Opfer von Hanau von Clara Scholz

Ein Jahr nach Hanau – Widerstand und Anklage müssen auch die Gender Studies betreffen

Am 19. Februar 2020 erschoss ein rechtsextremer Attentäter neun migrantisierte Menschen in Hanau aus rassistischen Motiven. Nach einem Jahr blicken die Angehörigen zurück und klagen die „Kette des Versagens vor, während und nach der Tatnacht“ an. Ihr Kampf um Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen zeigt nicht nur eine Kontinuität im institutionellen Umgang mit rechtsextremen Attentaten und Anschlägen auf. Sie fordern eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland. An dieser Auseinandersetzung sind auch die Gender Studies beteiligt.

„Kette des Versagens vor, während und nach der Tatnacht“

Kaloyan Velkov (33),
Said Nesar Hashemi (21),
Hamza Kurtović (22),
Fatih Saraçoğlu (34),
Sedat Gürbüz (30),
Vili Viorel Păun (23),
Gökhan Gültekin (37),
Mercedes Kierpacz (35) und
Ferhat Unvar (22)

wurden in zwei Bars, auf offener Straße, in einer Shisha-Bar, auf einem Parkplatz und in einem Kiosk im hessischen Hanau getötet. Seitdem organisieren sich Angehörige, Überlebende, Betroffene und Aktivist*innen in Hanau für eine lückenlose Aufklärung des Anschlags und politische Konsequenzen gegen strukturellen Rassismus in deutschen Sicherheits- und Justizbehörden. Eine Anlaufstelle ist die von ihnen gegründete Initiative 19. Februar Hanau, die am 14.02.2021 per Livestream, die Geschehnisse des Anschlages nachzeichnet und anklagt.

Die Angehörigen und Überlebenden kritisieren hierbei die Kette des behördlichen Versagens unter der Leitfrage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können. Sie weisen in dem Zusammenhang auf die zentrale Bedeutung von strukturellem und institutionellem Rassismus hin: Vor dem Anschlag wurden die Auffälligkeiten des Täters von Staatsanwaltschaft und Polizei nicht ernst genommen. In der Tatnacht und in den darauffolgenden Monaten ließ das Vorgehen der Polizei und der Behörden auf Täter-Opfer-Umkehr schließen. Die Initiative verortet den Anschlag in Hanau in einem gesamtgesellschaftlichen und politischen Versagen bei rechtsextremen Anschlägen. „Berlin-Neukölln, Halle, Köln, Nürnberg, Mölln, Kassel, Wächtersbach (…)“ – die Angehörigen zeichnen eine Kontinuität innerhalb von rechtsextremen Attentaten und Anschlägen nach. Was die unzähligen rassistisch motivierten Morde miteinander verbindet, sind der deutsche Einzeltäterdiskurs, institutioneller Rassismus in Sicherheits- und Justizbehörden und das Unsichtbarmachen der Forderungen der Betroffenen.

Bedeutung von Widerstand, Sichtbarmachung und Zentrierung

Die Kritik der Betroffenen verdeutlicht, dass rechtsterroristische Anschläge und Attentate seit den 1990er Jahren auch mit einer Geschichte des Widerstands der Angehörigen und Überlebenden einhergeht. Diese Selbstorganisation wird oftmals von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommen. Im Gegenteil werden entrechtete und fremdgemachte und migrantisierte Menschen aus der gesellschaftlichen Solidarität und Empathie durch gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber Rechtsruck und rassistischer Praxis ausgegliedert (Kahveci/Sarp, 2013; Kahveci, 2013). Migrantisch situiertes Wissen und damit verknüpfte Strategien werden dagegen genutzt, um Gewalttaten und strukturellen Rassismus zu thematisieren und das soziale Gefüge zu adressieren, das aus institutionellen Regelungen, Gewohnheiten, Routinen und Sprache besteht. Durch die Intervention in die kollektive Erinnerungskultur, die Solidarisierung und Selbstorganisation nutzen die Betroffenen ihre Agency um soziale Kämpfe für gleiche Rechte, egalitäre Teilhabechancen, Respekt und Anerkennung zu führen (Kahveci 2013).

Die Rolle der Gender Studies im Kampf gegen Rassismus

Der Widerstand und die Forderungen der Betroffenen können zentriert werden, indem Rassismus auf struktureller, institutioneller und alltäglicher Ebene entgegengetreten wird. Dies ist also ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der auch die Hochschulen betrifft. Universitäten haben dabei eine ambivalente Position. Sie sind einerseits historisch der Ort, an dem soziale Ungleichheiten intellektualisiert, legitimiert und vermittelt wurden. Als Institution produzieren sie Wissen darüber, was Deutschland als Nation ausmacht und sind an der Konstruktion dessen, was ‚Deutsch-Sein‘ bedeutet, beteiligt. Dies geht bis heute mit einer systematischen Reproduktion der Norm des Weißseins und einer Mittelschichtsperspektive einher. Die Rolle, die in diesem Kontext deutscher Kolonialismus, Antisemitismus, Gadje*-Rassismus und das (Hetero-)Patriarchat einnehmen, werden dabei ausgeblendet (Wayah, 2019). Andererseits sind Hochschulen ein wichtiger Teil von Dekolonisierungsprozessen, um eine nachhaltige Veränderung der Wissenschaften herbeizuführen.

Diese grundsätzlich ambivalente Position der Hochschulen ist für die Gender Studies noch einmal von besonderer Relevanz. Die Gender Studies und feministische Wissenschaft zeichnen sich durch Kanon-Kritik aus und stehen sozialen Bewegungen nahe. Jedoch sind institutionalisierte Gender Studies auch von Machtdynamiken durchzogen, wenn darüber entschieden wird, was geforscht, gelehrt und finanziert wird. Die epistemologischen Grundlagen, Theorien und Methoden, welche die deutschen Gender Studies dominieren, wurden mehrfach von Schwarzen, migrantisierten und of Color Wissenschaftler*innen inner- und außerhalb des Fachs kritisiert. Denn die Kritik an androzentrischer Wissenschaft und die inhaltliche Konzentration auf das Patriarchat führen dazu, dass strukturelle Probleme von Weißsein und der Mittelschichtsperspektive als Norm in den Gender Studies bis heute nicht ausreichend thematisiert werden.

Die Gender Studies werden von einem additiven Verständnis von Klasse und race dominiert, was die weiße Mittelschichtsperspektive in den Gender Studies verdeutlicht. So werden nicht nur die Rolle des weißen Mittelschichtsfeminismus in rassifizierten Machtdynamiken verschleiert, sondern auch insbesondere die Schwarze feministische Erkenntnisproduktion marginalisiert. Deutlich wird dies beispielsweise daran, dass Schwarze feministische Theorie zwar langsam in den Gender Studies durch den Intersektionalitätsansatz an Bedeutung gewinnt, jedoch ihre Forschung zu Identität, Körper, Gewalt und Macht kaum thematisiert werden. Die Gender Studies müssen das Weißsein als unbenannte Norm und vermeintlich neutrale Position radikal infrage stellen, um die Konstituierung von Gender über race, Klasse, Religion, Ethnizität, Behinderung, Sexualität und Lebensformen in den Mittelpunkt zu rücken (Wollrad, 2020). In diesem Zusammenhang steht auch die Zentrierung von marginalisierter Wissensproduktion. Das von den Angehörigen selbst produzierte Wissen und ihre Formen des Widerstands in den Fokus zu setzen, kann zu dieser radikalen Infragestellung beitragen.

Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen

Die Angehörigen, Überlebenden und Betroffenen verdeutlichen durch den Livestream als Auftakt der Gedenkveranstaltungen, dass sie einen Platz im Narrativ und Diskurs um Hanau einfordern. Sie selbst machen durch Erinnerungspraktiken und ihre Arbeit in der Öffentlichkeit auf strukturelle Missstände und Versagen der Behörden aufmerksam. Sie betonen, dass Gerechtigkeit und Veränderung mit der Übernahme von Verantwortung für behördliches und gesamtgesellschaftliches Versagen einhergehen muss. Lückenlose Aufklärung und Konsequenzen gegen Rechtsextremismus und strukturellen Rassismus muss erfolgen „damit Hanau wirklich die Endstation wird“.
Die Übernahme von Verantwortung betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche. Die Sichtbarmachung, Historisierung und Selbst-Reflexion bilden auf gesellschaftspolitischer und wissenschaftlicher Ebene eine Grundlage, um den Forderungen der Betroffenen gerecht zu werden.

Eine Übersicht über die kommenden Kundgebungen, Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen finden Sie/findet ihr hier.

Literatur

Kahveci, Çağrı (2013): Migrationsgeschichte, Kämpfe und die Politik der Affekte. In: Gürsel, Duygu/ Çetin, Zülfukar/ Allmende e.V. (Hrsg): Wer MACHT Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen. Edition assemblage, Münster, 43-57.

Kahveci, Çağrı /Sarp, Özge Pınar (2013): Von Solingen zum NSU. Rassistische Gewalt im kollektiven Gedächnis von Migrant*innen türkischer Herkunft. In: Karakayalı, Juliane/ Kahveci, Çağrı/Liebscher, Doris/ Carl Melchers (Hrsg.): Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Transcript Verlag, Bielefeld, 37-56.

Wayah, Ismahan (2019): Kanak Academic: Teaching in Enemy Territory. In: Arghavan, Mahmoud/ Hirschfelder, Nicole/ Kopp, Luvena/ Motyl, Katharina (Hrsg.): Who Can Speak and Who Is Heard/Hurt? Facing Problems of Race, Racism, and Ethnic Diversity in the Humanities in Germany. Transcript Verlag, Bielefeld, 153-176.

Wollrad, Eske (2020): Weißsein und bundesdeutsche Gender Studies. In: Eggers, Maureen Maisha/ Kilomba, Grada/ Piesche, Peggy/ Arndt, Susan (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland [2005], 4. Aufl., Unrast Verlag, Münster, 416-426.

 

Bilge Cömert studiert im Master Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin und hat zuvor ihren Bachelor in Politikwissenschaft und Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main absolviert. Ihre Studienschwerpunkte umfassen Anti-Rassismus, intersektionalen Feminismus, Migration und postkoloniale Theorien.