Gender and Science an der HU
Der Arbeitsbereich Gender and Science an der Humboldt-Universität zu Berlin verfolgt das Ziel, an der Schnittstelle zwischen den Naturwissenschaften und den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften Konzepttransfers zu ermöglichen. Auf diese Weise werden präzisere Instrumente für die akademische Wissensproduktion entwickelt. Wissenschaftsgeschichte sowie Wissenschafts- und Transdisziplinaritätstheorien sind bei Gender and Science die Arbeitsschwerpunkte.
Erkenntnisse aus dem Gender and Science-Bereich werden mit naturwissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisinteressen zusammengebracht. Neue gendertheoriebasierte Konzepte werden so für die Biomedizin anschlussfähig gemacht und in innovativen Projekten kooperativ in den naturwissenschaftlichen Kanon hineingetragen. Gleichzeitig wird der Kanon der transdisziplinären Genderforschung und -lehre erweitert. Diesen noch selten vertretenen Forschungsbereich im Wissenschaftsfeld deutscher Universitäten zu verankern ist ein Ziel des Arbeitsbereichs, das durch das BMBF-Verbund-Projekt INGER maßgeblich unterstützt wird.
Das BMBF-Verbundprojekt INGER
Am Forschungsprojekt INGER (Integrating gender into environmental health research: Building a sound evidence basis for gender-sensitive prevention and environmental health protection) ist ein interdisziplinärer Verbund beteiligt, der aus folgenden Partner_innen besteht:
- Universität Bremen, Institut für Public Health und Pflegeforschung/Sozialepidemiologie, Prof. Dr. Gabriele Bolte und Lisa Dandolo;
- Helmholtz Zentrum München, Institut für Epidemiologie/Environmental Risks, Dr. Alexandra Schneider & Dr. Ute Kraus;
- Umweltbundesamt Berlin, Toxikologie, Gesundheitsbezogene Umweltbeobachtung, Dr. Marike Kolossa-Gehring, Dr. Małgorzata Dębiak, Katrin Groth;
- Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl Gender and Science, PD Dr. Kerstin Palm und Dr. Katharina Jacke.
Fachübergreifende Ziele
(1) Wir möchten gemeinsam Methoden für eine geschlechtersensible Datenerhebung und Datenanalyse in quantitativen Studien mit großen Datenmengen zu umweltbezogener Gesundheit entwickeln.
(2) Wir möchten diese Methoden bei ausgewählten Fragestellungen in den Bereichen Umweltepidemiologie, Umwelttoxikologie und Public-Health-Forschung zu Umwelt und Gesundheit erproben.
(3) Wir möchten damit eine fundierte Wissensgrundlage schaffen, die für geschlechtersensible Präventionsmaßnahmen im Bereich Umwelt und Gesundheit sowie für einen geschlechtersensiblen umweltbezogenen Gesundheitsschutz genutzt werden kann.
Neu an diesem Projekt ist, dass hier die Genderexpertise über ein Team aus der Genderforschung unmittelbar mit einbezogen wird. Damit sollen konzeptionelle Probleme wie beispielsweise die Synonymsetzung von Sex und Gender oder auch die bloße binäre Differenzbetrachtung Frauen-Männer in diesen Bereichen überwunden werden. Stattdessen wird ein gendertheoretisch informierter, intersektional gestalteter Geschlechterbegriff für die Gesundheitsforschung entwickelt und in der Praxis der Gesundheitsforschung getestet. Der Fokus liegt auf quantitativen Studien mit großen Datenmengen.
Herausforderungen für multidimensionale sex/gender-Konzepte
Die Integration von nicht-binären, intersektionalen sex/gender-Konzepten in die quantitative Forschung ist für Gesundheits- und Geschlechterforschung eine Herausforderung. Es stellt sich die Frage, wie quantitative Erhebungen von körperlichen Parametern mit einem mehrdimensionalen Geschlechterbegriff arbeiten können. Eine der großen Aufgaben besteht darin, bisher in den Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelte soziale Kategorien zu operationalisieren. Somit sollen diese zugleich theoretisch fundiert und numerisch codier- und auswertbar sein. Forschende sind hier mit verschiedenen Widersprüchen konfrontiert:
- Quantitative Ansätze stellen Korrelationen zwischen Kategorien heraus und können zunehmend detaillierte Gruppendifferenzen deutlich machen. Fluidität, Temporalität und die geopolitische Kontextualisierung von Kategorien anzuerkennen – ohne Stereotypisierungen zuzuspitzen – bleibt jedoch eine Problematik.
- Intersektionalität zielt auf die Berücksichtigung marginalisierter Subgruppen in Studienpopulationen. Bei geringen Fallzahlen können jedoch selten signifikante Korrelationen ermittelt werden.
- Durch die Zunahme von erklärenden Variablen (z.B. über die Wirkungspfade gesundheitlicher Ungleichheiten von unterschiedlichen sex/gender-Gruppen) werden statistische Modelle durch zu viele Prädiktoren fehleranfällig.
Lösungsvorschläge für die Praxis
Um diese Herausforderungen produktiv zu bearbeiten, können Ansätze integriert werden, die bereits Erfahrungen mit der quantitativen Umsetzung von Intersektionalität gemacht haben. Es ist zu reflektieren, welche Datenlücken für Forschungsfragen noch zu schließen sind und welche Personengruppen in quantitativen Studien kaum Berücksichtigung finden. Es reicht nicht mehr, nur neue Kategorien für marginalisierte Identitäten aufzugreifen. Außerdem müssen Instrumente entwickelt werden, die vielfältige Ungleichheitsverhältnisse und deren Wirkungspfade mit abbilden können. Weiterhin ist für die Ergebnisinterpretation eine Reflexion der Temporalität von sich über die Lebensspanne verändernden Kategorien (zum Beispiel Arbeits-, Armuts- und Careverhältnisse) maßgeblich sowie der transparente Bezug auf die spezifischen Studienpopulationen und mögliche daraus resultierende Begrenzungen.
In INGER entstehen bis 2021 neue Konzepte von Geschlecht, die machtkritische Reflexionen mit biomedizinischen Konzeptionen des Körpers und pragmatischen Anforderungen quantitativer Zugriffe zu verbinden versuchen.
Dr. habil. Kerstin Palm war von 2013-2018 Professorin für Gender & Science am Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2018 dort als Arbeitsgruppenleiterin und Hochschullehrerin des Forschungsbereichs Gender & Science tätig. Sie bringt durch ihre Dreifachqualifikation (Promotion in Biologie, Habilitation in Kulturwissenschaft (Historische Epistemologie, seit 20 Jahren Lehre und Forschung in den Gender Studies im Bereich Gender & Science) Einsicht in die Funktionsweisen und Sinnhorizonte der verschiedenen Fachkulturen mit und moderiert interdisziplinäre Zusammenkünfte, bei denen es speziell um die Verständigung und den Konzepttransfer zwischen naturwissenschaftlichen und geistes-/sozialwissenschaftlichen Perspektiven geht.
Dr. Katharina Jacke ist promovierte Politikwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt in Geschlechterforschung. Sie arbeitet seit August 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsbereich Gender & Science an der Humboldt Universität zu Berlin im BMBF-Forschungsprojekt INGER mit. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender und Medizin/Gesundheitswissenschaften, Science Studies und Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaften. Darüber hinaus hat sie als Video- und Hörfunkjournalistin bei dpa, als Medienpädagogin und in der Politikberatung für Kinder- und Jugendhilfe gearbeitet.