn ich müde bin und meine, nicht mehr weitermachen zu können, denke ich an ihre Disziplin, die Ruhe, mit der sie argumentiert und manchmal auch an ihren trockenen Humor. Sophie Scholl schließlich, die man auf meinem Desktop sieht, erinnert mich jeden Tag, wenn ich den Laptop öffne, an die Endlichkeit des Lebens und die ihr entspringende Notwendigkeit, selbiges als Mensch und als Wissenschaftlerin aktiv zu gestalten.
Prof. Dr. Martina Bengert ist seit April 2020 Juniorprofessorin für Literatur und Religion in den romanischen Kulturen unter besonderer Berücksichtigung von Geschlechterstudien am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität zu Berlin und seit Juli 2020 Mitglied am ZtG. Sie veröffentlichte u.a. die Monographie Nachtdenken. Maurice Blanchots‘ „Thomas l’Obscur“. Zusammen mit Iris Roebling-Grau ist sie Herausgeberin des Sammelbandes Santa Teresa. Critical Insights, Filiations, Responses.
In unserem Format #MeinSchreibtisch – zu finden unter der Kategorie Personen – geben Mitarbeiter_innen, Mitglieder und Absolvent_innen des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien einen Einblick in ihr Arbeitsumfeld sowie ihre aktuellen Projekte und Aufgaben.