Das Bild zeigt den Schreibtisch der Autorin Klara Nagel.

#MeinSchreibtisch: Klara Nagel

Blicke ich über den Rand des Computerbildschirms auf meinem Schreibtisch im Institut für Europäische Ethnologie hinaus, schaue ich passenderweise auf die Fassade des Justizministeriums. Wenn in den Büros dort Licht an ist, kann ich Menschen ebenfalls hinter Schreibtischen und Bildschirmen sitzen sehen. Diese Fenster zeigen mir sinnbildlich einen kleinen Ausschnitt dessen, wie der Rechtsstaat als institutionelle Praxis im Alltag funktioniert.

Eine Frage, der ich mich ethnographisch zu nähern versuche. Als Kulturanthropologin erforsche ich Recht, Politik und Staatlichkeit nicht nur von meinem Schreibtisch aus, sondern habe im Rahmen empirischer Forschung auch an den Alltagen von anderen Menschen teil. Diese können auf ganz unterschiedliche Weise in politische Prozesse involviert sein. So untersuchte ich in meiner Masterarbeit, welche Rolle Rechtspraktiken in der Arbeit des Serbski Sejm, einem sorbischen Parlament, und seinem Bemühen um kollektive Selbstbestimmung spielen.

Aus einer anthropologischen Perspektive, die Recht als Teil von sozialer Praxis denkt, kann übergreifend danach gefragt werden, was Recht in gesellschaftlichen Verhältnissen tut und was dabei wiederum mit Recht gemacht wird: Wie wird es lokal wirksam? Welche Handlungsspielräume öffnet und welche schließt es? Dabei wird Recht nicht nur als Gesetzestext betrachtet, sondern als ein Bündel von Institutionen, Praktiken, Akteur*innen und Machtverhältnissen, dem Menschen im Alltag auf unterschiedliche Weise begegnen – sie können es beispielsweise herausfordern oder stabilisieren, sich dadurch bestätigt sehen oder eingeschränkt werden. (Vgl. Valverde, 2003) Verknüpft mit Ansätzen aus der feministischen Rechtswissenschaft (vgl. Foljanty/Lembke, 2012) rückt so auch in den Blick, wie Recht einerseits genutzt werden kann, um Ungleichheiten bspw. entlang von Geschlechterverhältnissen entgegenzuwirken, andererseits aber teil hat an der Herstellung solcher Verhältnisse und den ihnen zugrundeliegenden Kategorien.

Der Schreibtisch als Ort der Forschungskonzeption…

Diese Perspektive auf Recht und Politik bildet auch eine wichtige Grundlage für mein gerade anlaufendes Promotionsvorhaben, an dem ich seit Mai als wissenschaftliche Mitarbeiterin von diesem Schreibtisch aus arbeite. In einer ethnographischen Forschung untersuche ich, wie Debatten um Antidiskriminierung innerhalb der Polizei Berlin aufgenommen, diskutiert und bearbeitet werden und welche Transformationen dies in Gang setzt. Ausgehend von der Beobachtung, dass es in Berlin auf verschiedenen Ebenen Bemühungen gibt, die Polizei in Antidiskriminierungsaktivitäten einzubinden, frage ich im Sinne einer Anthropologie politischer Felder (Adam/Vonderau, 2014) nach den (un)intendierten Effekten von Politiken, wenn sie produktiv werden. In solchen Momenten können neue Kategorisierungen und Subjektpositionen entstehen, es wird ordnend auf Räume zugegriffen und institutionelle Strukturen verändern sich. (Ebd.: 18f.) Dabei eröffnen sich neue Handlungsweisen, andere wiederum verschließen sich und nicht zuletzt „privilegieren [Politiken] bestimmte Zukunftsvorstellungen oder Visionen vom ‚guten Leben‘.“ (Ebd.: 19) In meiner Forschung gehe ich diesen unterschiedlichen Effekten nach und folge diskriminierungskritischen Reformansätzen in der und um die Polizei Berlin zu den Orten, an denen sie bearbeitet werden. Ich verorte die Reformbemühungen in einem Spannungsfeld zwischen Versicherheitlichung und Antidiskriminierung und richte meinen Blick daher auch auf die Reibungen, Widersprüche und Spannungen, die sich im Rahmen der Reformprozesse ergeben.

… und als Ort der Lehrplanung

Mein Schreibtisch ist jedoch nicht nur der Ort, an dem ich mich mit Theorien auseinandersetze oder meine Forschung plane und reflektiere. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie stehen in meinem Arbeitsalltag auch andere Aufgaben an, die die Abläufe innerhalb des Instituts und den Lehrbetrieb betreffen. Nach und nach entdecke ich die vielen Möglichkeiten mich einzubringen, aber spüre auch Eigenlogiken der Institution. Die Universität ist auf vielfältige Weise mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen verstrickt und auch die Menschen, die unter ihrem Dach zusammenkommen, ihr Wissen und ihre Sprache sind von ihnen durchdrungen. (Goel, 2016: 39f.) Vor diesem Hintergrund frage ich mich, wie ich Anregungen aus den Gender Studies nicht nur inhaltlich als Teil der Auseinandersetzung mit meinem Forschungsfeld aufnehmen, sondern auch wie eine machtkritische Haltung in der Universität in Zeiten der Krise(n) und des Neoliberalismus praktisch umgesetzt werden kann.

Auf der inhaltlichen Ebene bedeutet das für mich, danach zu fragen, wie Geschlecht und Sexualität in staatliche Politiken und somit auch in Polizeiarbeit eingelagert sind, von ihnen mobilisiert und gleichzeitig mit hervorgebracht werden. Intersektionale Analysen geben zudem Anlass, genauer auf die Vielschichtigkeit von Machtverhältnissen und somit auch auf Ambivalenzen diskriminierungskritischer Ansätze zu blicken. In der Lehre hoffe ich, über die inhaltliche Auseinandersetzung mit intersektionalen Machtverhältnissen und die Zusammenstellung des Seminarplans hinaus, die Lern- und Arbeitssituation im Seminar so gestalten zu können, dass gemeinsames Lernen für alle möglich ist.

Konkret kann das zum Beispiel heißen, eine breite Vielfalt von Diskussionsformaten zu verwenden, damit unterschiedliche Fähigkeiten und Lernweisen zur Geltung kommen können. Aber ich denke hier auch an den von Urmila Goel (2016; 2020) vorgeschlagenen Ansatz der Fehlerfreundlichkeit als Umgang damit, dass ein Seminar keinen Raum außerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse darstellt. Damit ist nicht gemeint, Handlungen, die Machtverhältnisse reproduzieren, nicht zu problematisieren, sondern vielmehr sich so mit ihnen auseinanderzusetzen, dass ein gemeinsamer Lernprozess für alle möglich bleibt und eine Wiederholung vermieden wird. Dies soll auch der Tatsache Rechnung tragen, dass einfache Gegenüberstellungen von richtigem und falschem Verhalten die Komplexität der Alltagswelt meist nicht zu fassen vermögen. (Goel, 2020: 148)

Diese Überlegungen nehme ich mit in die kommenden Semester, bin mir aber zugleich bewusst, dass die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit wohl nie vollständig zu überwinden sein wird. Nicht zuletzt deshalb, weil auf Transformation gerichtete Praktiken immer auch an den strukturellen Bedingungen ansetzen müssen und zu kurz greifen, wenn sie nur individuelles Verhalten adressieren.

Ein Ort des Forschens und Lernens ist mein Schreibtisch also insbesondere insofern, als dass ich ihn auch verlassen kann, um solche Ansätze praktisch zu erproben, Teil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu sein und dabei gemeinsam mit anderen zu lernen. Trotzdem habe ich den Arbeitsplatz im Büro gerade durch das Arbeiten im Homeoffice während der Pandemie zu schätzen gelernt. Dabei denke ich nicht nur an das LAN-Kabel, das mich mit Internet versorgt, oder die vielen digitalen Ressourcen, auf die ich durch das Bibliotheksportal von hier aus Zugriff habe, sondern auch daran, dass mir die Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz an manchen Tagen überhaupt erst konzentriertes Arbeiten erlaubt.

 

Literatur

Adam, Jens/Asta Vonderau (2014): Formationen des Politischen Überlegungen zu einer Anthropologie politischer Felder. In: Dies. (Hg.): Formationen des Politischen. Anthropologie politischer Felder. Bielefeld: transcript, S. 7-32.

Foljanty, Lena/ Ulrike Lembke (Hg.) (2012): Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch. Baden-Baden: Nomos. https://doi.org/10.5771/9783845262833

Goel, Urmila (2020): Freundlichkeit gegenüber Fehlbarkeiten – ein Ansatz für diskriminierungskritische Bildungsarbeit. In: Susanne Bücken/Noelia Streicher/Astride Velho/Paul Mecheril (Hg.): Migrationsgesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse in Bildungssettings. Analysen, Reflexionen, Kritik. Wiesbaden: Springer VS, S. 147-166.

Dies. (2016): Die (Un)Möglichkeiten der Vermeidung von Diskriminierungen. In: AG Lehre (Zentrum für transdisziplinäe Geschlechterstudien der Humboldt-Universiät zu Berlin (Hg.): Diskriminierungskritische Lehre. Denkanstöße aus den Gender Studies. Berlin, S. 39-47.

Valverde, Mariana (2003): Law’s dream of a common knowledge. Princeton, NJ: Princeton University Press.

 

Klara Nagel (M.A.) hat Sozial- und Kulturanthropologie, Philosophie und Europäische Ethnologie in Berlin studiert. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Zweitmitgliedam Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Anthropologie politischer Felder, insbesondere der Rechtsanthropologie und der Anthropologie des Staates. Des Weiteren beschäftigt sie sich mit Postsozialismus und feministischen/intersektionalen Theorien.