Archivakten in einem Regal

Kriminalisierung von Homosexualität: Eine Verflechtungsgeschichte von Straf- und Asylrecht

Im Frühsommer 2020 hat das europäische Projekt SOGICA seine Abschlussempfehlungen für das Asylverfahren veröffentlicht. Eine davon lautet, dass das „BAMF und die Verwaltungsgerichte […] die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen unabhängig von ihrer Durchsetzung als ausreichend anerkennen, um eine Verfolgung festzustellen“. Zum Hintergrund: im Jahr 2013 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH 2013) entschieden, dass die Kriminalisierung von homosexuellen Handlungen nur dann als Verfolgung im Sinn des Asylrechts in Frage kommt, wenn es auch tatsächlich zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommt. Es darf sich also nicht um ‚totes Recht‘ handeln.

Petra Sußner und Veronika Springmann forschen in der DFG-Forschungsgruppe Recht-Geschlecht-Kollektivität einerseits zur Gerichtspraxis im europäischen Asylrecht („Verhandeln“) und andererseits zur Entkriminalisierung homosexueller Handlungen in der BRD. An dieser Stelle fragen sie gemeinsam nach der Kriminalisierung homosexueller Handlungen im Asylrecht und denken dabei ,andere‘ Schutzansprüche mit der ,eigenen‘ Verfolgungsgeschichte zusammen. Was bedeutet es, dass die Kriminalisierung von homosexuellen Handlungen in der BRD selbst jahrzehntelang rechtliche Praxis war? Was lässt sich aus der historischen Perspektive für die aktuelle Asylrechtspraxis gewinnen? Ausgangspunkt des Beitrags ist die konkrete EuGH-Entscheidung aus dem Jahr 2013. Diese Arbeit an einem konkreten Fall folgt dem Anspruch auf interdisziplinäre Rechtsforschung, die Recht als historisches kulturelles Phänomen und damit als soziale Praxis anerkennt, und konsequenterweise auch auf die Spezifika des dogmatischen Rechtsdiskurses zugeht.

Asylrechtlicher Schutz vor Kriminalisierung durch andere Staaten

Haben Gerichte in EU-Staaten Zweifel, wie unionsrechtliche Vorschriften zu verstehen sind, wenden sie sich an den EuGH. Dieser hat die Auslegungshoheit. So ist es auch im Verfahren C-199/12 – C-201/12 geschehen. Damals ging es um asylrechtlichen Schutz für homosexuelle Männer. Der niederländische Staatsrat (Raad van State) wollte wissen, ob die Tatsache, dass homosexuelle Handlungen in den Herkunftsstaaten der Antragsteller unter Strafe stehen, bereits als asylrelevante Verfolgung zu werten ist und falls nicht, unter welchen Umständen von einer solchen Verfolgung auszugehen sei. Konkret ging es um die folgenden Strafdrohungen:

„Aus den Vorlageentscheidungen geht hervor, dass in den Herkunftsländern von X, Y und Z Homosexualität unter Strafe steht. So sind in Sierra Leone (…) nach Section 61 des Gesetzes von 1861 über Straftaten gegen die Person (Offences against the Person Act 1861) homosexuelle Handlungen mit einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren bis lebenslänglich bedroht. In Uganda (…) droht einer Person, die einer Straftat überführt ist, die mit „Geschlechtsverkehr wider die Natur“ bezeichnet wird, gemäß Section 145 des Strafgesetzbuchs von 1950 (Penal Code Act 1950) eine Freiheitsstrafe, die im Höchstfall lebenslang ist. (…)“(Rz 26).

Der EuGH entschied, „dass der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher keine Verfolgungshandlung darstellt“. Die entsprechende Regelung muss „tatsächlich verhängt“ werden. Im Asylverfahren muss sich also – etwa über Länderberichte – ergeben, dass andere Menschen bereits Opfer von Verfolgung sind.

Kontinuitäten der eigenen Kriminalisierung

Rechtswissenschaftlich ergeben sich aus zwei Gesichtspunkten mögliche Kritikpunkte: (1) Die Entscheidung weicht in puncto Kriminalisierung von etablierten Menschenrechtsstandards ab und (2) für die juristische Praxis birgt sie die Gefahr, asylrelevante Verfolgung aus dem Fokus zu drängen, die sich im gesellschaftlichen Umfeld einer abstrakten Kriminalisierung ergeben kann. Die UNHCR-RL Nr 9 nennen sanktionslose LGBTIQ-feindliche Gewalt oder den Ausschluss von Bildung und Sozialleistungen als solche Verfolgung.

Historische Verbindungen baut die Kritik an der EuGH, C-199/12 – C-201/12 bisher dort auf, wo es um eigene Ent-Kriminalisierungsgeschichte geht. So beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Kriminalisierung von Homosexualität seit Dudgeon vs United Kingdom (EGMR, 7525/76 vom 22.10.1981) als bedingungslose Verletzung des Rechts auf Privatleben im Sinne des Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ungeachtet der Frage, ob tatsächlich Strafen verhängt werden, sieht der EGMR hier eine Verletzung des Rechts auf Privatleben und stellt in diesen Fällen auch keine einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung voran. Mit den Vorlagefragen zu C-199/12 – C-201/12 stand nun die Frage im Raum, ob dies auch im Asylrecht gilt. Der EuGH verneinte. Dafür hat er Kritik erhalten. Richter De Gaetano sprach in der Entscheidung M.E. vs Sweden (EGMR, 8.4.2015, 71398/12) vom Eindruck einer Relativierung eines europäischen Menschenrechtsstandards, der bis in die 1980er Jahre zurückgeht. Rechtsdogmatisch ist dieser Bruch zulässig, denn asylrechtlicher Schutz muss die im Aufnahmestaat geltenden Menschenrechtsstandards nicht 1:1 umsetzen. Gleichzeitig handelt es sich hier um einen historisch etablierten und verankerten Standard, der als Element der Selbstvergewisserung eines LGBTIQ-freundlichen Westens eingestuft werden kann. Auch vor diesem Hintergrund ist zum Beispiel die Kritik des Flüchtlings- und Migrationsrechtswissenschafters Thomas Spijkerboer zu sehen. Er betont den Widerspruch zwischen der EuGH-Entscheidung C-199/12 – C-201/12 und der Idee universaler Menschenrechte und macht dabei deutlich, wie fragil diese Idee selbst ist.

Wenig präsent ist in der asylrechtlichen Debatte demgegenüber, was aus queer-historischer Perspektive bereits etabliertes Thema ist: Die ,eigene‘ Kriminalisierungsgeschichte. Stellvertretend verweisen wir auf Rao, Out of Time. The Queer Politics of Postcoloniality und brechen die Perspektive auf den BRD-Kontext herunter: In der Bundesrepublik erfolgte die endgültige Streichung des § 175 Strafgesetzbuch (StGB) erst 1994. Zwar ist die sogenannte einfache mann-männliche Sexualität mit der Großen Strafrechtsreform 1969 entkriminalisiert worden, aber die weiterbestehende Sonderkriminalisierung des § 175 StGB kann mit einem Damoklesschwert verglichen werden. Ebendiese Strafbestimmungen sind Elemente einer Kriminalisierungskultur, die mit dem Kolonialismus in so genannten asylrechtlichen Herkunftsländern etabliert wurde. Nachlesen lässt sich das z.B. in der Studie „This Alien Legacy“ aus dem Jahr 2008. Die ,eigene‘ Praxis wirkt also als Gefahr in ,anderen‘ Staaten fort und wird als Frage asylrechtlicher Verantwortung greifbar. Der Rechtspraxis bleibt diese Kontinuität zwischen Herkunfts- und Aufnahmestaaten in der Regel verschlossen, sie konzentriert sich auf die Länderberichte über ,andere‘ Staaten. Das bedeutet jedoch nicht, dass die vorderhand geschichtswissenschaftliche Frage nach der ,eigenen‘ Kriminalisierungsgeschichte für die Rechtswissenschaft ohne Bedeutung wäre. Im Gegenteil. Der Rechtspraxis kann der Blick auf die eigene Geschichte ganz konkrete Aufschlüsse darüber geben, was es bedeutet im – sprichwörtlichen – Closet zu leben und welche Gefahren damit einhergehen. Der breiteren rechtswissenschaftlichen Debatte kann die historische Perspektivenerweiterung auf die ,eigene‘ Kriminalisierungsgeschichte wiederum helfen, das asylrechtliche Schutzsystem in seinen Kontinuitäten und Brüchen weiter auszuleuchten.

Ansätze für einen Perspektivenwechsel

Betrachten wir abschließend die Entscheidung C-199/12 – C-201/12 aus entsprechend alternativer Perspektive, treten zuallererst Widersprüche in den Vordergrund. So entscheidet der EuGH, dass

„der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher keine Verfolgungshandlung darstellt“.

Einer der kanonischen Texte innerhalb der Queer Theory stammt von Eve Kosofsky Sedgwick, Epistemology of the Closet. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin beschäftigt sich in diesem Text, wie der Name des Buches schon verrät, mit dem sprichwörtlichen Schrankversteck, aber eben auch mit dem Prozess, besser gesagt, den Prozessen des Coming-Outs. Bereits in der Einleitung zitiert sie Michel Foucault, es gäbe keine binäre Trennung zwischen dem, was jemand sagt oder nicht sagt; vielmehr müssen oder sollten wir versuchen, die verschiedenen Arten und Weisen zu verstehen, Dinge nicht zu sagen. Es gäbe nicht nur ein, sondern viele Arten des Schweigens; diese sind Teil einer Strategie Diskurse zu unterstreichen und fortzuführen.

Es ist unschwer zu erkennen, warum sie in einem Buch über das Closet dieses Zitat von Foucault bemüht und damit das Schweigen als wirkungsmächtige Handlung begreift. Der Text von Sedgwick ist verschlungen, er hat viele Schichten, ein roter Faden aber, der sich durch diesen Text schlängelt, ist die Feststellung, dass ein Coming-Out nichts ist, was nur einmal stattfindet, sondern in unterschiedlichen Kontexten, Lebenssituationen, Sphären in denen sich Menschen bewegen, stets von Neuem vollzogen werden muss. Es ist jedes Mal eine Entscheidung, sich zu outen oder eben auch nicht. Vor allem für das Nicht-Oouten gibt es unterschiedliche Gründe. Die Kriminalisierung des eigenen sexuellen Begehrens kann hier entscheidender Faktor sein; ungeachtet, ob Strafen tatsächlich verhängt werden oder nicht.

(…) homosexuelle Handlungen bedroht sind (…)

Mit der Kriminalisierung von Homosexualität liegt eine ziemlich genaue Vorstellung dessen vor, was homosexuelle Handlungen sind, oder welche sexuellen Handlungen als ,deviant‘ markiert werden. Das zumindest zeigen die Recherchen in den Ermittlungsakten auf der Grundlage des § 175 in der Bundesrepublik Deutschland. Gezogen wird eine strikte Linie zwischen Homo- und Heterosexualität. Bis 1973 hieß in der BRD das, was in Uganda „Geschlechtsverkehr wider die Natur“ genannt wird „widernatürliche Unzucht“. In den Ermittlungen gegen Männer, die sich strafbar wegen homosexueller Handlungen gemacht haben, wurden von den ermittelnden Beamten auf schon fast voyeuristische Art und Weise diese Handlungen abgefragt und kategorisiert: Oral/Anal/Schenkelverkehr. Liebe und Begehren wurde damit auf bloße sexuelle Handlungen reduziert, diese wiederum waren damit aber auch stigmatisiert. Begehren umfasst aber weitaus mehr als sexuelle Handlungen an sich. Fragen zu intimen Details sind im Asylverfahren verboten (EuGH, 2.12.2014, C-148/13 – C-150/13), trotzdem scheint der enge strafrechtliche Fokus weiterzuwirken, indem das, was Kriminalisierung gesellschaftlich bedeutet, kaum auftaucht. Die damit verbundene Sozialität, sei es Familie, sei es Arbeitswelt, sei es Freund:innenkreis, wird in dieser Reduzierung negiert. Die Person im Closet weiß um diese Sozialität. Schweigen oder Nichtschweigen gilt es nun abzuwägen. Wann stellt es (k)eine Bedrohung dar?

Kriminalisierung von queeren Lebensweisen bedeutet für betroffene Menschen Strategien zu entwickeln, um einer Verfolgung zu entgehen. Das heißt – entsprechend der Proaktivität der Exekutive – Treffen nur an privaten und/oder geheimen Orten sowie wenig öffentliche Sichtbarkeit. Das aber hat Konsequenzen für Lebens- und Verhaltensweisen wie bspw. Zusammenwohnen, andere Wohnmodelle sowie Normierungen von Geschlecht. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Zärtlichkeit unter Männern, wie Umarmung, Küssen zur Begrüßung (wie es bspw. in Frankreich üblich ist), war in der Bundesrepublik Deutschland, aus Angst vor dem Verdacht ein „hundertfünfundsiebziger“ zu sein, undenkbar. Langsam wird das denk- und machbarer. Die Kriminalisierung umfasst also weitaus mehr, als die bloße Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen, die ja zuerst als solche definiert werden müssen. Die Kriminalisierung richtet sich also nicht nur gegen eine Handlung, sondern dient auch – und das wissen wir aus der Geschichte des Strafrechts – dazu, eine bestimmte Ordnung, in diesem Fall die heteronormative, zu schützen und zu stabilisieren. Die Formulierung „dass der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt werden keine Verfolgungshandlung“ darstellen, wirkt vor diesem Hintergrund heteronormativ, geschlechterbinär und irritierend geschichtsvergessen. Was in den UNHCR-RL Nr 9 als Gefahr in ,anderen‘ Staaten beschrieben ist, ist in der BRD vor wenigen Jahrzehnten selbstverständlich gewesen – eine Einsicht, die sich heute für informierten und effektiven asylrechtlichen Schutz produktiv machen ließe.

Veronika Springmann (Dr.), Studium der Geschichte und Sportwissenschaften.
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geschichte des Nationalsozialismus, Geschichte der Gewalt, Körper- und Sexualitätsgeschichte sowie queere Geschichtsschreibung und Kulturgeschichte des Rechts.  Derzeit arbeitet sie innerhalb des DFG-Forschungsprojekts »Homosexuellenbewegung und Rechtsordnung in der Bundesrepublik 1949–2002« an der Freien Universität Berlin.

Petra Sußner (Dr.) ist Rechtswissenschaftlerin und arbeitet im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Knotenpunkt Kollektiv. Geschlecht, Sexuelle Orientierung und Geschlechtliche Identität als soziale Gruppe(n) im Europäischen Asylrecht“ an der Juristischen Fakultät der HU Berlin. Zum Thema ist von ihr zuletzt in der ZfMR 1/2020  „Mit Recht gegen die Verhältnisse: Asylrechtlicher Schutz vor Heteronormativität“ erschienen.

Nennung der Autorinnen in alphabetischer Reihenfolge.