Podium der DIVERGesTOOL-Vorstellung am 30.06.2023

Dringend notwendig und kontrovers diskutiert – zur Veröffentlichungsveranstaltung der DIVERGesTOOL – TOOLBOX zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt in der quantitativen Gesundheitsforschung

Der Kategorie Geschlecht wird in der Gesundheitsforschung eine entscheidende Rolle zugewiesen. Jedoch ist die Annahme der vermeintlich eindeutig binären Ausprägungen „männlich/ weiblich“ erwiesenermaßen nicht tragbar, denn kausale Zusammenhänge zu gesundheitlichen Phänomenen lassen sich dadurch nicht herstellen. Vielmehr vermag geschlechtliche Vielfalt als erklärende Variable einen entscheidenden Beitrag zu leisten.

Die digitale TOOLBOX  des Verbundprojektes DIVERGesTOOL soll nun zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt in der quantitativen Gesundheitsforschung dienen und ging am 30.06.23 online. Die Veröffentlichung wurde gerahmt von einer lebhaften und diskussionsstarken Veranstaltung in Berlin.

Hintergrund: Entweder oder?

In der epidemiologischen Gesundheitsforschung wird das Geschlecht als Merkmal der untersuchten Personen routinemäßig erhoben. Die geschlechtliche Zuordnung erfolgt dabei häufig über ein einziges Item, das Proband*innen in quantitativen Erhebungen in die beiden distinkten Kategorien „Mann“ oder „Frau“ unterteilt (seit Ende 2018 zunehmend ergänzt um eine dritte Kategorie „divers“). Eine solche binäre Betrachtung von Geschlecht ist problematisch, da dieser die Annahme zugrunde liegt, dass sich alle Menschen eindeutig einer der beiden (oder drei) Kategorien zuordnen lassen. Hierbei wird oftmals davon ausgegangen, dass die Gruppenzugehörigkeit rein biologisch bedingt ist, bereits bei der Geburt besteht und anschließend über das gesamte Leben stabil bleibt. Eine solche binäre Kategorisierung kann aber die Geschlechterdiversität und die dynamischen Veränderungen im Lebenslauf nicht erfassen. Auch differenziert sie nicht zwischen verschiedenen Dimensionen von Geschlecht (der körperlichen Dimension, oft bezeichnet mit dem englischen Wort sex und die soziale Dimension gender) und bedenkt nicht deren mögliche vielfältige Kombinationen, sondern geht von einer einfachen Entsprechung von biologischen und sozialen Aspekten von Geschlecht aus.

Bedarf an fortschrittlicheren Erhebungsinstrumenten

Der aktuelle Forschungsstand der Natur-, Gesundheits- und Sozialwissenschaften dokumentiert sowohl für die physiologischen und anatomischen als auch die psychosozialen Ausprägungen von Geschlecht eine große Variationsbreite. Die bisher dominierende Praxis, eine binäre Geschlechtervariable als Surrogat für die vielen möglichen mit dem Geschlecht zusammenhängenden Dimensionen zu nutzen, verhindert es zu verstehen, welche Rolle diese für die Gesundheit spielen und wie sie miteinander interagieren. So kann beim gehäuften Auftreten eines medizinisch-relevanten Phänomens bei ‚einem vermeintlich eindeutig binär zugeordneten Geschlechts‘ nicht automatisch darauf geschlossen werden, dass dies mit körperlichen Geschlechtsmerkmalen zu tun hat. Beispielweise fand eine Studie heraus, dass männliche Kontaktlinsenträger deutlich häufiger an Bindehautentzündungen leiden als weibliche Kontaklinsenträgerinnen. Würde die Ursache ausschließlich in den körperlichen Geschlechtsmerkmalen gesucht, müssten hormonelle, anatomische oder chromosomale Ursachen gefunden werden. Tatsächlich zeigte sich jedoch, dass Männer aufgrund von geschlechterrollenbedingter größerer Achtlosigkeit in Bezug auf Reinlichkeit und (Körper)pflege, ihre Kontaktlinsen seltener und weniger gründlich reinigen als Frauen (Krieger 2003) und das wiederum zu der größeren Häufigkeit an Entzündungen führt. Viele andere Beispiele lassen sich finden in Bezug auf das Ernährungs- und Risikoverhalten und daraus resultierende gesundheitliche Unterschiede. Auch sind Menschen unterschiedlicher Geschlechter in unterschiedlicher Weise Stress, Mehrfachbelastung und Diskriminierung ausgesetzt – all das sind relevante Faktoren für die körperliche und mentale Gesundheit. Die (gesundheitliche) Situation von trans*, inter* und nicht-binär oder ageschlechtlichen Menschen ist nur rudimentär erforscht, nicht zuletzt, weil diese Personengruppen in gängigen Bevölkerungsstudien bisher gar nicht erfassbar sind.

Grundsätzlich wirken sex und gender, körperliche und soziale Aspekte von Geschlecht, oftmals nicht isoliert voneinander, sondern gemeinsam und führen so zu unterschiedlichen gesundheitsbezogenen Expositionen und Risiken. Z.B. existiert ein spezifisch hohes Risiko der HIV-Infektion für junge Frauen durch ungeschützten heterosexuellen Geschlechtsverkehr sowohl aufgrund hierarchischer Geschlechterrollen und vergeschlechtlichter Macht- und Gewaltbeziehungen, die es erschweren oder verunmöglichen die Nutzung von Kondomen durchzusetzen – also aufgrund sozialer Geschlechterdimensionen – sowie aufgrund eines anatomisch bedingten höheren Infektionsrisikos bei heterosexuellem Geschlechtsverkehr. (Krieger 2003)

Es wird somit der Bedarf für neue Erhebungsinstrumente zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt deutlich, die es Forschenden erlauben, die verschiedenen biologischen und sozialen Dimensionen von Geschlecht und deren Komplexität, Verwobenheit und wechselseitige Beeinflussung in die quantitative Gesundheitsforschung zu integrieren.

Ein aktuelles Review des Projekts DIVERGesTOOL (Horstmann et al., doi: 10.3390/ijerph19127493) zeigt, dass innerhalb der letzten Jahre die Verwendung einer steigenden Zahl von verschiedenen Instrumenten zur Erhebung von Geschlecht beobachtet werden kann. Ein Großteil dieser Instrumente folgt einer binären Repräsentation von Geschlecht (m/w). Der Fokus liegt zumeist auf sozialen Dimensionen von Geschlecht, während die biologischen Dimensionen wenig Berücksichtigung finden. Gleichzeitig wurde ein Großteil der Instrumente in den USA unter Bezug auf eine US-amerikanische Bevölkerung entwickelt. Dies bedeutet, dass es zum jetzigen Zeitpunkt wenige Fragebogenmodule zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt gibt, die in deutscher Sprache und bezogen auf die Bevölkerung in Deutschland und den deutschen gesellschaftlichen und politischen Kontext verfasst wurden (ganz zu schweigen von postkolonialen Ansätzen, die nicht-westliche Wissensordnungen und Geschlechterkonzepte berücksichtigen).

Das Verbundprojekt DIVERGesTOOL

Von 2020 bis 2023 wurde daher im Rahmen des Forschungsprojekts DIVERGesTOOL eine online-Toolbox zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt in der quantitativen Gesundheitsforschung in deutschsprachigen Kontext entwickelt. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Der gesamte Entwicklungsprozess erfolgte in kontinuierlicher Zusammenarbeit eines interdisziplinären Projektteams bestehend aus Forschenden der Fachdisziplinen Public Health/ Epidemiologie (Prof. Gabriele Bolte und Sophie Horstmann, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen), Gender Medizin (Prof. Sabine Oertelt-Prigione und Dr. Eva Becher, Radboud University Medical Center/ Medizinische Fakultät, AG Geschlechtersensible Medizin, Universität Bielefeld) und den Gender Studies, vertreten durch Prof. Kerstin Palm und Dr. Corinna Schmechel vom ZtG.

Der Entwicklungsprozess wurde dabei begleitet von Stakeholdern aus der epidemiologischen Forschung, u.a. von Forschenden der NAKO Gesundheitsstudie und dem Robert Koch-Institut.

Die Toolbox besteht aus einem Set an Basis-Items, deren Erfassung für jede Studie empfohlen wird, sowie Zusatz-Items für bestimmte Fragestellungen oder spezielle Populationen, z.B., wenn explizit transgeschlechtliche Menschen befragt werden sollen. Dazu bietet die Toolbox eine Reihe weiterer Empfehlungen und Literaturhinweise zur Berücksichtigung von Geschlecht in der quantitativen Gesundheitsforschung, z.B. zur Vermeidung von Geschlechterstereotypen in Fragestellungen und zur Erfassung von sexueller Vielfalt. Ebenso beinhaltet sie Hintergrundinformationen wie eine ausführliche Darstellung des zugrundeliegenden Verständnisses von Geschlecht und zur Entwicklungsweise der Toolbox.

Veröffentlichung der digitalen Toolbox

Am 30.06.23 wurde die Toolbox im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin online gestellt und ist nun hier aufrufbar: https://www.uni-bremen.de/divergestool-projekt/divergestool-toolbox

Etwa 50 Gäste waren bundesweit angereist. Sie kamen aus vielfältigen Bereichen der Gesundheitsforschung und –versorgung.  Die Veranstaltung wurde eröffnet von einer Keynote der renommierten schwedischen Public-Health-Professorin Anne Hammarström, die über die Geschichte der Etablierung einer geschlechtersensiblen Perspektive in der Gesundheitsforschung sprach. Danach stellten die Projektmitarbeiterinnen Sophie Horstmann und Corinna Schmechel die Toolbox vor, die dann nach der Mittagspause in einem interaktiven Posterwalk vom Publikum angeregt und kontrovers diskutiert wurde.

Weiterentwicklung ist notwendig

Wie auch schon während der Entwicklung der Toolbox drehte sich die Debatte dabei viel um die Spannung zwischen der möglichst umfassenden Erfassung und Berücksichtigung marginalisierter Geschlechtergruppen mit geringen Fallzahlen und vielfältiger geschlechtlicher Lebensweisen auf der einen und der Frage der statistischen Auswertbarkeit sowie der Verständlichkeit und Akzeptanz der Items bei der sogenannten Durchschnittsbevölkerung auf der anderen Seite.

Bei der abschließenden Podiumsdiskussion wurde noch einmal deutlich, wie wichtig ein geschlechtersensibles und geschlechtertheoretisch informiertes Erhebungsinstrument im Feld der quantitativen Gesundheitsforschung in Deutschland ist. Die online-Toolbox soll dazu in Zukunft einen wegweisenden Beitrag zu dessen Entwicklung leisten.

 

DIVERGesTOOL ist eine interdiziplinäres Verbundprojekt der Universität Bremen, (Institut für Public Health und Pflegeforschung), der Radboud University Nijmegen, (Department of Primary and Community Care) und der Humboldt-Universität (Abteilung Gender &Science). Es wurde 2020-2023 durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Weitere Informationen: https://www.uni-bremen.de/divergestool-projekt/ueber-divergestool

 

Corinna Schmechel hat Gender Studies am ZtG studiert und promovierte an der LMU München zu Körpernormen in der queeren Sportkultur. Seit 2020 arbeitet sie in im Fachbereich ‚Gender & Science‘ an der Humboldt-Universität, bis 2023 im Projekt DIVERGesTOOL und seitdem in einem Verbundprojekt zur Gesundheitsversorgung migrantischer Menschen in Deutschland. Ab Oktober 2023 hat sie die Verwaltungsprofessur für Sport- und Gesundheitssoziologie an der Universität Göttingen inne.