Titelseite von "Der Eigene"

Queer-jüdische Diasporaentwürfe in den Zeitschriften der ersten Homosexuellenbewegung

Die erste deutsche Homosexuellenbewegung war alles andere als homogen. Ihre Verbände und Zusammenschlüsse bewegten sich zwischen Männerbund und Konzepten vom „Dritten Geschlecht“ und waren auch in ihren politischen Ausrichtungen über das Parteienspektrum verteilt. Einen eindeutigen Entstehungsmoment der Bewegung gab es nicht, sondern vielfache Anfangserzählungen sind möglich. Die Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees durch Magnus Hirschfeld im Jahr 1897 war beispielsweise ein wichtiger Grundstein für ihren politischen Aktivismus und ihre Sichtbarkeit. Geeint war die Bewegung, die in den Jahrzehnten bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten stetig wuchs, in ihrem Bestreben nach Entkriminalisierung und Gleichberechtigung. Ein Medium, dem in dieser Zeit ein besonderer Stellenwert zukam, war die Zeitschrift.

„Dieses Blatt“, schreibt Adolf Brand in der ersten Ausgabe von Der Eigene, sei „[j]enen Einsamen [gewidmet], die die breite Herdenstraße verlassen haben und allein oder mit Freunden die stillen Pfade ihrer Sehnsucht wandeln! […] Ihnen biete ich hier eine Stätte des Kampfes und einen Ort der Ruhe, auf dem sie Aehnlichgesinnte finden werden.“ Die Zeitschrift, der diese Worte vorangestellt sind, gilt als erste der Homosexuellenbewegung weltweit. In den programmatischen Zeilen klingt an, dass die Zeitschrift mehr sein soll als nur eine Informationsvermittlerin. Als Medium des Austauschs und der Vernetzung birgt sie ein gemeinschaftsstiftendes Potenzial.

Die Zeitschriften der deutschsprachigen Homosexuellenbewegung

Mit den Zeitschriften entstand ein neuer Veröffentlichungsort für eine Vielzahl literarischer Beiträge mit homosexueller Thematik. In den Texten werden stetig Formen von Gemeinschaft entwickelt und miteinander verhandelt. In meinem Promotionsprojekt gehe ich der Frage nach, wie in den literarischen Texten Diasporakonzeptionen entworfen werden und wie diese mit der spezifischen Medialität von Zeitschriften zusammenhängen.

Der überwiegende Teil der Zeitschriften der deutschsprachigen Homosexuellenbewegung zwischen 1896 und 1933 richtete sich an ein männliches Publikum. Dieses Korpus umfasst über 20 Zeitschriften und ist Gegenstand meiner Analyse. Die Periodika unterscheiden sich hinsichtlich Auflagenstärke, Erscheinungszeitraum und politischer Ausrichtung z.T. stark voneinander. Dazu zählen beispielsweise die wohl bekannteste Zeitschrift Der Eigene (1896–1932) und der Privatdruck Agathon (1917–1918, erschienen im Paul Steegemann Verlag), das politisch eher rechts gerichtete Freundschaftsblatt (1925–1933) des Verlegers Friedrich Radszuweit sowie die Freundschaft (1919–1933, herausgegeben von Karl Schultz), die dem jüdischen Sexualwissenschaftler und Pionier der Homosexuellenbewegung Magnus Hirschfeld nahestand. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat sich bisher mit ausgewählten Zeitschriften der Homosexuellenbewegung auseinandergesetzt (Keilson-Lauritz 1997, Micheler 2008). Queere und homophobe sowie jüdische und antisemitische literarische Diskurse im Untersuchungszeitraum sowie Ähnlichkeiten zwischen diesen Diskursen wurden bereits untersucht. Dabei stellt sich die Frage nach Überschneidungen zwischen diesen Diskursen. Gibt es eine spezifisch queer-jüdische Motivik mit eigenen Narrativen und Figuren in der Zeitschriftenliteratur? Diese Frage nehme ich mit meiner Arbeit in den Blick.

Die Zeitschrift als Medium der Diaspora

In der jüdischen Diaspora als „textual community“ (von Braun 2018) nehmen Schrift und Sprache einen besonderen Stellenwert ein. Die Beziehung zwischen Text und Medium in der Zeitschrift erscheint mir hinsichtlich jüdischer Diasporakonzeptionen besonders interessant. Womöglich birgt die Zeitschrift mehr als andere schriftliche Medien ein gemeinschaftsstiftendes Potenzial für diasporische Gemeinschaften. Sie ist grundsätzlich von Intertextualität geprägt; das Nebeneinander verschiedener Einzeltexte sowie die Möglichkeit zur Beteiligung (etwa durch Leser*innenbriefe) erschaffen einen Kommunikationsraum, der zugleich eine Öffentlichkeit herstellen, aber auch Rückzugsort sein kann. Für die einzelne Ausgabe ist die Aktualität entscheidend, was zu einer gewissen Kurzlebigkeit führt. Der Zeitschrift in ihrer Gesamtheit kommt dagegen mit der sich wiederholenden Veröffentlichungspraxis auch eine überdauernde Funktion als eine Art Chronik zu. Ein Merkmal diasporischer Gemeinschaften aus jüdischer Perspektive ist die fehlende territoriale Verortung – es gibt gerade kein geografisches (und damit auch zeitlich-historisches) Zentrum. Die Zeitschrift ist in besonderer Weise als Medium dieser Diaspora geeignet: Sie zirkuliert innerhalb ihrer Leser*innenschaft auch über größere geografische Distanzen hinweg und kann somit als Verbindungsmedium dienen, aber auch als Erkennungszeichen und Distinktionsmerkmal.

Diaspora: Dialektik von Fluch und Segen

„Vorbei ist es mit allem Jubel, / Der Freudenrausch ist jäh verblaßt. / Und abschiedslos flieh ich dem Trubel, / Muß weiterwandern ohne Rast“ lautet die letzte Strophe im Gedicht Ahasver von Karl Alexander. Über Alexander ist – wie über viele Autor*innen in den Zeitschriften – bisher nichts bekannt. Das Gedicht erschien 1927 im Freundschaftsblatt, einer der auflagenstärksten Zeitschriften der Bewegung. Betitelt mit einer antisemitischen Figur, thematisiert das Gedicht die Diaspora sowohl als eine jüdische als auch schwule Erfahrung. Alexanders Gedicht ist kein Einzelbefund, vielmehr ziehen sich Motive, die mit dem Topos Diaspora verbunden sind, durch zahlreiche literarische Beiträge in homosexuellen Zeitschriften aus der Zeit zwischen 1896 und 1933.

Während dem Diaspora-Begriff in der Queer Theory in der Regel ein postkoloniales Verständnis mit einem Schwerpunkt auf Migration und dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie zugrunde liegt, gehe ich von jüdischen Diasporakonzeptionen aus, die im Untersuchungszeitraum entworfen wurden. Dies soll es ermöglichen, Schnittstellen, Bezugnahmen und Transformationen schwuler und jüdischer Diaspora-Erfahrung zu analysieren. Der jüdische Diasporabegriff ist zudem von einer Dialektik von Fluch und Segen (Feierstein 2018) geprägt: Einerseits ist er mit Vertreibung, Nichtzugehörigkeit und Heimatlosigkeit verbunden, die auch im Gedicht von Karl Alexander anklingen. Andererseits betonen manche jüdische Autor*innen wie beispielsweise Nathan Birnbaum den Aspekt einer selbstbestimmten Deterritorialisierung (Battegay 2018), ein Motiv, das sich in der eingangs zitierten Programmatik der Zeitschrift Der Eigene wiederfindet.

Antisemitismus in den Zeitschriften der Homosexuellenbewegung

Zentral für diasporische Gemeinschaftsentwürfe sind Konzeptionen von Raum und Zeit sowie das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von Fragestellungen an die Texte: Wie werden Verortung und Entortung thematisiert, und wie verhalten sich dazu Beschreibungen von Mobilität? Wie greifen Raum- und Zeitkonzeptionen ineinander, beispielsweise im Topos des ewigen Wanderns, der für queer-jüdische Diasporakonzeptionen konstitutiv erscheint? Heimatlosigkeit und gesellschaftlicher Ausschluss sind wiederkehrende Motive – wie werden dennoch Genealogien und Traditionslinien entworfen, die nicht auf nationalstaatliche Erzählungen zurückgreifen (können)? Welche Gegenentwürfe zur bestehenden Ordnung werden erzählt und inwiefern begreifen sie sich als widerständig und subversiv? Welche Rolle spielen Homosozialität, Exklusivität und Anknüpfungspunkte zum Männerbund?

In all diesen Aspekten finden sich auch Anknüpfungspunkte für antisemitische Diskurse, wie das Gedicht Ahasver von Karl Alexander exemplarisch zeigt. Die antisemitische Projektionsfigur Ahasver geht auf ein Volksbuch von 1694 zurück und wurde über die nachfolgenden Jahrhunderte erweitert. Die ihr zugeschriebenen antisemitischen Eigenschaften korrelieren mit einer Diasporakonzeption als negativem Zustand: Weil er Jesus einen Platz zum Rasten verwehrte, so die Erzählung, wird Ahasver gestraft mit Vertreibung, Rastlosigkeit, und einem ewigen Leben. Bereits in der Forschung thematisiert wurden antisemitische Beiträge in Der Eigene, doch auch im Freundschaftsblatt, in dem Alexanders Gedicht erschien, übernimmt auch der Herausgeber Friedrich Radszuweit antisemitische Narrative und Argumentationsmuster, wenn er etwa Magnus Hirschfeld angreift.

Wie sich diese verschiedenen Narrative in den literarischen Diasporaentwürfen in den Zeitschriften der ersten Homosexuellenbewegung zueinander verhalten, möchte ich in meinem Promotionsprojekt ergründen, das sich als Beitrag zur Erforschung der Kulturgeschichte der Sexualität in deutsch-jüdischer Literatur versteht.

 

Literatur

Battegay, Caspar: Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und die „jüdische Frage“. Göttingen 2018.

von Braun, Christina: Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft. In: Handbuch Jüdische Studien. Hrsg. von dies., Micha Brumlik. Köln/Weimar/Wien 2018, S. 15–58.

Feierstein, Liliana Ruth: Diaspora. In: Handbuch Jüdische Studien. Hrsg. von Christina von Braun, Micha Brumlik. Köln/Weimar/Wien 2018, S. 99–110.

Keilson-Lauritz, Marita: Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene. Berlin 1997.

Micheler, Stefan: Zeitschriften, Verbände und Lokale gleichgeschlechtlich begehrender Menschen in der Weimarer Republik. Online-Publikation 2008, www.stefanmicheler.de/zvlggbm/stm_zvlggbm.pdf.

 

Bildcredit: Titelseite von „Der Eigene“, Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin: Kg 1195:1-2:F4 ; CC-by-nc-sa.

 

Liesa Hellmann studierte Deutsche Literatur und Gender Studies im Bachelor sowie Deutsche Literatur im Master an der Humboldt-Universität zu Berlin. Während ihres Studiums arbeitete sie an der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität am Aufbau eines Archives zur Kulturgeschichte von HIV und Aids. Nach einem journalistischen Volontariat bei einer Tageszeitung kehrte sie 2020 für ihre Dissertation an die Forschungsstelle zurück.