Ich habe ein ziemlich kleines Zimmer in einer ziemlich großen WG im Berliner Wedding. Da steht ein schmales Bett an der Wand, darüber an der Wand stapeln sich viele Bücher wild durcheinander auf viel zu kleinen Regalbrettern. Regelmäßig fallen mir welche nachts auf den Bauch und ich nehme mir fluchend vor, entweder wieder mal auszusortieren oder mehr Regalbretter anzubringen. Seit ich den Master abgeschlossen habe und zwischenzeitlich der Überzeugung war, der Wissenschaft den Rücken kehren zu wollen, habe ich meinen kleinen Schreibtisch aus den 7m² verbannt und an seiner Stelle eine gemütliche Leseecke mit Sessel und Stehlampe eingerichtet. Eigentlich ein sehr schönes kleines Zimmer. Manchmal fühle ich mich wie in einem Nest darin. Es ist so klein, dass alles genau seinen Platz haben muss. Schwierig wird es dann, wenn da etwas Neues hinzukommt.
Aus_Packen
So wie letztens, als ich ein riesiges Paket bekam, in dem 50 Exemplare meines neuen Buches lagen. Beim Auspacken wurde es zum ersten Mal richtig real, dieses Buch. Positive Mutterschaft: Vom Leben mit Kind und HIV, erschienen bei Edition Assemblage, ist eine Collage unterschiedlicher Stimmen und Erfahrungen zum Thema HIV und Mutterschaft. Entstanden ist es in Kooperation mit meinen Interviewpartnerinnen und verschiedenen HIV-Organisationen. Es ist ein Versuch, Verbindungen aufzuzeigen zwischen den Alltagskämpfen gegen Stigmatisierung, Wut und schlechtem Gewissen, welche positive Mütter immer wieder erleben müssen und den Anforderungen und Vorstellungen, die moderne Mutterideale und gesellschaftliche Normen rund um Elternsein produzieren. Die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit Stigma und Mutterschaftsnormen, die HIV-positive Mütter an den Tag legen (müssen), können auch für andere Formen prekarisierter Mutterschaft interessant und hilfreich sein. So sollte auch über das Thema HIV hinaus ein Nachdenken über gesellschaftliche Anforderungen an Mutterschaft und Elternschaft angeregt werden.
Aus_Sprechen
In meiner Forschung sind mir viele spannende Impulse begegnet. Ich habe viel über Sprache nachgedacht: Sprache, die nicht nur ein Erzählen von einer eigenen Erfahrung ist, sondern ein In-Existenz-Rufen einer bestimmten Vorstellung dieser Erfahrung. Es ist also auch immer eine Projektion einer bestimmten Vorstellung von sich selbst nach außen. Deswegen ist es so spannend, Menschen zuzuhören. Und deswegen kann ich andere Studierende auch nur dazu ermutigen, spannenden (Forschungs-)Fragen mit Interviews zu begegnen. Mir ist zum Beispiel die Ambivalenz von Engagement durch die Geschichten HIV-positiver Mütter deutlich geworden. Der offene Umgang mit der eigenen Krankheit kann einerseits zu einem Gefühl von Selbstermächtigung führen, da ich im Erzählen der eigenen Geschichte selbst bestimmen kann, wie sie geht. Gleichzeitig werden die Bilder und Vorstellungen zu guter Mutterschaft und zu HIV pluralisiert, wenn wir mehr Geschichten aus Positionen prekarisierter Mutterschaft hören. Andererseits bedeutet das Offenlegen der Krankheit auch, die eigene Geschichte öffentlich verhandelbar zu machen. Nicht nur die Mütter machen sich damit verletzlich. Die Sorge um Nachteile für ihre Kinder ist bei positiven Eltern besonders groß und hält viele davon ab, offen mit ihrer Diagnose umzugehen.
Aus_Wirken
Das Buch ist eine Art Mosaik. Es enthält, neben meiner überarbeiteten Masterarbeit, Gastbeiträge von positiven Müttern und von Menschen, die zum Thema HIV arbeiten und die sich seit Jahren in dem Bereich engagieren. Und dann soll da auf dem Titel einfach nur mein Name stehen? Diese Unsicherheit in Bezug auf meine Sprecherinnenposition als Autorin rührt sicherlich auch von meinem Studium der Gender Studies her. So viel haben wir über Macht und Privilegien gesprochen, sei es im Kontext von Rassismus, Heteronormativität, Ableismus oder Sexismus. Bei meinen Interviewpartnerinnen bin ich mit dem Vorhaben, erst einmal eine Masterarbeit zum Thema HIV-positive Mutterschaft zu schreiben und später dann ein Buch daraus zu machen, auf positives Feedback gestoßen. Immer wieder habe ich gehört, dass es da noch viel zu tun gibt, dass auch innerhalb HIV-aktivistischer Kreise Frauen* und Mütter* nach wie vor wenig sichtbar sind.
Aus_Schwärmen
Um mit mehr Menschen über Stigmatisierung, Ableismus und Mutterschaftsideale ins Gespräch zu kommen, organisiere ich Lesungen und Veranstaltungen – zuletzt gemeinsam mit Autor_innen des Buches Nicht nur Mütter waren schwanger: Unerhörte Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt. Diese Zusammenarbeit eröffnet neue spannende Perspektiven und hilft, das Thema HIV-positive Mutterschaft mit Themen wie reproduktive Gerechtigkeit, Diskriminierung und gesellschaftliche Normen rund um Elternschaft in Verbindung zu setzen. Denn neben dem Zuhören ist auch das Bilden von Allianzen ein wichtiger Schritt hin zu einer gerechteren Welt. HIV-positive Mütter als Beispiel für prekarisierte Mutterschaft ist ein sehr spannender Forschungsgegenstand. Wie Patricia Lather und Chris Smithies 1997 in Troubling the Angels: Women living with HIV/Aids schreiben, geht es beim Thema HIV/AIDS „genau so sehr um die Kategorien innen/außen, wir/sie, unschuldig/schuldig, wie es um Viren und Gesundheitsversorgung geht.“(xiv). Und wie viele Felder fallen euch Leser_innen jetzt gerade ein, worauf das auch zutrifft? Ich denke eine Menge. Und auch deshalb ist HIV nichts Antiquiertes; eine Epidemie der 1980er und 90er, die Dank medizinischen Fortschritts heutzutage gut behandelbar und deshalb nicht mehr interessant ist. Auf Grund der anhaltenden Stigmatisierung bleibt HIV ein Spiegel gesellschaftlicher Normierungs- und Abwertungsprozesse.
Aus_Blicken
Jetzt sehe ich jedes Mal, wenn ich in mein Zimmer komme, diesen Stapel Bücher. Wenn ich Veranstaltungen mache, nehme ich immer ein paar Exemplare mit und verkaufe sie dann vor Ort. So wird der Stapel langsam kleiner. Und auch, wenn er die scheinbare Ordnung in meinem Zimmer so durcheinandergebracht hat, werde ich bestimmt traurig sein, wenn er weg ist, denn jedes Mal, wenn ich ihn sehe, muss ich staunen. Vor fünf Jahren habe ich angefangen Gender Studies zu studieren. Dazwischen ist so viel passiert: Ich habe ein Kind bekommen, einen Job in einem Antigewaltprojekt für Frauen angenommen, als studentische Hilfskraft gearbeitet und damit Lust auf mehr Wissenschaft bekommen und zuletzt nun dieses Buch veröffentlicht. Ich bin dankbar für die vielen Erfahrungen, die ich in diesen letzten Jahren machen konnte. Und die Lust auf Wissenschaft? Na, die hat mich doch wieder gepackt. Vielleicht muss meine Leseecke also doch bald wieder dem Schreibtisch weichen. Alles bleibt dynamisch, auch auf 7m².
Lea Dickopf hat Soziologie, Politikwissenschaften und Gender Studies an der WWU Münster und am ZtG an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Sie arbeitet in der Hestia Wohnungsvermittlung für Frauen aus Gewaltsituationen und bereitet nebenbei ein Promotionsprojekt zum Thema Mutterschaft und Behinderung vor.