“When I was invited to participate in this project, I was very sceptical about it. I was wondering: Why do ordinary people want to engage with something that is so academic? And we don’t need so much of an academic discussion!” Als Wojciech Tomczyński vom polnischen HIV/Aids-Netzwerks Sieć Plus auf der Abschlusskonferenz unseres europäischen Forschungsprojekts zu HIV/Aids-Aktivismus in Europa seine anfänglichen Bedenken äußerte, mit uns Wissenschaftler*innen zusammenzuarbeiten, traf er genau ins Schwarze der Zweifel engagierter Forscher*innen: Was, wenn die Protagonist*innen unserer Forschungen keinen Sinn in einer Zusammenarbeit mit uns sehen? Was, wenn unser produziertes Wissen für ihre politischen Kämpfe uninteressant oder irrelevant ist?
Wie und mit welchem Ziel können Wissenschaft und Aktivismus zusammenarbeiten?
Im Rahmen des EU-Forschungsprojekts Disentangling HIV/AIDS-Policies: Activism, Citizenship and Health forschten wir in enger Zusammenarbeit mit HIV/Aids-Initiativen und -Organisationen aus Polen, der Türkei, Deutschland, Großbritannien sowie mit europaweiten Netzwerken. Die meisten Organisationen willigten schnell in die Zusammenarbeit ein, nachdem wir ihnen unsere Ziele erklärt hatten: Zum einen wollten wir akademisches Wissen über aktivistische Strategien und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit generieren und dieses auch in den politischen Prozessen der Aktivist*innen platzieren. Zum anderen wollten wir ein Oral-History-Archiv aufbauen, das mit Video- und Audio-Interviews die Vielfalt der Kämpfe gegen HIV/Aids in Europa langfristig dokumentieren und das öffentliche Bild von HIV/Aids-Politik pluralisieren. Im Verlauf der letzten drei Jahre gestaltete sich die Partizipation dann sehr unterschiedlich: je nach den Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern, den jeweiligen zeitlichen und personellen Kapazitäten der Aktivist*innen und nach unseren Bemühungen, den Kontakt zu halten. Produktiv war sie aber in allen Fällen: Mit unseren Partner*innen diskutierten wir ihre Erfahrungen und unsere Überlegungen. Wir lernten viel, gerade auch über lokale Bedingungen, über die Veränderungen, die sich aus den inzwischen – wenn auch keinesfalls überall und gleichmäßig – zur Verfügung stehenden Medikationen ergeben, über politische Strategien und das Erinnern an frühere Gruppen, Personen und Aktivitäten. Immer hatten wir auch das Gefühl, dass das Reden und gemeinsame Nachdenken geschätzt wurden. Die Aktivist*innen fungierten dabei gleichermaßen als Kritiker*innen an wie als Beiträger*innen zu unserem Projekt.
Dennoch stellten wir als Forscher*innenteam zum Abschluss des Projekts wieder die Frage, die sich Wojciech zu Projektbeginn gestellt hatte: Was nützen unsere Forschungsergebnisse – unsere wissenschaftlichen Befunde und Reflexionen wie auch das Online-Archiv – den Aktivist*innen?
Blaupausen schaffen
Auf der Abschlusskonferenz des Forschungsprojekts diskutierten wir mit den angereisten Aktivist*innen genau diese Frage. Wojciech hatte seine anfängliche Skepsis abgelegt. Im Gegenteil, es sei „interessant“ und „wichtig“ für ihn gewesen, an den Diskussionen und Vorträgen teilgenommen zu haben – eine Einschätzung, in die auch andere Aktivist*innen einstimmten. Aber was genau macht wissenschaftliche Reflexionen über politische Kämpfe für Aktivist*innen so interessant und wichtig?
Offensichtlich kann Wissenschaft Aktivist*innen eine Blaupause bieten, um abseits des hektischen, routinierten und von Sachzwängen geprägten Alltags über die eigene Arbeit nachzudenken, gewohnte Argumentationsweisen und Politikinstrumente zu hinterfragen und neue Perspektiven zu gewinnen – auch im Austausch mit Aktivist*innen aus anderen Orten und Feldern der HIV-Politik. So brachte es der ungarische Aktivist Tamás Bereczky mit einem Zitat des Psychologen Kurt Lewin auf den Punkt: „Nothing more practical than a good theory.“ Und ein anderer ergänzte: „And I think that a lot of what we found here is input for reflection. And based on that reflection you go back to the daily basis, and you know, it’s about epidemiological data, funding data, politics and so on, but you had time to reflect”. Die Konferenz bot also eine Art Unterbrechung oder Störung eingespielter Routinen, die geschätzt wurde: als Auseinandersetzung mit vermeintlich Selbstverständlichem und als Möglichkeit, verschiedene Stimmen zu hören und einzubeziehen, die dem oft auf spezifische lokale Situationen und Probleme konzentrierten Aktivismus neue Impulse geben können. Umgekehrt sahen einige auch in dem Austausch eine Anerkennung ihrer langjährigen Anstrengungen. Wissenschaftliche Reflexionen können gerade dann Aktivismus unterstützen und bereichern, wenn sie die politischen Selbstverständlichkeiten kritisch, aber an den Belangen der Forschungsfelder orientiert befragen und damit einen Möglichkeitsraum öffnen, in dem politische Akteur*innen (zukünftige) Strategien unter neuen Gesichtspunkten diskutieren können.
Erinnerung pluralisieren
Während die Diskussion unserer wissenschaftlichen Befunde es ermöglichte, eine Zukunft auch otherwise zu imaginieren, so richtet das European HIV/AIDS Archive einen Blick zurück auf die vergangenen Jahrzehnte des Kampfes gegen HIV/AIDS. Genau dieser Blick stieß auf viel Anerkennung, gerade weil er darauf bedacht war, die Vielfalt von Erfahrungen sichtbar zu machen und das Narrativ der gay male disease zu durchbrechen.
Andere verwiesen auf die Relevanz, die die Erzählungen früherer Aktivist*innen für jüngere Generationen haben, sowie auf die Lehren, die andere Patient*innen-Organisationen daraus ziehen könnten. Für Aktivist*innen aus der Türkei oder Polen ist es zudem von großer Bedeutung, dass ihre Perspektiven Eingang in eine europäische Erinnerung finden. So erklärte ein türkischer Aktivist: „I believe that discussions about back and then and about what was our journey and what happens then, a discussion about the past and the future is very important and empowering. Especially regarding memory through archives and making your memory alive, it is a really important thing, especially with the new diagnosis, where we have people who got diagnosed recently with HIV.”
Dass diese Perspektiven bisher wenig Gehör fanden, verweist auf das ungleich strukturierte Feld europäischer HIV/Aids-Politiken und dominanter Narrative darüber – ein Ungleichgewicht, das wir in unserem Forschungsprojekt immer wieder zu spüren bekamen, zwar auszubalancieren versuchten, aber nie auflösen konnten.
Public Anthropology und die unscharfen Grenzen zwischen Wissenschaft und Aktivismus
Für uns als intersektional genderforschende Kulturanthropolog*innen stehen die Erfahrungen in dem Projekt auch im größeren Zusammenhang mit engagierten Formen des Forschens, wie sie gegenwärtig im Kontext einer public anthropology diskutiert werden: Wir wollen Wissen produzieren, das auf ethnographischem Arbeiten basiert und zugleich in Gesellschaft intervenieren will und kann. Public Anthropology kann so auch zu einer Politik der Koalitionsbildung beitragen, indem sie die Grenzen zwischen Wissensfeldern und zwischen Aktivismus und Wissenschaft überbrückt und dabei zugleich anerkennt, dass alle Beteiligten immer auch eigene, nicht zwangsläufig deckungsgleiche Ziele verfolgen. Dieser Modus des Zusammenarbeitens verdeutlicht, dass die Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus verschwimmt und somit kontingent ist: Er zeigt, wie mit und durch Aktivismus wissenschaftlich relevantes Wissen produziert werden kann und wie zugleich Wissenschaft aktivistisch wirken kann.
Disentangling HIV/AIDS-Policies: Activism, Citizenship and Health wurde im Rahmen des Programms “Uses of the Past” von HERA (Humanities in the European Research Area) gefördert. Das Projekt am Institut für Europäische Ethnologie wurde von Prof. Beate Binder geleitet. Weiter waren daran beteiligt das Institut für Soziologie der Jagiellonian Universität in Krakau (Dr. Agata Dziuban), das Department for Sociology der Goldsmith University, London (Prof. Marsha Rosengarten) und das Department für Geschichte der Universität Basel (Prof Martin Lengwiler, Dr. Peter-Paul Baenziger). Als Post-Doks forschten: Zülfukar Cetin, Friederike Faust, Ulrike Klöppel, Emily Jay Nicholls, Marcel Streng, Justyna Struzik, Todd Sekuler. Studentische Hilfskraft war Lina Bonde. Alle Informationen und Ergebnisse stehen auf der Website von EUROPACH.
Weitere Interviews werden nach und nach online zur Verfügung stehen.
Beate Binder ist Professorin für Europäische Ethnologie und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie leitete von 2016 bis 2019 das EUROPACH-Projekt. Ihre aktuellen Forschungsfelder sind die Geschichte der feministischen Kulturanthropologie und der Geschlechterforschung in der Europäischen Ethnologie, die (historische wie gegenwärtige) Verbindung von (Stadt-)Raum und Sexualität, Praktiken und Politiken des Erinnerns und kulturanthropologische Forschungen im Bereich von Politik und Recht, also Fragestellungen der Politik- und der Rechtsanthropologie.
Friederike Faust und Todd Sekuler waren wissenschaftliche Mitarbeiter*innen des Projekts. Friederike Faust promovierte mit der Arbeit „Fußball und Feminismus“ (2019) zu geschlechterpolitischem Handeln im Sport und forschte im Rahmen des EUROPACH-Projekts zu Gefängnis-bezogenem HIV/AIDS-Aktivismus in Deutschland. Todd Sekuler promovierte mit der Arbeit „Un/Certain Care“ zu geschlechts-anpassenden Prozeduren der Medizin in Frankreich und untersuchte für EUROPACH zusammen mit Agata Dziuban aktivistische Netzwerke auf europäischer Ebene.