Zahnbürsten CC: Marie Springborn

„Es braucht ein ganzes Dorf…“ – Ein Plädoyer für eine stärkere Differenzierung des Konzepts Elternschaft

Was bedeutet Familie und Eltern sein heute? Lebens- und Familienformen wandeln sich seit Jahrzehnten und die Vielfalt von Familie und Elternschaft wird sichtbarer: Patchworkfamilien, Pflege- und Adoptivfamilien, nicht-heterosexuelle Zwei- und Mehrelternfamilien. Notwendig wird daher ein differenzierter Elternschaftsbegriff. Um so mehr, da das Monopol des bürgerlichen Familienmodells bestehend aus Mutter, Vater und den ‚leiblichen‘ Kindern brüchig wird (Wimbauer et al. 2018). Bei diesem Modell fallen biologische, rechtliche und soziale Elternschaft in eins. Es hatte in den 1960er Jahren in Deutschland seine weiteste Verbreitung. Bis heute hat es eine orientierende Funktion und ist in zahlreichen rechtlichen Regelungen institutionell festgeschrieben.

Reproduktionstechnologien und die Vervielfältigung von Eltern(schaft)

Mit der wachsenden Bedeutung von Reproduktionstechnologien wird es zunehmend schwierig, genaue Begrifflichkeiten für jene Personen zu finden, die an der Entstehung des Kindes und/oder an der Erziehung des Kindes beteiligt sind oder waren. Das von uns leicht abgewandelte nigerianische Sprichwort im Titel verweist bereits darauf – es kann teilweise sogar sehr viele Beteiligte geben, rechnet man insbesondere das medizinische und juristische Personal mit ein. Bisher mangelt es an einem erweiterten und differenzierenden Konzept von Elternschaft, das diese Vervielfältigung der Beziehungen präzise zu fassen vermag.

Elternschaft: Leiblich, biologisch, genetisch, rechtlich, sozial?

Gewöhnlich wird vor allem von den leiblichen oder biologischen Eltern gesprochen. Dahinter steckt die Annahme, dass es immer eine Frau und einen Mann gibt, die an der Zeugung des Kindes beteiligt waren. Bereits hier ist eine genauere Differenzierung wichtig: Wir unterscheiden bei biologischer Elternschaft zwischen einer genetischen (Samen, Eizelle) und natalen (Austragen und Gebären) Beteiligung. Die beteiligten Personen sind der/die Samengeber_in als Genetor und die/der Eizellgeber_in als Genetrix (beide als Gametengeber_innen). Für die austragende und gebärende Person schlagen wir unsere Wortneuschöpfung Natalix vor.

Zudem sind in der Familiensoziologie weitere Begriffe relevant: Die rechtliche Elternschaft und die soziale Elternschaft. Bei der sozialen Elternschaft, also der faktischen Übernahme von Sorgeverantwortung für ein Kind, wird meistens von Mutter und Vater gesprochen. Geschlechterindifferente Alternativen sind die Singularform Elter oder kreative Bezeichnungen, die Eltern (er-)finden, wie Mapa oder mather.

Kopplung von Recht, Biologie und sozialem Handeln

Im deutschen Recht und im gesellschaftlichen Alltag gelten die genetische, natale, rechtliche und soziale Elternschaft als vermeintlich natürlich gekoppelt. Diese Koppelung ist jedoch keineswegs vorsozial und ‚natürlich‘, sondern sozial hergestellt. Eingewoben sind geschlechterdifferenzierende, paar- und heteronormative Zuschreibungen. Meistens folgt daraus eine Hierarchisierung. Aus der (bisweilen nur vermuteten) genetischen und natalen Beteiligung folgt automatisch die rechtliche Elternschaft, aufgrund derer wiederum eine Erfüllung der sozialen Elternschaft angenommen wird.

Notwendig ist, dass in sozialwissenschaftlichen Forschungen präzise zwischen diesen verschiedenen Beteiligungen unterschieden wird: Die Annahme, dass ‚leibliche Eltern‘ automatisch die rechtlichen und sozialen Eltern sind, lässt sich vor dem Hintergrund einer Vervielfältigung von Elternschaft nicht halten.

Die Hierarchisierung verdeckt, dass es allein die faktisch alltäglich praktizierte Elternschaft ist, die tatsächlich die Sorge für Kinder gewährleistet. Wird nun soziale Elternschaft ohne rechtliche Elternschaft praktiziert, wie etwa in Regenbogen- und Mehrelternfamlien, fehlt diesen oft jegliche rechtliche Absicherung. Hier sind rechtliche Reformen dringend notwendig (vgl. Fachstellungnahme des 45. FJT zum Abstammungsrecht). Zudem bedarf es größerer gesellschaftlicher Anerkennung von praktizierter (sozialer) Elternschaft.

Doing family – Vielfalt von Elternschaft und Familie empirisch erforschen

Wie lässt sich also Elternschaft theoretisch so fassen, dass die empirische Vielfalt beschrieben und analysiert werden kann? Seit einigen Jahren wird hierzu auf das Konzept des doing family verwiesen. In Anlehnung an die ethnomethodologischen Überlegungen von Harvey Sacks zu ‚doing‘ steht der Prozesscharakter von Handlungen und die Leistungen der Interagierenden im Fokus. In unserem Forschungskontext bedeutet dies zu fragen, wie Elternschaft und Familie tagtäglich in konkreten Situationen hergestellt wird.

Elternschaft als Herstellungsleistung

Der Blick richtet sich auf die Herstellungspraktiken, an deren Ende ein (vermeintlich stabiles) Gebilde wie Elternschaft und Familie steht. Mit anderen Worten: Man ist nicht einfach Eltern geworden, sondern muss es tun. Der interaktive Vollzug von Familie und Elternschaft seitens der Eltern, der Kinder, aber auch von außenstehenden Dritten wird dabei von verschiedenen (rechtlichen) Institutionen abgesichert. Die gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen sind zentrale Ressourcen zur interaktiven Herstellung oder Verweigerung von Elternschaft. Sie strukturieren, wie Familie und Elternschaft hergestellt werden (müssen), um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Dazu gehören Annahmen über Geschlechterdifferenzierung und Zweigeschlechtlichkeit, die wiederum die Vorstellung evozieren, jedes Kind habe eine Mutter und einen Vater.

Als Konsequenz daraus führt weiteres Elternpersonal schlichtweg zu gesellschaftlichen Irritationen. Weitere Eltern werden der klassischen Elterndyade aus Vater und Mutter untergeordnet. Durch gesellschaftliche Normen und Institutionen wird Elternschaft hierarchisiert: über eine rechtlich abgesicherte Naturalisierung von Elternschaft wird der biologischen in Kombination mit der rechtlichen Elternschaft eine herausragende Stellung zugewiesen. Dem stehen vielfältige Formen gelebter Elternschaft gegenüber.

Elternschaft ist kein Naturgesetz

Elternschaft, so unser Fazit, ist nicht natürlich gegeben, sondern eine soziale Institution. Das heißt: Auch da, wo Elternschaft scheinbar ‚biologisch‘ und ‚natürlich‘ ist, bedarf dies der rechtlichen und sozialen Anerkennung. Gleichzeitig wird Elternschaft tagtäglich in Interaktionen immer wieder hervorgebracht und gelebt – vielfältig und auch jenseits der zweigeschlechtlichen Paardyade und der rechtlichen Anerkennung als Eltern. Familiale Praktiken können demnach die gegenwärtige Ausformung der Institution Elternschaft stützen wie auch verändern. Vielleicht werden dann in naher oder ferner Zukunft Ein-, Zwei- und Mehrelternschaften gesellschaftlich als selbstverständlich gelten.

Literatur

Wimbauer, Christine; Teschlade, Julia; Peukert, Almut; Motakef, Mona (2018): Paar- und Familienleitbilder der ‚Mitte‘ zwischen Persistenz und Wandel. Eine paar- und heteronormativitätskritische Perspektive. In: Nadine M. Schöneck und Sabine Ritter (Hg.): Die Mitte als Kampfzone. Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten. Bielefeld: transcript, S. 125–141.

Ausführlich siehe

Almut Peukert, Mona Motakef, Julia Teschlade und Christine Wimbauer (2018): Soziale Elternschaft – ein konzeptuelles Stiefkind der Familiensoziologie. In: Neue Zeitschrift für Familienrecht, H. 7, S. 322-326.

Link: gender Open folgt.

Almut Peukert, Julia Teschlade, Mona Motakef, Christine Wimbauer, Elisabeth Holzleithner (Hg.) (2020): Elternschaft und Familie/n jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit. GENDER Sonderheft 5. Opladen: Budrich.

 

Almut Peukert arbeitet als Juniorprofessorin für Soziologie, insb. Arbeit, Organisation und Gender an der Universität Hamburg. Seit 2018 ist sie Projektleiterin in dem DFG-Projekt „Ambivalente Anerkennungsordnung? Doing reproduction und doing family jenseits der heterosexuellen ‚Normalfamilie‘“ (zusammen mit Prof. Wimbauer und Dr. Motakef an der HU). Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Erwerbs- und Familienarbeit, Geschlechtersoziologie, Paar- und Familiensoziologie, Qualitative Methoden. Publikationen:  “‘Little children are not for dads?’ Challenging and undoing hegemonic masculinity” Gender, Work & Organization 2018, „‚Involvierte‘ Väter zwischen Beruf und Familie. Zur Re/Produktion von Männlichkeiten in paarinternen Aushandlungen“ Zeitschrift für Familienforschung – Journal of Family Research 29 (1), S. 90–112, 2018, „Aushandlungen von Paaren zur Elternzeit. Arbeitsteilung unter neuen Vorzeichen?“ (2015, Springer VS.).

Julia Teschlade ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg und forscht im DFG-Projekt „Ambivalente Anerkennungsordnung? Doing reproduction und doing family jenseits der heterosexuellen ‚Normalfamilie‘“. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Soziologie der Reproduktions- und Erwerbsarbeit, Reproduktionstechnologien, Queer Kinship Studies, soziale Ungleichheiten, (Menschen-)Rechtssoziologie, qualitative Sozialforschung. Publikationen: „‚Wenn das liebe Geld nicht wär’: Zur Konstruktion von Intimität zwischen Tragemüttern und gleichgeschlechtlichen Männerpaaren.“ feministische studien 37 (1), S. 65–81, 2019. „Creating a family through surrogacy: Negotiating parental positions, familial boundaries and kinship practices” GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 11 (2), S. 56–70, 2019 (mit Almut Peukert).

Mona Motakef vertritt im Wintersemester 2019/2020 die Professur Arbeit und Geschlechterverhältnisse am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechtersoziologie, Soziologie der Arbeit (insbes. Prekarisierung von Erwerbs- und Sorgearbeit), soziale Ungleichheit, Soziologie der Paar- und Nahbeziehungen, Soziologie der Körper und der Technik und qualitative Methoden der Sozialforschung. Sie ist u.a. Autorin von „Prekarisierung“ (2015, transcript), „Das Paarinterview“ (2017, Springer VS, mit Christine Wimbauer), „Recognition and precarity of life arrangement. Towards an enlarged understanding“ Distinktion. Journal of Social Theory 20 (2) 2019 und „Prekäre Arbeit, prekäre Liebe. Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse“ (2020, Campus, mit Christine Wimbauer).

Christine Wimbauer ist Professorin für Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Soziologie der Arbeit (Erwerbs- und Sorgearbeit; u.a. Prekarisierung), Soziologie der Paar- und Nahbeziehungen, Liebe und Familien jenseits der Heteronorm, soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse, Sozial- und Familienpolitik, Anerkennungstheorie, qualitative Methoden der Sozialforschung. Sie ist u.a. Autorin von „Wenn Arbeit Liebe ersetzt“ (2012, Campus), „Das Paarinterview“ (2017, Springer VS, mit Mona Motakef) und „Prekäre Arbeit, prekäre Liebe. Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse (2020, Campus, mit Mona Motakef).

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