Das Bild zeigt das Logo das European HIV/AIDS Archive (EHAA)

Lebendiges Erinnern (nicht nur) zum Welt-AIDS-Tag

Für den internationalen Aktionstag zur Bekämpfung der Aids-Epidemie am 1. Dezember ist es ebenso wichtig, die immer noch stattfinden Aids-Krisen in verschiedenen Gemeinschaften und Kontexten im Bewusstsein zu halten wie an die Aids-Krise der 80er und 90er Jahre zu erinnern. Die Schwierigkeiten aber auch die Notwendigkeit beides in den Zeiten des Internets zu erreichen, thematisiert das künstlerische Werk „Your Nostalgia is Killing Me“ von Vincent Chevalier und Ian Bradley-Perrin. Hierzu gibt es eine durchaus komplexe Diskussion zur Wirkung der Nostalgie auf eine adäquate Adressierung der anhaltenden Aids-Krisen. In einem im Internet verfügbaren Panel zum Thema beschreibt Chevalier seine Wahrnehmung zum aktuellen Umgang mit HIV in Kunst und Dokumentationen, die er mit Bradley-Perrin in der Arbeit thematisiert: Die virtuelle und schnelle Zirkulation und Umnutzung von Kunstwerken aus spezifischen Orten und anderen Zeiten führen zu einer Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart. Hierbei gewinnt die Vergangenheit einen stärkeren – wenn auch entkontextualisierten – Fokus, was das Risiko einer Verleugnung der Gegenwart mit sich bringt.

Lebendige Erinnerung fördern

Einen entsprechenden Beitrag zu einer digitalen aber auch lebendigen Erinnerung – d.h. die kontextualisiert, pluri-zeitlich und auch multi-perspektivisch ist – will das European HIV/AIDS Archive (EHAA) leisten. Das EHAA eröffnet einen virtuellen Raum, Berichte über das Leben mit HIV/Aids zu veröffentlichen, das zivilgesellschaftliche Engagement und Aids-Politiken in Europa zu bewahren, Geschichten zu teilen und aus der Vielstimmigkeit zu lernen. Kern der Sammlung sind Oral-History-/Zeitzeug*innen-Interviews zur Geschichte und Gegenwart des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit HIV/Aids. Die Video- und Audiointerviews umfassen Gespräche mit Menschen, die mit HIV/Aids leben, Aktivist*innen, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen, Politiker*innen, Beschäftigten des Gesundheitswesens und Künstler*innen zu Themen wie Sexarbeit, Drogen, Migration, Gefängnis, LSBTI-Rechten oder queeren Politiken. Diese Oral Histories ermöglichen eine lebendige und multi-perspektivische Erinnerung. Das Archiv versteht sich als Ergänzung und Erweiterung bereits in einzelnen europäischen Ländern existierender Sammlungen zu HIV/Aids. Außerdem wird diese lebendige Erinnerung der Geschichte des Umgangs mit Aids in Deutschland bzw. Europa das Thema zweier Veranstaltungen sein, an denen wir – Mitwirkende des EHAAs aus dem Institut für Europäische Ethnologie (IfEE) der HU –  beteiligt sind: Als Kooperationspartner des EHAA stellt das Schwule Museum Berlin (SMU) dieses zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember vor. Im IfEE-Kolloquium am 26. Januar diskutieren wir das Erzählen, Sammeln und Archivieren von Epidemien am Beispiel des EHAA und der Curare Corona Diaries.

Community-Bezug sicherstellen

Die Initiative für ein lebendiges Erinnern durch ein Oral-History-Archiv kam aber aus der Community selbst. Es geht auf den Arbeitskreis AIDS-Geschichte ins Museum (AKAIM) der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. zurück. Die Idee wurde im Rahmen von zwei Forschungsprojekten am Institut für Europäische Ethnologie in Zusammenarbeit mit AKAIM weiterentwickelt: „Disentangling European HIV/AIDS Policies: Activism, Citizenship and Health“ (EUROPACH) und „’Keine Rechenschaft für Leidenschaft!’ Aids-Krise und politische Mobilisierung in den 1980er und frühen 1990er Jahren in Deutschland“. Das EHAA ist Teil des am Institut für Europäische Ethnologie angesiedelten Archivs für Alternativkultur und gehört damit zu den Universitätssammlungen der Humboldt-Universität. Für beide Projekte ist das EHAA Teil einer Forschungskonzeption, die Wissenschaft als komplexen Austausch und produktive Verbindung zwischen Aids-/aktivistischer Erfahrung mit Wissenschaft versteht. So soll es einer Gefahr entgegentreten, dass wissenschaftliche Forschung zur Ausbeutung von Erfahrung verschiedener Communities führt. Um diesen Community-Bezug längerfristig über den Ablauf der Forschungsprojekte hinaus zu sichern, wurde ein Kooperationsvertrag der HU mit dem Schwulen Museum Berlin abgeschlossen.

Kooperation mit Leben füllen

Das EHAA soll beständig weiter ausgebaut werden. Gemeinsam mit dem Schwulen Museum und mit Mitteln der Förderung zeitgeschichtlicher und erinnerungskultureller Projekte des Berliner Senates wird gerade die Berliner AIDS Oral-History-Sammlung (BAOHS) aufgebaut. Die Sammlung soll Berliner Stadtgeschichte dokumentieren: Die Erzählungen von Berliner Zeitzeug*innen machen in lebendiger Weise Berlins Rolle als ‚Metropole für HIV’, als gesundheitspolitische Vorreiterin in der Aids-Krise und Ausgangspunkt translokaler wie europäischer Initiativen erfahrbar. Gleichzeitig berichten sie aber auch von den gravierenden Auswirkungen neoliberaler Sparpolitik z.B. im Gesundheitsbereich, Bevormundungen im Prozess der Wiedervereinigung und den verstärkten Rassismen dieser Zeit. Wissenschaftler*innen des Instituts der Europäischen Ethnologie unterstützen das Schwule Museum dabei. Die Präsentation des Projektergebnisses war geplant für den Dezember diesen Jahres. Aufgrund der Corona-Pandemie kam es zu einer Verschiebung in den April nächsten Jahres. Erste Ergebnisse zum BAOHS können aber bereits hier eingesehen werden.

Ebenfalls für den April nächsten Jahres und unter Mitarbeit von Wissenschafler*innen des Instituts der Europäischen Ethnologie ist die Eröffnung einer Ausstellung am Schwulen Museum Berlin mit dem Namen „ArcHIV“ geplant, die sich kritisch mit der Sammlung zu HIV und Aids im Archiv des Museums auseinandersetzt.

 

Veranstaltungshinweise:

 

Eugen Januschke (Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „’Keine Rechenschaft für Leidenschaft!’ Aids-Krise und politische Mobilisierung in den 1980er und frühen 1990er Jahren in Deutschland“ am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er engagiert sich im Verein Denk mal positHIV (https://denk-mal-posithiv.de), das ein Aids-Gemeinschaftsgrab auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin-Schöneberg unterhält.

Todd Sekuler (Dr.) war von 2016-2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Disentangling European HIV/AIDS Policies: Activism, Citizenship and Health“ und ist seit November 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „CrimScapes. Navigating citizenship through European landscapes of criminalisation“ am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat unterschiedliche Projekte im Kulturbereich zum Thema HIV/Aids mitentwickelt u.a. die EUROPACH-Abschluss-Ausstellung „HIVstories. Living Politics.“