Das Format #AusDemSeminarraum bietet die Gelegenheit, Lehr- und Studienerfahrungen in den Gender Studiengängen an der Humboldt-Universität zu Berlin zu reflektieren und darüber zu berichten. Die Gender Studies an der HU bieten seit mehr als zwanzig Jahren transdisziplinäre, intersektionale und wissenskritische Lehre an. Daraus erwachsen sind gefestigte Netzwerke und vielfältiges Erfahrungswissen, von dem die Gestaltung der Lehrveranstaltungen in jedem Semester profitieren. Zugleich bleiben Lehr- und Lernprozesse lebendig, sie stellen sich aktuellen Herausforderungen und fordern neue Gestaltungsweisen, sie entdecken innovative Themen und vielfältige Herangehensweisen und sind oftmals gekennzeichnet vom herausragenden Engagement aller Beteiligten. Wer sich für die Lehre in den Gender Studies interessiert, wird hier Anregungen finden.
Als queer positionierter Mensch sind Bindungen für mich sowohl im privaten und politischen Bereich als auch in meiner Forschung ein wiederkehrendes Motiv. Was normativ aufgeladene Begriffe, wie Familie, Freund:innenschaft oder Liebe bedeuten und welche Label die Bindungen im Leben queerer Menschen haben, sind oft geführte Gespräche und Analysen – sowohl am Küchentisch als auch in meiner Masterarbeit. Hier habe ich problemzentrierte Interviews mit sich als queer positionierten Menschen geführt und danach gefragt, wie diese ihre Bindungen zu anderen Menschen definieren und ausgestalten, welche Bedeutung Queerness als Identität oder Konzept in diesen hat und welche Konflikte sie innerhalb ihrer Bindungen oder diese betreffend erfahren.
Um meinen Interviewpartner:innen möglichst viel Raum für ihre eigenen Erfahrungen und Sichtweisen zu geben, habe ich mich für den Begriff der „queeren Bindungen“ entschieden, in Anlehnung an Joshua J. Weiner und Damon Young (vgl. Weiner/Young 2011). So unterschiedlich die Bindungen der Menschen sind, die ich interviewte, griffen sie doch oft Ideen auf, mit denen sich Aktivist:innen und Forscher:innen schon vor mir beschäftigt haben – Polyamorie, Herkunfts- und Wahlfamilien, Elternschaft und Sorgearbeitskonzepte sowie Erfahrungen mit Homo- und Trans*phobie innerhalb einer heteronormativen Gesellschaft. Ich beschloss daher, nach meinem Abschluss diesen Suchbewegungen in einem Lehrauftrag am ZtG, gemeinsam mit Bachelor-Studierenden, mehr Raum zu geben.
„Queer as in…“ Heteronormativitätskritik, Intersektionalität und Transdisziplinarität
Grundlegend für mein transdisziplinär ausgerichtetes Seminar sind Ansätze der Queer und Kinship Studies, die Gender, Sexualität und Verwandtschaft als gesellschaftlich konstruiert sowie normiert herausstellen und diese mit anderen Prozessen systematischer Unterdrückung, wie Rassifizierung, Klasse und Behinderungen, intersektional verknüpfen. Dabei lasen und diskutierten wir Texte aus Anthropologie, Soziologie, Medien- und Kulturwissenschaften, den Asian American Studies und US-amerikanischer Literaturwissenschaft. Es ging um Fragen der queeren Familiengründungen, der Ausgestaltung und dem Scheitern von Bindungen, dem Fortdauern queerer Communitys und kulturellem Erbe, Diskriminierungserfahrungen, Realitäten queerer Elternschaft und mediale Repräsentationen. Unter anderem diskutierten wir Konzepte und Ideen, wie Wahlverwandtschaft, Familie, Zugehörigkeit, Affekte, transnationale Adoption, soziale und biologische Reproduktion, Behinderung und Community.
Jede:r Teilnehmer:in erhielt im Laufe des Semesters die Möglichkeit, sich entweder in Form einer Präsentation oder eines Abstracts intensiver mit dem Thema auseinander zu setzen. Interessanterweise entschieden sich die meisten Studierenden dafür, ein Abstract zu verfassen. Die Seminarleistungen verteilte ich wöchentlich im Kurs und ermunterte, schriftlich anonymes Feedback zu formulieren, das ich einsammelte und den Verfasser:innen überreichte. Alle Autor:innen bekamen auch von mir ein Feedback. Dieses Vorgehen wurde gemeinsam miteinander beschlossen und engagiert umgesetzt.
Neben der offenen Diskussion im Plenum und Impulsrunden nutzte ich wiederkehrende Fragen, um einen Austausch und strukturierte Analyse anzuregen: Was hat dir gut an dem Text gefallen? Was war herausfordernd? Welche offenen Fragen hast du?
Oft initiierte ich Gruppen- oder Partner:innenarbeiten, um eine niedrigschwellige vertiefende Auseinandersetzung mit dem Text zu ermöglichen. Die Tafel wurde zu einem Ort des Austauschs, an dem wir Ergebnisse sammelten und zusammenfassten. Eine Sitzung zum Ende des Semesters war ausschließlich den Studierenden vorbehalten. Hier erhielten eigene Themen, Texte und Präsentationsformen einen Raum.
„We are family…”? Zwischen total antisozial und medienwirksam angepasst
Bindungen zwischen Menschen, die sich nicht in eine Gesellschaft einfügen, in der Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit die Norm darstellen, gab es schon immer, jedoch wurden und werden diese oft entwahrgenommen – also unsichtbar gemacht, unterdrückt und letztlich vergessen. Sara Ahmed beschreibt diese Erfahrungen von Ausschluss, Isolation und Sanktion für queere Menschen als Discomfort. Hier liegt auch ihre Kritik an den Queer Studies:
“Such lives would not desire access to comfort […]. Ideally, they would not have families, get married, settle down into unthinking coupledom, give birth to and raise children, join neighbourhood watch, or pray for the nation in times of war” (Ahmed. 2004: 149).
Zugang zu mehr Comfort ist jedoch verständlicherweise auch Teil von queerem Aktivismus. So wurde die Spannung zwischen dem Wunsch nach Rechten für queere Bindungen und Suchbewegungen nach alternativen Formen von Zusammenleben oft in persönlichen Erzählungen und der Textanalyse im Kurs thematisiert. Die Möglichkeit, zu heiraten, Kinder zu bekommen und zu adoptieren sowie medial repräsentiert zu werden, haben queeres Leben und queere Bindungen grundsätzlich verändert. Der Zugang zu diesen Privilegien pendelt dabei zwischen Strategie, Assimilation und Ablehnung.
Kath Westons 1991 publizierte Studie über schwule und lesbische Wahlfamilien beleuchtet Aushandlungen von Intimität jenseits dieser Möglichkeiten und bildete eine wichtige Grundlage für unseren Seminarplan. Die Erfahrungen von Ablehnung in Herkunftsfamilien, aber auch lebensnotwendige Unterstützung in Zeiten der HIV/AIDS-Krise führten zu Familienkonstellationen, in denen Liebhaber:innen, Freund:innen, Expartner:innen sowie weitere signifikante Andere einen wichtigen Platz einnahmen und zum Teil lebensnotwendige Fürsorgearbeit leisteten. Zugleich sind queere Bindungen und Communitys Räume, in denen Reproduktion ohne biologische Verwandtschaft funktionieren kann. Elisabeth Freemann nutzt in diesem Zusammenhang Pierre Bourdieus Begriff des Habitus, um herauszustellen, wie kulturelle Praktiken (beispielsweise Drag, Fotografie oder Cruising) über Generationen hinweg formen, verbinden und fortdauern (Freeman. 2007: 305).
Im Kontext der Zunahme des Comfort für queere Menschen, stellte ich den Kursteilnehmer:innen immer auch die Frage, wer diesen in Anspruch nehmen kann, wer gesehen wird und welche Handlungen als familiär wahrgenommen werden. Die Textauswahl thematisierte daher verschiedene Machtverhältnisse aus unterschiedlichen Positionierungen heraus:
David Eng beispielsweise arbeitet die Spannung, die entsteht, wenn weiße Paare Kinder of Color adoptieren und diese mit Rassismuserfahrungen konfrontieren unter dem Begriff Racial Melancholia kritisch-psychoanalytisch heraus (Eng. 2010). Harold Braswell beschreibt die allmonatlichen, von chaotischem Putzen begleiteten Besuche seiner Mutter mit Behinderungen, ihre selbstgemalten Karten und freiwillige Abgabe der Fürsorge an seine Großmutter als Akte der Mütterlichkeit, nicht der Vernachlässigung (Braswell. 2014: 247). Ulrika Dahl stellt fest, dass Geschichten des Scheiterns von queeren Bindungen kaum Raum in den empowernden Narrativen über Regenbogenfamilien erhalten und lesbische Mütter in Schweden auch rassistische Narrative über Tradition und Nation reproduzieren können.
Wie Queers Bindungen leben und was eine queere Bindung ist, kann nicht losgelöst von historischen und politischen Kontexten sowie Kämpfen um Anerkennung und Sicherheit betrachtet werden. Bindungen jenseits der Heteronorm, so das affektiv geladene Fazit: „Not gay as in happy, but queer as in Fuck you“.
Literatur
- Ahmed, Sara (2004): Queer Feelings. In: The Cultural Politics of Emotions. Routledge. New York/Oxon. 144-167
- Braswell, Harold (2014): My Two Moms: Disability, Queer Kinship, and the Maternal Subject. Hypatia. Ausgabe 30. 234-250
- Eng, David L. (2010): The Prospect of Kinship. In: The Feeling of Kinship: Queer Liberalism and the Racialization of Intimacy. Duke University Press. Durham/London. 138-165
- Freeman, Elisabeth (2007): Queer Belongings. Kinship Theory and Queer Theory. In: Haggerty, George E./ McGarry, Molly (Hg.): A Companion to Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, and Queer Studies. Blackwell Publishing. Malden/ Oxford/ Victoria. 295-314
- Young, Damon/ Weiner, Joshua J. (2011): Queer Bonds. Duke University Press. Ausgabe 17 (2-3). 223-241
Marie Springborn hat als Logopädin gearbeitet, einen Bachelor in den Erziehungswissenschaften und einen Master in den Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert. Momentan arbeitet Marie am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien und hat im Wintersemester 2019/20 ein Seminar über queere Bindungen angeboten.