In Transition / ‚transdisziplinieren‘
Mein Schreibtisch zuhause ist derzeit mit mir in Transition, er unterstützt nötige Anpassungen an die aktuelle Pandemie – zumindest ein bisschen. Das heißt, er variiert fast täglich in Farbe und Fülle, was auch davon abhängig ist, ob ich ihn aufräume oder eher zumülle. Er gibt mir Kontrolle und Halt vor allem in Zeiten von Unsicherheit und ‚discomfort‘, denn er steht in unserer WG im Wohnzimmer, an einem gemütlichen Ort. Er komplementiert das Arrangement meines privaten Arbeitsbereichs, umrahmt von Regalen, Sofa und Technik – gerade das Sofa macht mir die Arbeitspausen leicht. Daneben gibt es theoretisch meinen Arbeitsplatz auf dem Campus Griebnitzsee, wo mein Schreibtisch im Büro gegenüber dem meines Projekt-Kollegen steht. Denn ich arbeite als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Organisation und Recht – politische Interessengruppen und rechtliche Interventionen“. In diesem forschen wir zu ‚männlich geprägten‘ Organisationen und fragen, wie in diesen das Antidiskriminierungsrecht entstanden ist, implementiert wird und welche Interessengruppen diese Prozesse mitformen. Das Projekt ist Teil der DFG-Forschungsgruppe „Recht – Geschlecht – Kollektivität“ und am Lehrstuhl für Organisations- und Verwaltungssoziologie der Universität Potsdam angesiedelt.
In diesem Rahmen führe ich zum Beispiel Interviews mit Expert_innen, die wir aufgrund ihrer Tätigkeit und Position im Feld als solche bewerten. Darüber hinaus analysiere ich Rechtstexte und organisationale Verordnungen, Online-Präsenzen der Organisationen und Interessengruppen, ihre politischen Forderungen. Die Zusammenarbeit mit der DFG-Forschungsgruppe schafft dabei interdisziplinären Austausch, wodurch das eigene Selbstverständnis schon mal ins Wanken gerät. Denn disziplinäre Grenzen werden in gemeinsamen Diskussionen auch mal dahingehend befragt, ob sie noch sinnvoll oder vielleicht schon überholt sind. Ich frage mich im Zuge dessen, welche Verbindungen das gemeinsame Arbeiten weiterbringen, quasi ‚transdisziplinieren‘ und welche dabei helfen, sich im Forschungsprozess selbst zu positionieren. Für mich ergibt sich aus der Gruppe damit eine Arbeitsweise und Sicht, die Wissensproduktion(en) kritisch hinterfragt und mit disziplinären Grenzen bricht.
Out of comfort zone / out of gender
Vor zwei Jahren ging ich für die Projektarbeit aus den Gender Studies in die Organisationssoziologie: raus aus meiner comfort zone, rein in einen wissenschaftlichen Spagat – irgendwie. Meine Dissertation zu Outing und Transition in Bundeswehr und Polizei verorte ich dabei an der Schnittstelle von (Trans)Gender Studies, Organisations- und Rechtssoziologie. Dass ich mal zu Bundeswehr und Polizei forschen würde, dachte ich ehrlich gesagt nie. Doch ich interessiere mich gerade für diese Ambivalenz, die mich sowohl motiviert als auch teilweise hemmt. Momentan arbeite ich im Zuge meiner Dissertation mit Fiona Schmidt, die am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien der HU Berlin tätig ist. Im Sommersemester 2020 leiten wir das auf digitale Lehre umgestellte Seminar „»Männerbund« goes diverse?“, in dem wir eine intersektionale Analyse zu Rassismus und Männlichkeit in Bundeswehr und Polizei planen. Fiona und ich kennen uns aus dem geneinsamen Studium der Gender Studies an der HU Berlin, wo ich nun selbst – dank des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) – wieder als Lehrbeauftragter in die Lehre involviert bin.
Gerade in Zeiten der Krise ist solidarisches Verbi/ünden auf allen Ebenen wichtig, aber auch sonst gilt es sich zu verbi/ünden gegen anhaltende Angriffe auf die Gender Studies aufgrund von Antifeminismus. Team-teaching ist eine Form davon, aber auch der Austausch über das Schreiben der eigenen Dissertation oder das gegenseitige Lesen von unfertigen Artikeln, um sich in der Diskussion weiterzuentwickeln. Deshalb liegt auf meinem Schreibtisch unter anderem die im MA Gender Studies an der HU entstandene und publizierte Abschlussarbeit „Staatsanwaltschaftlicher Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt“ von Fiona Schmidt und Isabella Greif, die den Mehrwert von wissenschaftlicher Zusammenarbeit par excellence zeigt (vgl. Greif/Schmidt 2018). Teamwork ermöglicht meines Erachtens Transformation, so wird aus Blue manchmal auch P!NK, während einer von N*Sync aus den Lautsprechern auf meinem Schreibtisch singt. Sowas passiert, wenn ich Musik für die Dragstreet Boyz ‚schneide‘, wenn ich Choreographien – wie auf dem Laptopbildschirm sichtbar – mitentwickele und spät abends noch daran feile. Der Grund dafür? Weil Drag für mich als Performer eine Kunstform ist, die Grenzen des Sagbaren verwischt und überdies ebenfalls Verbi/ünden gegen Diskriminierung zulässt.
In SuchBewegung / selfcare
„Wer bin ich noch?” auf dem Cover der PSYCHOLOGIE HEUTE spiegelt ganz gut wider, was für mich Forschen an disziplinären und epistemologischen Schnittstellen bedeutet: sich zum Beispiel in Interviews empathisch auf die Erzählungen von Soldat_innen einzulassen und zeitgleich als kritisch gegenüber Militarisierung zu betrachten. Derartige Ambivalenzen zu fühlen und zu durchleben ist für mich ein Prozess, quasi ein Teil meiner SuchBewegung. Er erfordert meiner Meinung nach neben Geduld und Reflexion auch selfcare, also die Sorge um sich selbst. Ich verstehe das als eine Form von Em[o]powerment, eine emotionale Selbstermächtigung, die sich langfristig gegen Asthmaanfälle, triefende Nasen und burn-out stellt. Das bedeutet für mich, auch NEIN zu sagen oder um Unterstützung und Feedback zu fragen, mich selbst zu lieben und mich – trotz Anpassungsdruck – nicht bis zum völligen Zerbrechen zu verbiegen. Denn immer erreichbar zu sein, zum Beispiel per Handy oder Mail, verhindert die Konzentration auf das Wesentliche, was der Umsetzung oder dem Abschluss von Projekten, wie einer Dissertation, gern mal fehlt.
Mein regenbogenfarbener fidget spinner hilft mir, mich zu konzentrieren, nicht meinen Fokus in arbeitsreichen Phasen zu verlieren. Meine Musikanlage und Kopfhörer unterstützen zudem meinen Arbeitsflow: beispielsweise, wenn es auf der Straße zu laut ist oder ich mich beim Schreiben mal schwer tue. In der Regel schreibe ich am Laptop; er ist das Zentrum meines Arbeitsplatzes. Ich schreibe aber auch gern mit Stift auf Papier, wenn ein Notizbuch gerade zur Hand ist. Meistens schreibe ich so lange, bis eines der Getränke auf meinem Schreibtisch leer ist, ich aufstehe, in die Küche laufe und es wieder auffülle – kurze Pause. Das kleine Pflänzchen neben dem linken Lautsprecher erinnert mich täglich daran, dass ein Spaziergang im Freien eine Erholung vom momentanen Homeoffice bedeuten kann. Die Buttons daneben bedeuten Rebellion in Kleinformat. Sie ersetzen mein ehrenamtliches Engagement im Rahmen der LesBI*Schwulen T*our, das aufgrund von Corona gerade Auszeit hat und auch sonst neben der Lohnarbeit leider viel zu oft zu kurz kommt. Nichtsdestotrotz bleibe ich in SuchBewegung und in Kontakt mit mir selbst, denn: „everything will be okay in the end. if it’s not okay, it’s not the end”.
- Greif, Isabella/Schmidt, Fiona (2018): Staatsanwaltschaftlicher Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt: Eine Untersuchung struktureller Defizite und Kontinuitäten am Beispiel der Ermittlungen zum NSU-Komplex und dem Oktoberfestattentat. Potsdam: WeltTrends.
Ray Trautwein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Organisations- und Verwaltungssoziologie der Universität Potsdam. Dort arbeitet er in einem Teilprojekt der DFG-Forschungsgruppe „Recht – Geschlecht – Kollektivität“ und promoviert zu Outing und Transition in Organisationen wie Bundeswehr und Polizei. Davor hat er Soziologie und Gender Studies an der Universität Konstanz und der HU Berlin studiert. Ray Trautwein ist zudem Drag- und Performancekünstler und engagiert sich ehrenamtlich im Landesverband AndersARTiG e.V. in Potsdam.
In unserem Format #MeinSchreibtisch – zu finden unter der Kategorie Personen – geben Mitarbeiter_innen, Mitglieder und Absolvent_innen des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien einen Einblick in ihr Arbeitsumfeld sowie ihre aktuellen Projekte und Aufgaben.