Familie bleibt relevant – dieses Statement zieht sich als Fazit durch die internationale Konferenz „Vielfältige Familienformen: Elternschaft und Familie/n jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit“. Zwei Tage lang haben Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus verschiedenen Ländern und Disziplinen über das Thema vielfältige Familienformen geredet, diskutiert und gestritten. Doch worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Familie sprechen? Welche neuen Begriffe oder Begrifflichkeiten bieten sich an, um die Vielfältigkeit von familialen Lebenskonzepten zu beschreiben? Welche Möglichkeiten haben wir, Familie jenseits ihres (hetero)normativen und bürgerlichen Gerüsts zu denken? Inwiefern ist Familie nicht nur eine weitere Form der Sorgebeziehung? Was macht sie – im Vergleich zu anderen Beziehungen – so besonders?
Plurale Perspektiven und vielfältige Praktiken
Die Tagung am ZtG vom 7.-8. Oktober 2021 war sowohl Abschluss des DFG-Projektes „Ambivalente Anerkennungsordnung. Doing reproduction und doing family jenseits der ‚Normalfamilie‘“ (kurz: VielFam) als auch Anfangspunkt für neue Diskussionen und Perspektiven auf Elternschaft. Der inter- und transdisziplinäre Blick der Tagung legte eine Vielzahl an Möglichkeiten, Familie zu leben und zu denken, offen. Mit vielfältige Familien gemeint sind queere Familien, multilokale Familien, Freundschafen, Patchwork Familien und vieles mehr. In über zehn verschiedenen Panels und fünf Keynotes wurden unter anderem Aspekte von medialer und visueller Aushandlung von Geschlecht, Elternschaft, Geschlecht und Migration, Leihmutterschaft, Männlichkeit, multilokales Sorgen (Familien, die an mehreren Orten gleichzeitig leben), Monogamie und Liebe diskutiert. Diese Pluralität beschrieb Mona Motakef, Projektleiterin und Mitorganisatorin als neuen „common sense“: Die Vielfältigkeit von Familie ist normal geworden. Doch die Tagung machte deutlich, dass, obwohl die bürgerliche Kleinfamilie an Selbstverständlichkeit eingebüßt hat, sie als Norm bestehen bleibt – sowohl rechtlich als auch gesellschaftlich. So ist auf der einen Seite die Pluralisierung zum common sense geworden, doch Projektleiterin und Mitorganisatorin Almut Peukert verwies darauf, dass auf der anderen Seite „some families are still more equal than others“. Diese gleichzeitige Thematisierung von Vielfalt und Ungleichheit zeichnete die Diskussionen der Tagung aus.
Performativität und Anerkennung
Nach zwei Tagungstagen blieb der Eindruck, dass man an dem Konzept Heteronormativität nicht vorbeikommt. Vielfältige Familien werden zwar teilweise anerkannt, aber eben nicht immer, nicht von allen und nicht in allen Aspekten. Obwohl die wenigsten Familien der strengen Norm der bürgerlichen Familie entsprechen, bestimmt diese Norm den Diskurs um Familie. Viele Vorträge zeigten, wie Familien mit den engen Vorgaben, was Familie ist und was nicht zu kämpfen haben. Die Soziologinnen des DFG-Projekts VielFam (Almut Peukert, Mona Motakef, Christine Wimbauer, Julia Teschlade und Leoni Linek) rahmten dies in ihrer Keynote als ambivalente Anerkennungsordnung. LGBT*Q Familien werden zunehmend sichtbar und ihre rechtliche Gleichstellung nimmt zu. Diese Einschlüsse sind allerdings ambivalent. Die Keynote zeigte, wie rechtliche Ungleichheiten fortbestehen und sich diese in den Familienalltag von Familien jenseits der heterosexuellen Norm einschreiben und für sie relevant werden. Dies zeigt sich vor allem im familialen Alltag, in dem die Familien durch Normalisierungshandeln versuchen, als „normale“ Familie gesehen und anerkannt zu werden. Um dieses doing family der vielfältigen Familien zu verstehen, reicht es deshalb nicht aus, die Familienpraxen zu analysieren. Die Forscher*innen betonten, dass diese Praxen erst aus dem Kontext der rechtlichen und gesellschaftlichen Situation heraus in ihrer Komplexität und Verwobenheit verstanden werden können. Wie aus der Keynote von Michelle Cottier „Neue Grundlagen für das Abstammungsrecht in Europa“ deutlich wurde, ist der rechtliche Kontext in Europa ein heteronormativer Kontext. Doch so viele Beschränkungen das aktuelle Familienrecht auch für LGBTQ*-Familien mit sich bringt, so viel Raum für Veränderung ist auch da. Diesen Kontext bilden aber nicht nur der Staat und das Recht, sondern auch gesellschaftliche Normen. Besonders relevant machten die Forscher*innen des DFG-Projektes in diesem Kontext die Norm des „Paarseins“ und der Kindzentrierung. Sollte eine Kritik an Heteronormativität also umfassender gedacht werden? Denn normative Setzungen wie, dass gute Eltern ein Paar sein und/oder ihr Leben nach ihren Kindern ausrichten sollten, schließen eine Vielzahl anderer Familienkonstellation von rechtlicher wie gesellschaftlicher Anerkennung und Absicherung aus.
Heteronormativität intersektional begreifen
Die bürgerliche Familie ist nicht nur ein heterosexuelles, sondern auch ein weißes Konzept, das auf den Grundfesten der wohlhabenden Mittelschicht aufbaut. Heteronormativität zu dekonstruieren bedeutet deswegen auch immer, intersektional zu denken und Reproduktionsverhältnisse zu thematisieren – also nach den gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen. Diese Verschränkung von race, Sexualität, Gender und Klasse im Heteronormativen wurde u.a. in dem Panel zu „Crossing Borders“ mit Urmila Goel und Irene Tuzi sowie in der Keynote „Transnational Assisted Reproduction and the strategic whiteness of desires“ von Amrita Pande sichtbar. Eine intersektionale Perspektive auf die Frage von Klasse/Schicht und Familie bot der Vortrag von Caroline Arni zu „Elementen einer politischen Ökonomie der Mutterschaft“. Arni argumentierte, dass für eine gelingende Mutterschaft finanzielle Sicherheit die wichtigste Grundlage sei. Diese Sicherheit müsse Grundrecht aller Eltern und Kinder werden. Mit Rückgriff auf frühsozialistische Theorien versucht Arni einen neuen Entwurf von Mutterschaft, der diese nicht biologisch denkt, – wie dies gelingen kann, ist eine spannende Frage.
Epistemic break – Familie neu denken oder konkret denken
Die Keynote von Brian Heaphy fasste am Ende der Tagung die zu Beginn aufgekommenen Fragen noch einmal zusammen: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Familie reden? Heaphy forderte eine erkenntnistheoretische Intervention: „We need an epistemic break“. Diese Intervention ist keine primär politische oder rechtliche, sondern es geht um erkenntnistheoretische Fragen: Wie weit müssen wir den Begriff der Familie öffnen, um den diversen Praxen und Lebensweisen von Individuen gerecht zu werden? Wird der Begriff dabei bis zur Bedeutungslosigkeit ausgehöhlt? Oder ist das vielleicht sogar das Ziel? Heaphy ermutigte, den Blick auf die Praxen zu richten und auf die im Alltag bedeutsamen Beziehungen. Ein sehr breiter Begriff von Familie, bei dem alle ihre Familie für sich selbst und unabhängig vom gesellschaftlichen und historischen Kontext definieren, wäre zu individualistisch. Spätestens seit den 68-er Jahren ist klar, dass Familie nicht privat, sondern höchst politisch ist. Auch Selbstreflexivität allein reicht für eine Neu-Definierung von Familie nicht aus. Es ist relevant zu verstehen, wie aus Beziehungen Familien werden, die auch als solche anerkannt werden und auf welcher Grundlage das geschieht. Laut Heaphy müssen wir als Gender- und Familien-Forscher*innen, als Aktivist*innen und als Familienmitglieder kollektive Praxen finden, um Familie neu zu denken und neu zu entwerfen.
Literatur
Heaphy, B. (2017). Reflexive Convention: Civil Partnership, Marriage and Family. British Journal of Sociology, 69(3), 626-646. https://doi.org/10.1111/1468-4446.12308
Nay, Yv E (2019): Die heterosexuelle Familie als Norm: Das heteronormative Regime der rechtlichen Regulierung gleichgeschlechtlicher Elternschaft, In: Sozial extra, 2019-10-30, Vol.43 (6), Springer Fachmedien S.372-375
Pande Amrita (2021). Mix or Match?”: Transnational fertility industry and White Desirability. Medical Anthropology.
Peukert, Almut; Teschlade, Julia; Motakef, Mona; Wimbauer, Christine; Holzleithner, Elisabeth (2020) (Hrsg.): Elternschaft und Familie/n jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit. Sonderheft 5 der Zeitschrift GENDER. Opladen: Barbara Budrich.
Wimbauer, Christine (2021): Co-Parenting und die Zukunft der Liebe. Über post-romantische Elternschaft. transcript Verlag.
Elena Marie Mayeres studiert im Master Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin mit dem Schwerpunkt „Migration und die urbane Welt“ und Interdisziplinäre Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Sie war als SHK im DFG-Forschungsprojekt Ambivalente Anerkennungsordnung. Doing reproduction und doing family jenseits der ‚Normalfamilie‘ angestellt und arbeitet zu den Themen feministische Theorie, soziale Ungleichheit sowie Stadt- und Raumforschung.