Seit über einem halben Jahr bin ich nun zurück in Berlin. Am Geographischen Institut der Humboldt-Universität habe ich in diesem Jahr eine Juniorprofessur für Geographie der Geschlechterverhältnisse in Mensch-Umwelt-Systemen angetreten. Genau hier, an der HU, fing meine wissenschaftliche Laufbahn an, als Studentin der Gender Studies und Geographie. Als alleinige Absolventin dieser Fächerkombination schwankte ich damals gefühlt zwischen Avantgarde und Risikozone. Über den seit 30 Jahren aktiven Arbeitskreis Feministische Geographien habe ich schon während des Studiums Einblicke in die Vielfalt von Themen und methodischen Ansätzen der geographischen Geschlechterforschung gewonnen. Ich hätte mir damals nicht erträumt, zehn Jahre später eine Ausschreibung für eine Professur genau an dieser Schnittstelle antreten zu können. Im deutschsprachigen Raum ist diese Juniorprofessur eine der bisher wenigen Professuren in der Geographie mit einer expliziten Gender-Denomination, in Deutschland vielleicht sogar die einzige.
In meiner Forschung beschäftige ich mich mit Mensch-Umwelt-Beziehungen, vorrangig in einem urbanen Kontext. Hierbei untersuche ich gesellschaftliche und wissenschaftliche Vorstellungen von ,Natur‘ mithilfe der feministischen Wissenschaftstheorie und politischen Ökologie sowie postkolonialen Ansätzen der Stadtforschung. Gleichzeitig verstehe ich als Geographin die Urbanisierung der Natur als einen materiellen und biophysikalischen Prozess. Aktuell erstrecken sich meine Forschungsthemen über drei Bereiche:
Stadtnatur
Ein erstes Themenfeld ist die Stadtnatur. Ich interessiere mich insbesondere für ,spontane‘ Natur. Anders als Parks, Gärten oder Infrastrukturen ist diese Natur nicht von Menschen entworfen oder geplant. Oftmals als Unkraut übersehen, findet sich spontane Natur zum Beispiel auf Brachen, an Straßenecken und anderen Randzonen in der Stadt. Auf Brachen lassen sich eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren finden. Auch solche Arten, die von weit her in die Stadt gekommen sind, wie beispielsweise das Schmalblättrige Greiskraut (Senecio inaequidens), eine südafrikanische Pflanze, die entlang von Bahnlinien und Wasserwegen ihren Weg nach Berlin gefunden hat. Die Entdeckung neuer Arten hat in der Stadtbotanik auch neue Vorstellungen von Natur angeregt, die sich nativistischen, ideologisch aufgeladenen Ideen von ,einheimischer‘ Natur entgegenstellen wie beispielsweise Peter del Tredicis Idee der „kosmopolitischen urbanen Wiese“ (2014) oder Ingo Kowariks Konzept der „Natur der vierten Art“ (1991), inspiriert von den verlassenen Gleisanlagen des Gleisdreiecks. Brachen sind Refugien der Stadtnatur für vom Aussterben bedrohte Arten, die außerhalb der Stadt durch die Industrialisierung der Landwirtschaft immer weiter verdrängt werden; die Feldlerche des Tempelhofer Feldes ist hierfür ein gutes Beispiel. Das Tempelhofer Feld zeigt auch, dass Brachen umstrittene Orte der aktivistischen Auseinandersetzung mit der sozialen und ökologischen Zukunft der Stadt sind. Seit über 40 Jahren kämpfen Aktivist*innen in Berlin gegen das bevorstehende Verschwinden der Lücken im Stadtraum, gerade jetzt angesichts des steigenden Spekulations- und Bebauungsdrucks.
Seitdem ich 1995 zum ersten Mal Berlin besucht habe, bin ich von Stadtbrachen fasziniert. Damals galt Berlin als „Europas größte Baustelle“. Durch das Zentrum der Stadt zog sich eine kilometerlange Stadtbrache, der ehemalige Mauerstreifen. Gerade arbeite ich an einem Buch über West-Berlin mit dem Arbeitstitel Experimental Fields, welches nachzeichnet, wie Brachen und andere ungewöhnliche Terrains der Inselstadt als Repositorien der Stadtgeschichte, als Laboratorien für künstlerische und wissenschaftliche Experimente und als urbane Refugien für menschliche und nicht-menschliche Bewohner*innen der Stadt fungierten.
Brachen verschwinden in Berlin derzeit in einem rasanten Tempo. Nicht zuletzt aus diesem Grund habe ich zusammen mit dem britischen Geographen und Regisseur Matthew Gandy als Co-Autorin und Co-Produzentin den Dokumentarfilm Natura Urbana: The Brachen of Berlin (2017. UK/Germany) im Rahmen des EU-Projekts Rethinking Urban Nature gedreht. Der Film ist eine Reise durch die Nachkriegsgeschichte Berlins entlang der sich wandelnden, spontanen Stadtvegetation. Inzwischen ist der Film selbst eine Art Archiv, da viele Orte, die wir im Sommer 2015 gefilmt haben, nun bebaut sind.
Environmental Sound
Mein zweites Forschungsfeld ist der Bereich environmental sound. Meine Begeisterung für urbane Klangwelten wurde zuerst in Brachen geweckt. Je tiefer ich in eine Brache hineinwanderte, desto ferner rückte das Rauschen der Motoren und ich konnte gleichzeitig Wind, raschelnde Blätter und die Mikrowelten von Insekten wahrnehmen. Urbane Klanglandschaften sind Teil eines sich neu formierenden Forschungsfeldes an der Schnittstelle von Sound Studies, Environmental Humanities und Stadtforschung. Städte werden im Allgemeinen als Orte und Ursache der Lärmverschmutzung betrachtet. Gleichzeitig finden wir in Städten eine Vielzahl von akustischen Interventionen und Experimenten, von Konzerthallen mit einem spezifischen Klangcharakter bis zu Straßenbäumen, die Schallwellen abmindern und als Habitat für Vögel und Insekten neue, lokale Klangwelten erzeugen. In diesem Forschungsfeld untersuche ich neben der körperlichen Erfahrung von Klang auch die Gender- und Umweltkonflikte, die nicht nur durch Lärm, sondern auch durch die Herstellung von ruhigen Orten im Kontext der Umwelt-Gentrifizierung entstehen. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist der sogenannte Tempelhof-Effekt: die drastische Erhöhung der Mietpreise in der ehemaligen Einflugschneise des Tempelhofer Flughafens nach der Stilllegung des Flugverkehrs. Es geht mir darum, den Fokus der Soundforschung von der phänomenologischen Erfahrung des individuellen Subjekts auf eine politische Ökologie des urbanen Klangs zu erweitern, um zu verstehen, wie Lärm, Stille und Klang sowohl auf körperlicher Ebene als auch auf der Ebene der Stadt soziale und ökologische Ungleichheiten erzeugen. Die Stadt aus der Perspektive physikalischer Klangwellen zu verstehen, die menschliche und nicht-menschliche Körper, Objekte und Volumen durchströmen, stellt klassische Konzeptionen von Raum auch vor ontologische Herausforderungen.
Gesundheit und die Mensch-Tier-Beziehung
Mein drittes Forschungsfeld entwickele ich gerade. Es liegt an der Schnittstelle von Gesundheit und Mensch-Tier-Beziehungen in Städten. Mein Interesse an diesem Feld hat sich im Kontext der Reaktionen auf SARS-CoV-2 herauskristallisiert. In Märkten, Straßen, Parks und anderen öffentlichen Orten zeigen sich neue Formen der Interaktion von Menschen und Tieren. Gleichzeitig werden solche „multispecies contact zones“ (Haraway, 2008: 218) in Städten vermehrt reguliert: von Genehmigungen während des Lockdowns im Stadtraum Vögel oder Affen zu füttern bis hin zu kursierenden Fehlinformationen über die mögliche Übertragung des Virus durch Haustiere, die dazu geführt haben, dass in Bogotá, Jakarta, Bukarest und anderen Städten Hunde und Katzen auf die Straße gesetzt wurden. Zusammen mit Forscher*innen der HU und TU Berlin arbeite ich derzeit zwei Projekte in diesem Themenfeld aus.
Letztlich, all diese Themenfelder verbindend, beschäftigt mich die Frage, wie Mensch-Umweltbeziehungen im Zuge eines Wandels des Verständnisses von Mensch und Natur im sogenannten Anthropozän neu zu denken sind. Aktuelle Trends wie die neovitalistische Wende in der Geographie — die Rückkehr zum Leben als gesellschaftliches Erklärungsmodell im Rekurs auf vitalistische Ontologien — sind Teil einer breiteren Diskussion um Geographien des Affekts und des neuen Materialismus, die die Lebendigkeit der Materie und die erweiterte Handlungsmacht der Natur in einem neuen Mensch-Umwelt-Verständnis in den Mittelpunkt rücken. In diesem Schwerpunkt der Juniorprofessur geht es mir darum, die politischen und ethischen Folgen zu beleuchten, die sich aus einem Rückbezug auf die Natur insbesondere für ,markierte Körper‘ ergeben, die in Hinblick auf Geschlecht, Ethnizität, Race, dis/ability oder Alter diskriminiert und marginalisiert werden. Hierbei verbinde ich die geographische Forschung mit gendertheoretischen und wissenschaftshistorischen Perspektiven.
Literatur:
- Donna Haraway (2008) When species meet. Minneapolis: University of Minnesota Press.
- Ingo Kowarik (1991) Unkraut oder Urwald? Natur der vierten Art auf dem Gleisdreieck. In: Bundesgartenschau 1995 GmbH (ed) Dokumentation Gleisdreieck morgen. Sechs Ideen für einen Park, Berlin, S. 45–55.
- Peter Del Tredici P (2014) The flora of the future. In: Places Journal. Webseite: https://doi.org/10.22269/140417 (letzter Zugriff 22. Oktober 2020).
Sandra Jasper ist seit Januar 2020 Juniorprofessorin für Geographie der Geschlechterverhältnisse in Mensch-Umwelt-Systemen am Geographischen Institut der Humboldt-Universität. 2015 erlangte sie am University College London ihren PhD in Geographie. Sie forschte vier Jahre an der University of Cambridge bevor sie zur HU kam. Sie ist Herausgeberin von „The Botanical City“ (2020, mit Matthew Gandy) und Co-Autorin und Co-Produzentin des Dokumentarfilms „Natura Urbana: The Brachen of Berlin“ (2017, UK/Germany, 72 mins). Derzeit arbeitet sie an einer Monographie über die experimentellen Räume West-Berlins, für die sie einen Graham Foundation Award erhalten hat.
In unserem Format #MeinSchreibtisch – zu finden unter der Kategorie Personen – geben Mitarbeiter_innen, Mitglieder und Absolvent_innen des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien einen Einblick in ihr Arbeitsumfeld sowie ihre aktuellen Projekte und Aufgaben.