Anna Katharina Mangold ist Professorin für Europarecht an der Universität Flensburg und Mitherausgeberin des Verfassungsblogs. Ende März 2020 hat sie über den Verteiler des Feministischen Juristinnentags (FJT) einen Call geschickt: Gesucht sind feministische und intersektionale Perspektiven zu den aktuellen Corona-Maßnahmen. Ich habe sie – über Videochat – zu den Hintergründen ihres Aufrufs gefragt.
Petra Sußner
Zu Beginn des Corona-Shutdowns ist eine Nachricht von dir über den Verteiler des FJT gekommen: Du suchst nach feministischen und intersektionalen Texten zum Thema Corona. Warum?
Ja, das ist richtig. Dazu muss man wissen, dass es wenige institutionalisierte Orte gibt, an denen feministische Rechtswissenschaft stattfindet und der FJT ist der wichtigste von diesen Orten. Neben dem Treffen einmal im Jahr sorgt der E-Mail-Verteiler für Austausch, und gerade jetzt ist er besonders wichtig, weil das FJT-Treffen Corona-bedingt abgesagt werden musste.
Dass ich dort Expertise feministisch orientierter Jurist:innen abfrage, liegt nahe. Als Mitherausgeberin des Verfassungsblogs betreue ich Themen der feministischen Rechtswissenschaften/Legal Gender Studies, und es ist es mir ein besonderes Anliegen, diese Themen prominent unterzubringen. Das entspricht meiner Strategie, sie aus den Nischen herauszuholen und in den Mainstream einzubringen. Im englischsprachigen rechtswissenschaftlichen Diskurs geschieht das schon viel selbstverständlicher. In den wichtigsten rechtswissenschaftlichen Journals finden sich Texte, die mit feministischen/Gender Studies Methoden – intersektional – denken und arbeiten. Eine Möglichkeit, den Mainstream-Diskurs auch im deutschsprachigen Raum zu verändern, ist, Texte auf einem niedrigschwelligen und trotzdem anerkannten Medium zu veröffentlichen, wie dem Verfassungsblog.
Der Verfassungsblog veröffentlicht ja im Moment fast stündlich Texte zum Thema Corona. Siehst du Corona auch als Chance, um Geschlechterthemen neu zu diskutieren? Oder eher als Hindernis?
Ich würde sagen, jede Krise beinhaltet auch die Chance, das Gewohnte zu verlassen. Die Krise erschüttert etwas. Sie bedeutet, dass wir als Gesellschaft aus dem Normalzustand heraustreten und neu denken, wie wir uns bestimmten Phänomenen zuwenden. Das wäre meine Herangehensweise – ich bin grundsätzlich sehr optimistisch.
Diese Chancen zeigen sich auch an vielen Beispielen. Ich habe vor unserem Gespräch gerade im Radio gehört, dass Hubertus Heil einen stärker rechtlich verankerten Mindestlohn für Pflegekräfte möchte – weil das geradezu lächerlich sei – ich glaube, so war die Formulierung –, was die Pflegekräfte bekommen, dass überhaupt nur 10 Prozent von ihnen überhaupt tariflich entlohnt werden. Ach was, habe ich mir da gedacht, auf einmal sieht der Minister diese Probleme, die von den Gender Studies natürlich schon lange adressiert werden. Care, Pflegeberufe, die Arbeit in den Supermärkten – das sind Themen, die stark geschlechtersegregiert besetzt sind, und die Krise spült diese Dimension an die Oberfläche.
Das ist auch schon bemerkt worden, dass die Corona-Krise eine geschlechtlich codierte Krise ist. Die Berufe, die jetzt als systemrelevant gelten, sind bis zu 90 Prozent weiblich besetzt. So stellt sich die Frage der Geschlechterverteilung von Arbeit völlig neu. Das ist auch eine Chance, hier noch einmal rechtlich nachzujustieren. In Frage kommen zum Beispiel bundesweit einheitliche Tarifverträge. Sie sind bisher nicht auf alle Berufe ausgedehnt worden, manche sind im politischen Diskurs eben einfach zu wenig einflussreich. Hier sehen wir, dass sich die geschlechtlich segregierte Verteilungslogik auch im Gehört-Werden und der Wahrnehmung von Sprachberechtigung im politischen Diskurs niederschlägt. Von daher birgt die Corona Krise eine große Chance, Fragen von Geschlechtergerechtigkeit neu zu stellen und auch neue Antworten zu finden.
Ich möchte gerne einhaken bei der Geschlechtercodierung. Es gibt die Kritik, dass unser Geschlechterdenken in der Krise wieder in ein binäres zurückfällt, obwohl auch in der Rechtspraxis schon ein vielfältigerer Geschlechterbegriff erreicht wurde – Stichwort dritte Option. Wie siehst du das? Was können wir aus Perspektive der Legal Gender Studies tun; wie können wir zum Beispiel Schwierigkeiten von Inter- und Transpersonen in die Debatte um Geschlecht und Corona hineinnehmen?
Das ist eine komplexe Frage, sie beinhaltet zwei Elemente.
Zum Ersten: Ich bin ziemlich involviert in die inter- und transrechtlichen Fragen, die sich im Moment stellen. Aber ich vertrete trotzdem die Auffassung, dass wir das Grundproblem der ungleichen Verteilung von Macht zwischen Männern und Frauen anhaltend thematisieren müssen. Es gibt Menschen, die jenseits dieser Grenzziehung existieren, die sie unterlaufen und in Frage stellen. Die Erfolge, die etwa durch das Urteil zur Dritten Option erreicht worden sind, müssen natürlich weiter verteidigt werden. Aber das bedeutet nicht, dass die Kategorien männlich und weiblich keine wichtige Demarkationslinie von Verteilungskämpfen in der Gesellschaft mehr darstellten. Wir sind nicht der Verantwortung enthoben, diese geschlechtlichen Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Meine Arbeit ist da schon immer parallel gelaufen.
Zum zweiten Element deiner Frage: Wenn wir uns jetzt wieder stärker auf Männern und Frauen beziehen, bei Frauen dann angeblich typisch weibliche, zugewandte Verantwortungen hervorheben – fallen wir dann in die 1950er Jahre zurück? Ich glaube nicht. In kritischer Absicht zu thematisieren, wer welche Arbeit in dieser Krise leistet, bedeutet nicht der Rückkehr zu überkommenen Geschlechterrollen das Wort zu reden.
Im Gegenteil, wir sehen schon, dass Frauen das Wort ergreifen, wenn es um die intellektuelle Interpretation der Krise geht. Das ist weit weg von den 1950er Jahren. Wichtig ist das insbesondere deshalb, weil es einen Unterschied macht, wo diejenigen verortet sind, die über die Krise sprechen. Konkret: Männer denken vielfach anders über Krise nach als Frauen. Das schließt nicht aus, dass auch Männer bewusst sensibel und geschlechterbewusst oder Frauen von Erkenntnissen der Gender Studies unberührt argumentieren. Alles andere wäre auch erstaunlich, wenn wir dem anti-essentialistischen Geschlechterverständnis der Gender Studies folgen.
Genauso stellt die Krise im Alltag Selbstverständlichkeiten (der 1950er Jahre) in Frage. Es sind momentan die ersten Tage des Lockdowns. Männer, die auf den häuslichen Bereich zurückgeworfen sind, sehen plötzlich, wie anstrengend es ist, sich um Kinder zu kümmern. Das ist schon auch lustig. Ähnlich wie damals, als die Vätermonate eingeführt wurden, als jede Menge Journalisten berichteten, wie man eine Waschmaschine bedient, lesen wir jetzt Berichte darüber, wie es ist, einen ganzen Tag mit Kindern zu verbringen. Eine Erfahrung, die für viele Mütter selbstverständlich ist.
Zusammengefasst: Als Gesellschaft haben wir paradoxe Effekte. Es gilt der alte Satz, dass wir eine Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem beobachten. Während wir von Frauen als den Fürsorglichen hören, sehen wir Männer, die auf einmal ins heimische Reich verbannt sind und sich damit auseinandersetzen müssen, was Care-Tätigkeit ist.
Krise ist also eine Chance, und Weiblichkeit hat viele Geschlechter?
Ein anti-essentialistisches Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit bedeutet, davon auszugehen, dass Frauen, Männer und alle Anderen in geschlechtlich kategorisierten Gruppen nur äußerst grob zusammengefasst werden. Wir sehen ja jetzt auch, dass Frauen in ganz unterschiedlichen Positionen sind. Es gibt die, die an vorderster Front arbeiten, in den Krankenhäusern, im Einzelhandel. Sie setzen sich der Gefahr aus, infiziert zu werden und tragen dadurch dazu bei, dass unsere Gesellschaft weiter funktioniert. Wir sehen umgekehrt eine privilegierte Frau wie mich, die im Home Office arbeiten kann und für die sich auf den ersten Blick wenig ändert. Ich kann in dieser privilegierten Position intellektuelle Überlegungen anstellen, dieses Interview geben, muss keine Kurzarbeit befürchten und keine Minderung meines Lohnes als Professorin.
In diesem Sinn braucht es aus unseren unterschiedlichen Positionen Versuche, die Krise als Chance zu begreifen. Ich möchte betonen, dass die Krise eine Chance sein kann, dass das aber keineswegs ein Selbstläufer ist. Wir beobachten gleichzeitig Ungleichzeitiges. Wie immer gibt es ein Ringen um Deutungshoheit über gesellschaftliche Verhältnisse. Ob wir – verstanden als diejenigen mit emanzipatorischen Ansprüchen – die Chance der Krise am Ende wahrgenommen haben werden oder ob die Beharrungskräfte der kapitalistischen Geschlechterordnung zurückschlagen, kann ich noch nicht sagen. Dass die Krisis automatisch zur Katharsis führt, ist nur im griechischen Drama so vorhersehbar. Im echten Leben müssen wir Chancen ergreifen, argumentieren und uns in Deutungskämpfe begeben. Das ist der kämpferische Aufruf, den ich diesem Interview mitgeben möchte.
Abschließende Frage: Hättest du alle Ressourcen, die du brauchst, und könntest Du damit ein Panel zum Thema Gender und Coronakrise zusammenstellen: Wen würdest du einladen, welche Fragen würdest du stellen? Wer sollte jetzt – inter, trans- oder disziplinär – miteinander sprechen?
Ich finde das eine schwierige Frage, weil die Themen so komplex sind. Man könnte 1000 Aspekte besprechen, was dazu führt, dass eine Paneldiskussion zu jedem Einzelthema sehr oberflächlich bliebe. Oder ein Beispiel dient als Ausgangspunkt, die gegenwärtigen Herausforderungen zu analysieren. Das würde ich lieber tun. An Einzelbeispielen sehen wir nämlich immer auch die Grundfragen.
Was mich gerade interessiert, ist das Verständnis der Grundrechte, die Grundrechtstheorie, die in den Krisenmaßnahmen zugrunde gelegt wird. Im Vordergrund der Rechtswissenschaft und -praxis haben wir gerade ein klar freiheitsrechtliches Modell. Dieser Zugriff stellt die Abwehrfunktion der Grundrechte ins Zentrum. Freiheitsrechte schützen uns davor, dass der Staat übermäßig zugreift. Das wird in der Rechtsdogmatik über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz prozeduralisiert, und da liegen Probleme, die jetzt in der Krisensituation hervortreten: Wenn wir ein hinreichend gewichtiges Gut haben, können wir die Freiheitsrechte nicht gut verteidigen. Denn zum Beispiel gegen den potentiellen Tod von hunderttausenden Menschen infolge Überlastung des Gesundheitssystems können wir unsere Freiheit, im Park in der Sonne zu sitzen, nicht gut als Gegengewicht in Anschlag bringen. Das ist ein strukturelles Problem, das im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz liegt und das aktuell besonders deutlich wird. Darüber würde ich auf meinem Panel gerne sprechen, aber auch darüber, was wir mit einem rein freiheitsrechtlichen Fokus nicht in den Blick bekommen.
Bedenken wir nämlich die gleichheitsrechtliche Dimension der Grundrechte mit, dann wird klar, dass die freiheitsrechtliche Perspektive von einem Idealmenschen ausgeht. Er ist – rein zufällig natürlich – männlich codiert, und ihm ist die Freiheit genommen, in den Park zu gehen. Wenn wir das gleichheitsrechtlich denken, sehen wir, dass ein und derselbe Grundrechtseingriff für unterschiedliche Personengruppen unterschiedlich wirkt. Das Beispiel, dass du, Petra, herausgearbeitet hast, ist, dass es für eine Frau, die in den eigenen vier Wänden von Gewalt bedroht ist, eine noch einmal ganz andere Funktion hat, hinaus in den Park zu gehen und dort andere Menschen zu treffen. Für Gewaltbetroffene – und das sind überwiegend Frauen – sind die eigenen vier Wände oft kein sicherer Ort. Eine andere Gleichheitsanalyse wäre, die Rolle rassistischer Stereotype zu hinterfragen, die jetzt hervortreten. Präsident Trump hat das ziemlich deutlich gemacht, als er von einem „China-Virus“ gesprochen hat. Auf Twitter ließen sich Nachrichten verfolgen, dass asiatisch-stämmige Menschen von ihren Mitbürger:innen im öffentlichen Raum angegriffen wurden, weil sie für Überträger:innen gehalten wurden, was natürlich abwegig ist aus medizinischer Sicht. Schon jetzt gibt es Berichte über möglicherweise rassistische Polizeikontrollen in Parks. Ein und dieselbe Norm wirkt sich auch durch solch diskriminierende Anwendung auf unterschiedliche Personengruppen unterschiedlich aus. Und das würde ich auf meinem Podium gleichheitsrechtlich diskutieren wollen.
Schön fände ich es tatsächlich, das Panel disziplinär zu besetzen. Die Legal Gender Studies bemühen sich, Fremddisziplinen aufzunehmen und wissen, dass es aus rechtswissenschaftlicher Hinsicht hilfreich ist, auf benachbarte Disziplinen zu sehen. Aber solche Fragen, wie die hier skizzierten, sollten zunächst einmal rechtswissenschaftlich diskutiert werden. Ich wäre also für ein rein juristisches Panel. Gerne einladen möchte ich Nora Markard, mit der ich zugegebenermaßen ohnehin viel über diese Themen diskutiere, sowie Elisabeth Holzleithner und Elisabeth Greif; beide aus Österreich. Und ich würde gerne Theresia Degener einladen, um über die noch einmal anderen Sichtweisen von Menschen mit Behinderung zu diskutieren.
Herzlichen Dank für das Interview und alles Gute!
Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, L.L.M. (Cambridge) ist Professorin für Europarecht und Studiengangsleitung des Masterstudiengangs European Studies an der Europa-Universität Flensburg. An der Humboldt Universität zu Berlin war sie Vertretungsprofessorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat sie zuletzt das „Rechtsgutachten zum Verständnis von ‚Varianten der Geschlechtsentwicklung‘ in § 45b Personenstandsgesetz“ verfasst (Co-Autorinnen: Maya Markwald und Dr. Cara Röhner).