Prekarität im Lebenszusammenhang – eine um Anerkennung erweiterte Perspektive auf prekäre Erwerbs- und Lebenslagen

Prekarität und Prekarisierung stehen im Zentrum gesellschaftlicher Debatten. Dabei geht es häufig um die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Aber ist es nicht verkürzend, Prekarität so eng zu bestimmen? Wie ließe sich also Prekarität erweitert fassen und fruchtbar erforschen? Eine wichtige Inspirationsquelle sind Studien der frühen feministischen Arbeitsforschung: Autorinnen wie Regina Becker-Schmidt und viele andere forderten, Arbeit nicht auf (männliche) Erwerbsarbeit zu reduzieren, sondern auch Sorge- und Hausarbeit systematisch einzubeziehen, also Tätigkeiten, die in der Regel Frauen zugewiesen werden und – anders als Erwerbsarbeit – wenig gesellschaftlich anerkannt sind.

Im Anschluss an diese Forderung ließe sich argumentieren, dass es für die Erforschung von Prekarität notwendig ist, nicht nur prekäre Beschäftigungsverhältnisse (wie flexible und unsichere Beschäftigung, Tätigkeiten mit niedrigem Lohn und/oder Einkommen, Teilzeitarbeit, Soloselbstständigkeit oder Leiharbeit), sondern auch Sorge- und Hausarbeit und den gesamten Lebenszusammenhang zu berücksichtigen. Wenn man davon ausgeht, dass Erwerbsarbeit stark mit Anerkennung verknüpft ist, was bedeutet dies dann für Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen? Zeigen sich hier Anerkennungsdefizite und falls ja, was bedeutet dies wiederum für den gesamten Lebenszusammenhang?

Anerkennung wird in der Prekarisierungsforschung noch nicht systematisch berücksichtigt, obwohl Prekarität – eng nur auf Beschäftigung oder erweitert auf den gesamten Lebenszusammenhang bezogen – immer auch Anerkennungsverhältnisse herausfordert. Axel Honneth (1992, 2011) fasst die gesamte Gesellschaft als institutionalisierte Anerkennungsordnung und unterscheidet drei Formen intersubjektiver Anerkennung: Liebe als Anerkennung des anderen in seinen konkreten Bedürfnissen in der Sphäre sozialer Nahbeziehungen, Recht in der Rechtssphäre und Anerkennung für Leistung innerhalb des Systems der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Weiter führen erst alle drei Anerkennungsformen zusammen zur Ausbildung gelungener Selbstverhältnisse. Wir schließen an Honneths dreistufige Anerkennungstheorie an, die wir geschlechtersoziologisch und um Judith Butlers (2005, 2010) Überlegungen zur Ambivalenz von Anerkennung und zur grundlegenden menschlichen precariousness erweitert haben. Ausgehend von diesen Grundlagen haben wir empirisch fundiert eine um Anerkennung erweiterte Perspektive auf Prekarität im Lebenszusammenhang (Klammer et al. 2012, Klenner et al. 2012; auch Amacker 2014) entwickelt. Unsere Heuristik zur geschlechter- und anerkennungssensiblen Erforschung prekärer Lebenslagen umfasst acht Hauptdimensionen, die jeweils mit Blick auf Prekarität und – dabei oft fehlende oder eingeschränkte – Anerkennung noch weiter ausdifferenziert werden (Motakef/Wimbauer 2019):

  1. Erwerbsarbeit
  2. Einkommens- und Vermögenssituation, finanzielle Absicherung
  3. Rechte und (ungleiche) rechtliche Anerkennung
  4. Liebesanerkennung in der Sphäre sozialer Nahbeziehung
  5. Politische und soziale Teilhabe, soziale Einbindung und Zugehörigkeit
  6. Hausarbeit und insbes. Sorge für andere (Care)
  7. Gesundheit, Selbstsorge und verfügbare Zeit
  8. Wohnsituation.

Empirische Grundlage unserer Heuristik sind ausführliche, leitfadengestützte teilnarrative Einzel- und Paarinterviews mit 24 prekär Beschäftigten: mit 16 Partner*innen (in acht Paaren) und mit acht Menschen, die nicht in einer Paarbeziehung leben (vier Frauen und vier Männer). Diese haben wir im Rahmen des DFG-Projektes „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit‘ und ‚Liebe‘ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“ (Wi2142-5-1) zwischen 2014 und 2017 durchgeführt. Die Interviews haben wir angelehnt an die hermeneutische Wissenssoziologie fallrekonstruktiv und fallvergleichend ausgewertet.

Was bietet unsere achtdimensionale Heuristik nun an Erkenntnismöglichkeiten, die über die verbreitete arbeitssoziologische Engführung auf prekäre (männliche) Beschäftigte und die Erwerbssphäre hinausgeht? Die Stärken und Erkenntnismöglichkeiten unserer Heuristik illustrieren wir in dem hier vorgestellten Aufsatz (Motakef/Wimbauer 2019) ausschnitthaft am Beispiel einer prekär Beschäftigten und zweier prekär beschäftigter Paare. Sichtbar werden mit unserer um Anerkennung – und damit auch um Anerkennungsdefizite – erweiterten und geschlechtersensiblen Perspektive erstens die subjektorientiert-wissenssoziologisch zentralen Deutungen der prekär beschäftigten Individuen-in-Beziehungen – und zwar nicht nur die Deutungen ihrer prekären Erwerbssituation, sondern auch ihrer Nah- und Paarbeziehungen (also der ‚Liebe‘), ihrer Hoffnungen, Wünsche, Gesundheit, Selbstsorge Perspektiven und erfahrenen Nicht-/Anerkennung. Zweitens können die Konstitutionsbedingungen und Zusammenhänge unterschiedlicher Belastungen in verschiedenen Dimensionen erhellt werden. Nachvollziehbar werden schließlich drittens auch die für die Lebenszusammenhangsforschung wesentlichen – oft ambivalenten – Relationierungen verschiedener Dimensionen von Prekarität und schließlich auch von deren Kumulationen im Lebenszusammenhang. Unsere Forschungsheuristik kann daher auch weitere Forschungen inspirieren, die sich für die Mehrdimensionalität und Komplexität unsicherer Lebenslagen, damit einhergehender Anerkennungsdefizite und deren Vergeschlechtlichung interessieren.

Für den ausführlichen Beitrag siehe

Motakef, Mona & Wimbauer, Christine (2019). Prekarität im Lebenszusammenhang – eine um Anerkennung erweiterte Perspektive auf prekäre Erwerbs- und Lebenslagen [126 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 20(3), Art. 34, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-20.3.3222.

Literatur

  • Amacker, Michèle (2014). Precare. Prekarität im Lebenszusammenhang: Die zwei Gesichter der Care-Prekarität. Ethik und Gesellschaft: Ökumenische Zeitschrift für Sozialethik, 2, http://dx.doi.org/10.18156/eug-2-2014-art-4 [Zugriff: 8. August 2019].
  • Butler, Judith (2005 [2004]). Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Butler, Judith (2010 [2009]). Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/M.: Campus.
  • Honneth, Axel (1992). Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Honneth, Axel (2011). Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Klammer, Ute; Neukirch, Sabine & Weßler-Poßberg, Dagmar (2012). Wenn Mama das Geld verdient. Familienernährerinnen zwischen Prekarität und neuen Rollenvorbildern. Berlin: Edition Sigma.
  • Klenner, Christina; Menke, Katrin & Pfahl, Svenja (2012). Flexible Familienernährerinnen. Moderne Geschlechterarrangements oder prekäre Konstellationen? Opladen: Barbara Budrich.

 

Maria Weber Vorlesung: „Prekäre Arbeit – Prekäre Liebe?“

An dieses Thema knüpft die Maria Weber Vorlesung „Prekäre Arbeit – Prekäre Liebe?“ an. Die im Rahmen des durch die Hans Böckler Stiftung geförderten Maria Weber Grants organisierte öffentliche Vorlesung findet am 13. November ab 18 Uhr im Senatssaal des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität statt.

Plakat „Prekäre Liebe – Prekäre Arbeit?“

 

Mona Motakef vertritt im Wintersemester 2019/2020 die Professur Arbeit und Geschlechterverhältnisse am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Für ihre Forschung im DFG-Projekt „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit‘ und ‚Liebe‘ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“ (Leitung: Prof. Dr. Christine Wimbauer) erhielt sie 2018 den Maria-Weber-Grant für Habilitanden der Hans-Böckler-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechtersoziologie, Soziologie der Arbeit (insbes. Prekarisierung von Erwerbs- und Sorgearbeit), soziale Ungleichheit, Soziologie der Paar- und Nahbeziehungen, Soziologie der Körper und der Technik und qualitative Methoden der Sozialforschung. Sie ist u.a. Autorin von „Prekarisierung“ (2015, transcript), „Das Paarinterview“ (2017, Springer VS, mit Christine Wimbauer), „Recognition and precarity of life arrangement. Towards an enlarged understanding“ Distinktion. Journal of Social Theory 20 (2) und „Prekäre Arbeit, prekäre Liebe. Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse“ (2020, Campus, mit Christine Wimbauer).

Christine Wimbauer ist Professorin für Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Soziologie der Arbeit (Erwerbs- und Sorgearbeit; u.a. Prekarisierung), Soziologie der Paar- und Nahbeziehungen, Liebe und Familien jenseits der Heteronorm, soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse, Sozial- und Familienpolitik, Anerkennungstheorie, qualitative Methoden der Sozialforschung. Sie ist u.a. Autorin von „Wenn Arbeit Liebe ersetzt“ (2012, Campus), „Das Paarinterview“ (2017, Springer VS, mit Mona Motakef) und „Prekäre Arbeit, prekäre Liebe. Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse (2020, Campus, mit Mona Motakef).