‚Varianten der Geschlechtsentwicklung‘? Auslegungsfragen im Personenstandsrecht

Personen mit einer sogenannten ‚Variante der Geschlechtsentwicklung‘ können seit Ende Dezember 2018 ihr Geschlecht im Personenregister als ‚divers‘ eintragen lassen. Doch was ist das eigentlich: eine ‚Variante der Geschlechtsentwicklung‘? Ein neues juristisches Kurzgutachten argumentiert für ein weites Verständnis des Begriffs, das alle Personen jenseits einer cis-normativen Zweigeschlechtlichkeit umfasst. In diesem Beitrag stelle ich als eine der drei Autorinnen des Gutachtens einige Kernaspekte unserer Argumentation zusammenfassend dar.

Eine neue Norm, ein alter Streit

Wie ‚Varianten der Geschlechtsentwicklung‘ ausgelegt werden, entscheidet darüber, welche Menschen in Deutschland nach der geltenden Rechtslage die Möglichkeit bekommen, ihr Geschlecht rechtlich anerkennen zu lassen. Das heißt, das Verständnis von ‚Varianten der Geschlechtsentwicklung‘ ist ein bestimmender Faktor bei der Frage, wer seinen Geschlechtseintrag von dem, der bei Geburt eingetragen wurde, in ‚männlich‘, ‚weiblich‘ oder ‚divers‘ ändern kann oder bestimmen kann, dass der Geschlechtseintrag offen gelassen wird. Der Begriff fand seinen Weg ins einfache deutsche Recht mit der Schaffung von § 45b Personenstandsgesetz (PStG). Mit dieser neuen Norm sollte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Dritten Option umgesetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2017 entschieden, dass ein weiterer positiver Geschlechtseintrag neben dem Offenlassen und den benannten Möglichkeiten ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ im deutschen Personenregister möglich sein muss, solange es eine Pflicht zur Registrierung des Geschlechts gibt. § 45b PStG schien endlich Geschlechtern jenseits der Zweigeschlechtlichkeit, rechtliche Achtung zu versprechen. So nutzten genderqueere Personen verschiedener Identitäten und körperlicher Verfasstheiten von Anfang an die Regelung, um ihr rechtliches Geschlecht ihrem tatsächlichen Geschlecht anzupassen. Ebenso beriefen sich binäre trans*Personen, von denen einige auch intergeschlechtlich sind, auf die Regelung. Davor waren ausschließlich binäre Änderungen des personenstandsrechtlichen Geschlechts möglich. Sie erfolgten über das Verfahren nach dem Transsexuellengesetz und können auch weiterhin auf diesem Weg erfolgen. Das Verfahren über den neuen § 45b Personenstandsgesetz ist aber schneller und kostengünstiger. Zudem sind im Gegensatz zum TSG-Verfahren keine psychiatrischen Gutachten erforderlich. Frei von Pathologisierung ist die Norm dennoch nicht. Voraussetzung für das Verfahren nach § 45b PStG ist die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, die bestätigt, dass bei der antragstellenden Person eine ,Variante der Geschlechtsentwicklung‘ vorliegt. Wegen dieser fortgesetzten Fremdbestimmung stand die Regelung von Beginn an in der Kritik.

Diskriminierende Beschränkungsversuche

Die zuständigen Standesämter reagierten auf die Anträge nach § 45b PStG unterschiedlich. Lehnten sie die Anträge ab, kehrte eine Begründung immer wieder: weil die antragstellende Person nicht inter* sei, gelte § 45b Personenstandsgesetz nicht. Das Bundesinnenministerium griff diese Argumentation auf, als es sich am 10.04.2019 in die uneinheitliche Entscheidungspraxis einmischte. § 22 Abs. 3 PStG und § 45b PStG würden ausschließlich für „intersexuelle Menschen, also Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung, die körperlich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können“ gelten. Erfasst seien solche Diagnosen, „bei denen die Geschlechtschromosomen, das Genitale oder die Gonaden inkongruent sind“. Alle anderen Menschen seien von der Norm nicht erfasst. Für binäre trans*Personen, bei denen keine Diagnose aus dem Feld der Intergeschlechtlichkeit vorliege, gelte ausschließlich das Transsexuellengesetz. Vom Bundesinnenministerium ignoriert, jedoch erheblich: Für nicht-binäre Personen ohne eine Diagnose der Intergeschlechtlichkeit gäbe es dann gar keinen Weg, einen ihrem Geschlecht entsprechenden Geschlechtseintrag zu erreichen.

Multidimensionales Geschlechtsverständnis im Gesetzgebungsprozess

Das Bundesinnenministerium setzte in seinem Rundschreiben ‚Varianten der Geschlechtsentwicklung‘ mit spezifischen Diagnosen gleich, die im Bereich der Intergeschlechtlichkeit liegen. Diese Gleichsetzung ist allerdings weder zwingend noch geboten, wie das Gutachten darlegt. Schon die Gesetzgebungsmaterialien folgen keinem so engen Verständnis. Zwar bezieht sich der Gesetzesentwurf der Bundesregierung wie das Bundesinnenministerium in seinem Rundschreiben auf die somatische Definition der Konsensuskonferenz 2005 in Chicago. Gleichzeitig verweisen die Gesetzgebungsmaterialien jedoch immer wieder auf die Geschlechtsidentität. Die Gesetzesmaterialien zeichnen damit ein multidimensionales Verständnis von Geschlecht, das neben somatischen auch psycho-soziale Aspekte berücksichtigt. Diese beiden Aspekte lassen sich in der Realität kaum so sauber trennen, wie es das Bundesinnenministerium vorgibt. Welcher ausschlaggebend ist, lässt sich aus einer anderen Norm im Personenstandsgesetz ableiten.

Gleichzeitig zur Neueinführung des § 45b Personenstandsgesetz wurde § 22 Abs. 3 PStG von einer Ist- in eine Kann-Regelung geändert. Seit 2013 sah § 22 Abs. 3 PStG vor, dass der registerrechtliche Geschlechtseintrag automatisch offen gelassen wird, wenn ein Kind anhand einer binären Lesart seiner Geschlechtsteile weder dem cis-männlichen noch dem cis-weiblichen Geschlecht zugeordnet werden konnte. Eine subjektive Komponente hatte in dieser zwingenden Vorschrift keinen Platz. Geschlecht wurde als spezifischer körperlicher Befund verstanden. Diese Gleichsetzung hat die Gesetzgebung jetzt aufgehoben. Seit der Gesetzesänderung im Dezember 2018 führt ein als geschlechtlich uneindeutig gelesener Neugeborenenkörper nicht mehr zwangsläufig zu einer bestimmten Eintragung. Nun kann das Kind als ‚weiblich‘, ‚männlich‘ oder ‚divers‘ eingetragen werden oder es kann auf einen Geschlechtseintrag verzichtet werden. Der Gesetzgeber hat damit anerkannt, dass ein körperlicher Befund keinen Aufschluss über das Geschlecht einer Person zulässt.

Selbstbestimmtes Geschlechtsverständnis im Verfassungsrecht

Hinter dem Streit um die Auslegung des Begriffs steht somit auch die Frage, was Geschlecht im Recht ist. Das Bundesinnenministerium propagiert ein spezifisches Wissen über Geschlecht, in dem Geschlecht als zwei voneinander losgelöste, nebeneinanderstehende Komponenten verstanden wird: objektiv biologisch einerseits und subjektiv empfunden andererseits. Rechtliche Anerkennung jenseits der Binarität ‚weiblich-männlich‘ sollen nur die Personen bekommen, bei denen angebliche somatische Objektivität und als subjektiv dargestellte Identität in ihrer Verortung jenseits der Zweigeschlechtlichkeit übereinstimmen. Diese Interpretation widerspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wie das Gutachten aufzeigt. Das Bundesverfassungsgericht vertritt ein Geschlechtsverständnis, in dem die Geschlechtsidentität und damit die Selbstbestimmung die entscheidende Rolle spielt. Als Teil des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht schütze Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz das Finden der eigenen geschlechtlichen Identität. Gerade weil dieser Entwicklungsprozess grundgesetzlich geschützt sei, könne Geschlecht nicht rein somatisch verstanden werden, heißt es dazu in unserem Gutachten. Dieses Verständnis deckt sich mit der Änderung von § 22 Abs. 3 PStG: solange die betroffene Person ihr Geschlecht nicht selbst bestimmen kann, gibt es nicht das eine richtige Geschlecht, das eingetragen werden könnte. Der Beschränkungsversuch des Bundesinnenministeriums steht somit im Konflikt mit dem Geschlechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts und widerspricht der Logik der Gesetzessystematik. Das Gutachten zeigt zudem auf, dass das Bundesinnenministerium mit seinem Geschlechtsverständnis selbst dem medizinischen Diskurs hinterherhinkt, der inzwischen ein Geschlechtsverständnis aufgenommen hat, bei dem die Selbstbestimmung entscheidend ist.

Strafrechtliche Einschüchterungsversuche gegen geschlechtliche Selbstbestimmung

Im Gegensatz zu diesem Geschlechtsverständnis, wie wir es im Gutachten herausgearbeitet haben, verlangt § 45b Abs. 3 PStG, dass Antragstellende eine ärztliche Bescheinigung vorlegen. Sie muss aussagen, dass die antragstellende Person eine ‚Variante der Geschlechtsentwicklung‘ aufweist. Dieses Erfordernis beruht auf der anhaltenden Idee, dass Geschlecht extern erkenn- und überprüfbar sei. In seinem Rundschreiben behauptet das Bundesinnenministerium, dass Ärzt*innen sich wegen des Ausstellens falscher Gesundheitszeugnisse nach § 278 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar machen würden, wenn sie solche Bescheinigungen für Personen ausstellten, von denen sie wüssten, dass keine Inkongruenz der Gonaden, der Geschlechtschromosomen oder des Genitals gegeben sei. Wie das Gutachten zeigt, umfassen ‚Varianten der Geschlechtsentwicklung‘ aber auch alle anderen Abweichungen von der als Normalität gesetzten Zweigeschlechtlichkeit. Hierzu zählen sämtliche nicht-binären Geschlechter ebenso wie binäre Transgeschlechtlichkeit. Lassen sich diese Personen eine ärztliche Bescheinigung über ihr Geschlecht als eine ‚Variante der Geschlechtsentwicklung‘ ausstellen, ist diese Bescheinigung nicht falsch. Das Verhalten der Ärzt*innen ist von einer Strafbarkeit weit entfernt.

Deutungshoheit Dritter in Frage stellen

Zum Schluss bleibt klarstellend festzuhalten: Weder Ärzt*innen noch Standesbeamt*innen können das Geschlecht einer Person von außen, scheinbar objektiv bestimmen. Dieser Grundsatz der geschlechtlichen Selbstbestimmung ist auch ein verfassungsrechtlicher, wie unser Gutachten aufzeigt. § 45b PStG ist so zu verstehen, dass sich alle Personen, deren Geschlecht sich jenseits einer vorbestimmten Zweigeschlechterordnung bewegt, auf die Norm berufen können. Die Praxis der Standesämter muss ein solches Verständnis respektieren und umsetzen. Darüber hinaus gilt es, weiter zu kämpfen für Regelungen, die allen Geschlechtern ihre geschlechtliche Selbstbestimmung ermöglichen – auch über § 45b PStG hinaus und gegen seine fremdbestimmenden und diskriminierenden Elemente.

 

Maya Markwald ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt Law Clinic für Grund- und Menschenrechte. Sie studierte Jura an der Freien Universität Berlin und studiert derzeit Gender Studies am ZtG an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit Prof. Dr. Anna Katharina Mangold, LL.M. und Dr. Cara Röhner verfasste sie, gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, ein juristisches Kurzgutachten zur Auslegung des Begriffs ,Varianten der Geschlechtsentwicklung‘ in § 45b PStG.