Gender Studies und Corona

Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus hat auch Wissenschaftsbetriebe und ihre alltäglichen Prozesse innerhalb Lehre, Forschung und Verwaltung zum großen Teil ausgehebelt. Die Humboldt-Universität zu Berlin hat wie alle anderen Forschungs- und Lehreinrichtungen interne Abläufe nun auf den Präsenznotbetrieb heruntergefahren. Das bedeutet, nur ein sogenanntes Kernpersonal, wie Verwaltungsmitarbeiter_innen, Postzusteller_innen oder Reinigungsmitarbeiter_innen, darf die Gebäude der Hochschule betreten. Bibliotheken sind geschlossen und Veranstaltungen (zum Beispiel Konferenzen, Gremientreffen und Weiterbildungen) bis zum Ende des Sommersemesters abgesagt. Die Mehrheit der Mitarbeiter_innen arbeitet zu Hause und setzt sich mit den digitalen Möglichkeiten gemeinschaftlichen und dennoch isolierten Arbeitens auseinander – von Remote-Desktop und VPN-Zugriff auf das HU-Netz über Videokonferenzen, bis zu Messenger-Gruppen und kollaborativen Dokumenten (wie dieser Blogbeitrag). Institutionell ausgenommen von diesem Minimalbetrieb sind aktuell nur systemrelevante Bereiche an der HU, vor allem die Charité, aber auch das Institut für Chemie, das zur Zeit Desinfektionsmittel herstellt.

Und welche Rolle haben die Gender Studies?

Neue Fragen und (An-)Forderungen entstehen in diesem Zusammenhang auch für die Gender Studies: Wie werden Lehre und Forschung weitergeführt? Was bedeutet die Situation beispielsweise für Abschlüsse, Stipendien, BAföG-Zuschüsse und drittmittelgeförderte Projekte und nicht zuletzt: Welche Bedeutung haben Gender und andere interdependent verknüpften Machtverhältnisse, wie Rassifizierungsprozesse, Klasse und körperliche Normen beziehungsweise ability in dieser Krise? Die Auswirkungen des Coronavirus, so unsere Sicht, verlaufen quer durch diese Verhältnisse, mit gravierenden Auswirkungen, vor allem für Menschen, die negativ von Machtverhältnissen betroffen sind. Das sind beispielsweise Menschen, die feminisierte und migratisierte Berufe ausüben, die zum Beispiel Pflegearbeiten leisten oder in anderen medizinischen Berufen angestellt sind, Beschäftigte in der Grundversorgung (Wasser, Strom, Nahrungsmittel), Menschen mit kleinen Kindern oder in prekären Wohnsituationen und Arbeitsverhältnissen, die nun Kurzarbeiter_innengeld erhalten oder ihre Arbeit verloren haben. Diese Themen sind Gegenstand der Geschlechterstudien – sie sind aktueller und gesellschaftlich breit diskutierter als je zuvor.

So beschäftigt sich beispielsweise der Lehrbereich “Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse” mit der Verletzbarkeit und Prekarität des Lebens, mit Sorge- und Erwerbsarbeit sowie mit (Geschlechter-)Ungleichheiten und Anerkennung. In den empirischen Projekten stehen die Sorgearrangements vielfältiger Familien jenseits der Heteronormativität sowie (fehlende) Anerkennung und (Geschlechter-)Ungleichheiten bei prekär Beschäftigten im Zentrum. Christine Wimbauer und Mona Motakef zeichnen in ihrem jüngsten Buch anhand von Interviews nach, wie sich bei prekär Beschäftigten Anerkennungsdefizite in der Erwerbsarbeit auf das gesamte Leben – den Lebenszusammenhang – auswirken können. Dabei zeigen sie das destruktive Potential von prekärer Erwerbsarbeit auf Liebes- und Freundschaftsbeziehungen und stellen auch die Folgen für die Gesundheit, soziale Teilhabe und auch die Wohnsituation heraus. Die Prekarität des Sozialen zeichnete sich hier schon vor der Covid-19-Pandemie ab, erscheint aber heute wie durch ein Brennglas.

Zeit für Texte, Podcasts und Blogs

Vielleicht birgt diese Zeit der Isolation auch die Möglichkeit, die eigene wissenschaftliche Praxis zu reflektieren und sich Themen und Formaten zuzuwenden, die sonst im hektischen Wissenschaftsbetrieb kaum Raum finden. Gleichzeitig sind die Zeit und Kraft zur Reflektion ein Privileg. Menschen in prekären Lebenssituationen, Menschen mit Kindern, mit pflegebedürftigen Angehörigen, mit psychischen oder körperlichen Vorerkrankungen stehen in dieser Zeit vor großen Herausforderungen.

Dieser Beitrag ist ein work in progress.  Er soll Ressourcen zur Verfügung stellen, die laufend ergänzt werden können. Die vorgestellten Beiträge sind frei und digital verfügbar und sollen wissenschaftliches Arbeiten – in den Gender Studies wie in vielen anderen Feldern – auch in Zeit von Corona ermöglichen. Diese Linkliste gliedert sich momentan in vier verschiedene Ressourcenformate: Texte, Blogs, Podcasts und Videos.

Ebenfalls wichtig sind uns Beiträge von Aktivist_innen. Im #4GenderStudies Workshop war diese Zusammenarbeit ein zentraler Wunsch, den wir in dieser Krise kreativ angehen können.

Digitale Forschungsinfrastruktur

Die große Anzahl an Ressourcen zeigt, dass Vieles mittlerweile digital und frei verfügbar ist. Verschiedene Einrichtungen und engagierte Kolleg_innen haben Projekte zur Digitalisierung der Gender Studies vorangetrieben, von denen wir zu Hause und trotz geschlossener Bibliotheken besonders profitieren können. Zwei besonders herausragende wollen wir stellvertretend kurz vorstellen:

Mit dem Online-Repositorium GenderOpen gibt es die Möglichkeit sich von jedem Rechner Volltexte herunterzuladen. Neben Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden, Dissertationen, Habilitationen und Working Paper sind auch einige Monographien frei und dank Open Access vorhanden.

Auch das Open Gender Journal ist digital verfügbar und bietet die Möglichkeit, aktuelle Aufsatztexte herunterzuladen. Gerade erschienen ist etwa ein aktuell hochrelevanter Beitrag von unserer ehemaligen Promotionsstudentin Käthe von Bose und von Isabel Klein unter dem Titel „Intime Arbeit – prekäre Körper: Zur Bedeutung von Körperarbeit in vergeschlechtlichen Arbeitsfeldern“.

Wenn auch Sie auf Links zu genderrelevanten, wissenschaftlichen Quellen hinweisen möchten, schicken Sie uns gerne eine E-Mail an:

zentrum [at] gender.hu-berlin.de

Viel Spaß beim Stöbern und alles Gute.


Clara Scholz
ist Leiterin der Genderbibliothek am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien und damit zuständig für alles, was mit Information, Zugänglichkeit und Dokumentation zu tun hat. Ihr Lieblingssatz ist „Bei Fragen gerne fragen“, ihre Leidenschaft Open Science und ihr Antrieb Feminismus. In ihrer Freizeit ist sie vor allem auf Sportplätzen und im Internet anzutreffen.

Marie Springborn hat als Logopäd_in gearbeitet, einen Bachelor in den Erziehungswissenschaften und einen Master in den Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert. Momentan arbeitet Marie am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien und hat im Wintersemester 2019/20 ein Seminar über queere Bindungen angeboten.

Linksammlung – Machtverhältnisse und Corona:

Linksammlung – Gender Studies

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