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Flucht-Geschlecht-Sexualität: Asylrecht heteronormativitätskritisch gelesen

Ich komme aus der Praxis. Nach dem Studium begann ich als Rechtsberaterin in der Abschiebehaft, drei Jahre verbrachte ich in einer Menschenrechtskanzlei im 7. Wiener Bezirk und zuletzt war ich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Verwaltungsgerichtshof. Aus dieser Praxis habe ich ein Problem in die Wissenschaft mitgebracht, und dazu ist nun im Dezember 2020 das Buch „Flucht-Geschlecht-Sexualität“ erschienen.

Es sind niemals nur die ‚Anderen‘

Kerngebiet meiner Praxis war das Asyl- und Migrationsrecht. Gerade in der Kanzlei kamen dazu andere Bereiche. Mandant:innen ließen sich scheiden oder brauchten Zugang zum legalisierten Arbeitsmarkt. Genauso gab es aufenthaltsrechtliche Grundsatzfragen, die sie bis vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) führten. Solche Grundsatzfragen wurden für mich in der Arbeit für den Verwaltungsgerichtshof tägliche Aufgabe. Für mein Dissertationsthema war letztlich ein Problem ausschlaggebend, das sich mir an der Schnittstelle von rechtlichem Alltag und Grundsatzfragen stellte: Wie kann es sein, dass wir inzwischen ein so solides Regelwerk zum Schutz von LGBTIQ-Geflüchteten haben, in der Praxis aber so viele von Schutzdefiziten sprechen? Dass mir dieser Widerspruch aufgefallen ist, liegt wahrscheinlich auch an meiner persönlichen Perspektive; meinem Queer-Sein und einem Leben jenseits heteronormativer Entwürfe. Das Problem ist aber handfest juristisch und mitgenommen habe ich es an das PhD-Kolleg „Gender, Violence and Agency“ an der Universität Wien.

Schutzgrundlagen für LGBTIQ-Geflüchtete sind durch Rechtsprechung des EGMR fundiert und im EU-Recht kodifiziert. Aufnahmerichtlinie und Verfahrensrichtlinie sehen geschlechterspezifischen Schutz während des Asylverfahrens vor, die Qualifikationsrichtlinie verankert Geschlecht und Sexualität als Verfolgungsgründe. In Deutschland sind diese Verfolgungsgründe auch im nationalen Gesetz verankert. In Österreich ist das nicht so. Das macht aber letztlich keinen Unterschied, denn das Unionsrecht ist hier unmittelbar anwendbar und verbindlich. Trotz dieses relativ soliden Systems greifen die Regeln in der Praxis nur bedingt. NGOs – in Wien ist das z.B. die Queer Base – berichten von Gewalt in Aufnahmeunterkünften, Einvernahmen, die an den Lebensrealitäten der Betroffenen vorbeigehen. Das deckt sich mit Einschätzungen der Europäischen Grundrechteagentur (FRA) und aktuellen Studienergebnissen (auch) aus Deutschland. Hier in Berlin können aus NGO-Perspektive die Refugee Law Clinic und deren Partner:innen Auskunft geben; sie haben einen Beratungsschwerpunkt LSBTQI*. Für meine Dissertation – und später das Buch Flucht-Geschlecht-Sexualität – ging es um die Frage: Warum greifen die Regeln nicht und was passiert hier? Mit juristischen Mitteln allein konnte ich sie ganz offenkundig nicht beantworten. Also wandte ich mich an die (Legal) Gender Studies und habe mich mit dem Konzept der Heteronormativität durch die Bereiche Aufnahme (in Österreich: Grundversorgung) und Asylstatus gearbeitet. Das Ergebnis lässt sich in aller Kürze so zusammenfassen: In einer heteronormativen Welt sind es niemals nur die Anderen, die gefährden. Das Asylrecht lädt freilich gerade dazu ein, Gefahren bei Anderen zu suchen und damit in Othering-Prozesse einzusteigen, die Herkunftsstaaten als ausschließliche Gefahrenquelle setzen. Diese ermöglichen im Umkehrschluss eine Selbstvergewisserung von Aufnahmestaaten als sicheren Räumen. Eigene Schutzdefizite geraten aus dem Fokus. Eine effektive und in diesem Sinn gute Asylrechtspraxis braucht also Möglichkeiten, die eigene Perspektive – auch jenseits der Dualität von Aufnahme- und Herkunftsstaaten – zu reflektieren. Dazu macht das Buch Flucht-Geschlecht-Sexualität Vorschläge.

Recht & Geschlecht in der Forschung zur Fluchtmigration

Wie lässt sich das Buch nun wissenschaftlich einordnen? Wofür steht es und was lässt sich damit machen? Auf der letzten Tagung des interdisziplinären Netzwerk Fluchtforschung habe ich an einem großartigen Round Table zu Flucht und Geschlecht (Beyond the Fe/Male Bias?) diskutiert. Ich saß als Rechtsforscherin am Tisch und mein Plädoyer war auch tatsächlich: Wir brauchen mehr Recht. Damit meine ich nicht ein unhinterfragtes Übernehmen normativer Kategorien. Ich denke an eine ausdifferenzierte, kritische und auch empirische Auseinandersetzung mit der Eigenlogik des Rechts; als Praxis, als Form und als Ordnungsprinzip von Geschlecht und Fluchtmigration. Ein solcher Anspruch lässt sich über unterschiedliche Wege verfolgen. Zwei davon habe ich für meine Arbeit gewählt: Mit meiner Dissertation, dem Buch Flucht-Geschlecht-Sexualität, habe ich eine menschenrechtsbasierte Perspektive auf Aufnahme und Asylstatus von LGBTIQ-Geflüchteten vorgeschlagen. Das Ziel der Arbeit ist ein normatives. Es geht um ein effektiveres Schutzsystem und das arbeite ich aus Erkenntnissen der (Legal) Gender Studies heraus. Hier an der HU Berlin, in der DFG-Forschungsgruppe Recht-Geschlecht-Kollektivität, arbeite ich im Augenblick an empirischen Folge- und Vertiefungsfragen. Was waren die Möglichkeitsbedingungen einer Anerkennung von Geschlecht im Asylrecht? Was ist das spezifisch Rechtliche, wenn Menschen vor Gericht um Bedeutungen ringen und was können wir aus dem Anerkennungsprozess für das Zusammenspiel von Recht und Gesellschaft lernen? Diesen – diskurstheoretisch verankerten – Fragen gehe ich im aktuellen Projekt unter dem Arbeitstitel ‚Verhandeln‘ nach.

Beides, das Buch und mein empirisches Projekt hier in Berlin, fügen sich in ein Forschungsfeld, das zuletzt seit dem langen Sommer der Migration, der Flüchtlingsschutzkrise im Jahr 2015, steigende Aufmerksamkeit erfährt. Zur klassisch juristischen Perspektive auf das Migrationsrecht tritt die interdisziplinäre Fluchtforschung. Sie versammelt, was international unter dem Titel Refugee- und Forced Migration Studies diskutiert wird. Auch die Border Studies sind im deutschsprachigen Raum inzwischen etabliert und aus unterschiedlichen Perspektiven bilden sich Schwerpunkte zum Thema Geschlecht. Zu nennen ist z.B. das Netzwerk Gender und Migration @Niedersachsen, das im Jahr 2016 einen Schwerpunkt in den Feministischen Studien herausgegeben hat oder der Arbeitskreis (AK) Flucht und Gender, aus dem Janna Wessels feministische Einflüsse auf das Flüchtlingsrecht nachvollziehbar macht. Hier beginnen klassische Migrationsrechtsforschung mit Geschlechterperspektiven und empirische Forschungsinteressen zu Geschlecht als Ordnungsprinzip von (Flucht)Migration zusammenzufließen. Dazu hat Nora Markard beim Eröffnungsvortrag des 42. Feministischen Juristinnentags gesprochen und hier an dieser Schnittstelle sehe ich auch meine Arbeit verortet. Mehr noch, mit meiner Arbeit möchte ich diese Schnittstelle und die Forschung zu Recht, Geschlecht und Fluchtmigration stärken und vorantreiben. Denn: Das Asylrecht ist als internationales, unionsrechtliches und national verankertes Mehrebenensystem in den letzten Jahren von Kodifizierungen und Novellen geprägt, also verrechtlicht, wie kaum ein anderes Gebiet. Umgekehrt ist der Zugang zu diesem Recht für dessen Subjekte schwierig wie in kaum einem anderen Gebiet. Für diese Erkenntnis müssen wir nicht bis ans Mittelmeer, Kara Tepe oder (andere) Außengrenzen der EU gehen. Das zeigt sich schon in der LGBTIQ-Perspektive auf Aufnahmeeinrichtungen oder Asylverfahren hier in Deutschland oder Österreich. Eng damit verbunden sind meine Ausgangsfragen: Warum greifen die Schutznormen nicht richtig; wie funktioniert (Flucht)migration in der Praxis? Recht ist hier ein Ordnungsprinzip, aber ohne gesellschaftliche Machtverhältnisse wie Heteronormativität oder Rassismen nicht umfassend verstehbar. Ein Problem, das den Legal Gender Studies aus unterschiedlichen Bereichen vertraut ist. Für interdisziplinäre Forschungsgespräche wie für eine gute Praxis brauchen wir auch Wissen um das (tatsächliche) Funktionieren der – hier  – normativen Ordnung von Recht, Geschlecht und Fluchtmigration.

Heteronormativität und Europäisches Asylrecht: Der Legal Gender Studies-Ansatz von Flucht-Geschlecht-Sexualität

Als Legal Gender Studies-Beitrag zur Schnittstelle Recht-Geschlecht-Fluchtmigration arbeitet das Buch mit drei zentralen Annahmen: (1) Die Wurzeln des geltenden Asylrechts sind heteronormativ. Geschlecht wurde in den Vertragsverhandlungen zur Genfer Flüchtlingskonvention (verabschiedet 1951) explizit als nationale Angelegenheit ausgeschlossen und homosexuelle Handlungen wurden in den meisten europäischen Vertragsstaaten kriminalisiert (heteronormatives Asylrecht). Mit der Anerkennung von Geschlecht und Sexualität als Verfolgungsgründe sollte das Asylrecht „plötzlich“ vor Verfolgung schützen, auf deren Logik es selbst aufbaut (asylrechtlicher Schutz vor Heteronormativität). Heteronormative Ausschlüsse wirken also fort. Aus ähnlicher Perspektive arbeitet zu Deutschland z.B. Katharina Hübner. (2) Aus Perspektive der Legal Gender Studies sind freilich weder ein solcher Transformationsprozess in einem heteronormativ ausgestalteten Rechtsgebiet noch die Schwierigkeiten damit ein spezifisch asylrechtliches Phänomen. Aber die besondere Struktur des Asylrechts bringt die bereits angesprochenen Hürden für die Praxis: Das Rechtsgebiet ist strukturell geprägt von der Dualität zwischen Gefahr im Herkunftsstaat und Schutz im Aufnahmestaat. Diese wiederum wirkt zugunsten einer Selbstvergewisserung, die Gewalt gegen LGBTIQ-Personen zu einem Problem anderer Herkunftsstaaten macht. Dass sich das eigene Schutzsystem erst in Entwicklung befindet und über entsprechende Defizite verfügt, kann dabei leicht aus dem Bewusstsein geraten – insbesondere angesichts einer Einbettung von Europa in das Narrativ eines LGBTIQ-freundlichen globalen Nordens. (3) Ein solcher Befund muss aber nicht das Ende der Auseinandersetzung sein. In diesem Sinn verknüpft mein Buch Aufnahme und Asylstatus und integriert dabei Heteronormativität als grenzüberschreitendes Konzept in die rechtsdogmatische Arbeit. Mit dem Rückgriff auf Heteronormativität wird die verbindende Struktur greifbar, die in asylrechtlichen Herkunftsstaaten Verfolgung begründet und in Aufnahmestaaten dem Schutz vor solcher Verfolgung entgegensteht. Darauf aufbauend lässt sich die asylrechtliche Systemlogik von Aufnahme- und Herkunftsstaat in der Praxis für einen effektiven Schutz nutzbar machen. Systemlogisch formuliert kann nicht in einem Aufnahmestaat Lösung sein, was im Herkunftsstaat Problem ist. Das Buch zeigt vor diesem Hintergrund z.B. Möglichkeiten auf, Verfolgung aufgrund von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität ganz praktisch als Ahndung eines Übertritts einer – intersektional ausgestalteten – Heteronorm zu verstehen. Es handelt menschenrechtsbasiert und im europäischen Mehrebenensystem Schlüsselthemen wie Gewaltschutz von inter- und transgeschlechtlichen Geflüchteten oder „Diskretionserwartungen“ an Homo- und Bisexuelle ab – das alles stets mit dem Anspruch, neue Perspektiven und Vorschläge für eine reflexive und effektive Schutzpraxis anzubieten. Und dabei machen sich sicher die zahlreichen Jahre bemerkbar, die ich in der Rechtspraxis verbracht habe.

 

Petra Sußner ist Post-Doc und Projektkoordinatorin in der DFG Forschungsgruppe Recht-Geschlecht-Kollektivität, Juristische Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin. Ihr Buch „Flucht-Geschlecht-Sexualität“ ist im Dezember 2020 in der Juristischen Schriftenreihe des Verlag Österreich erschienen, eine Leseprobe stellt der Verlag hier zur Verfügung (unter Bonusmaterial). Kontakt: petra.sussner@rewi.hu-berlin.de, Twitter: p_sussner.