Die Ordnung auf meinem Schreibtisch und die recht kahlen Wände dahinter lassen sowohl auf den eben erst erfolgten Neubezug dieses hellen Büroraums im Institut für Asien- und Afrikawissenschaften (IAAW) in der Invalidenstraße 118 schließen, als auch auf die immer noch recht spärliche Nutzung dessen. Die letzten Monate waren gekennzeichnet durch einen andauernden Spagat zwischen Homeoffice am heimischen Esstisch und einem viel zu selten benutzten, gut eingerichteten Arbeitsplatz am IAAW, wo ich seit Mai 2021 im Querschnittsbereich Gender and Media Studies for the South Asian Region im BUA-Verbundprojekt RePLITO („Beyond Social Cohesion: Global Repertoires of Living Together“) angestellt bin. Der Spagat umfasste nicht nur diese beiden Arbeitsorte, sondern ganz generell und klassisch auch die Herausforderung Lohnarbeit und Familienleben mit zwei Kleinkindern, Quarantänen, Krankheit, Unterricht und Forschungsthemen unter einen Hut zu bekommen.
Trotz aller Widrigkeiten motiviert mich die Arbeit an meinem Forschungsprojekt zu Medienpraktiken indischer Protestbewegungen sehr, da es sich hierbei wirklich um ein Thema handelt, das mir außerordentlich am Herzen liegt. Mein Hauptinteresse liegt auf dem medialen und künstlerischen Ausdruck und der Generierung von Solidarität unter Berücksichtigung sozialer Kategorien wie Klasse, Religion, Kaste, und vor allem Gender innerhalb aktueller Protestbewegungen in Indien.
Qualitative Forschung in der Pandemie
In meinem Projekt verbinde ich meine über mehrere Jahre entwickelte Expertise zu Gender-Themen, sozialen Bewegungen und medialen Praktiken auf dem indischen Subkontinent. So habe ich beispielsweise zu Agency und Subjektivität indischer Frauen am Beispiel des Online-Heiratsmarktes promoviert und später zu digitalem Aktivismus in Reaktion auf Massenproteste nach der Gruppenvergewaltigung einer jungen Studentin in Neu-Delhi (2012) gearbeitet. Auch Themen, die neue und ausdifferenziertere Perspektiven auf Familie und Beziehungen ermöglichen, begleiten mich schon viele Jahre.
Da die Pandemie seit dem Frühjahr 2020 eine Feldforschung vorerst unmöglich machte, begann ich zunächst Interviews per Zoom zu führen, wodurch der Schreibtisch quasi zum Dreh- und Angelpunkt meiner Forschung wurde. So gelang mir ein erstaunlich vielseitiger Einstieg in das neue Projekt, indem ich mehrere Interviews mit engagierten jungen Frauen führen konnte, die sich aktivistisch, publizistisch und künstlerisch dem herrschenden hindunationalistischen Regime in ihrem Land entgegenstellen. Von Fotografie und Graphic Novels (zum Beispiel das von Ita Mehrotra auf meinem Schreibtisch im Bild) über die Produktion eigener Zeitungen und Dokumentarfilme im Stil von indymedia komme ich auf diese Weise mit zutiefst inspirierenden Menschen und Aktivitäten in Berührung, die das weitere Vorgehen in meiner Forschung sowie die Themen meiner aktuellen Lehre prägen. So kristallisiert sich zunehmend ein Fokus auf das gezielte Einsetzen von Gender als Kategorie heraus, der Protest und Solidarität nicht nur visuell eindrücklich, sondern auch intersektional inszeniert.
Gender und Protest in Indien
Zwei Bewegungen rückten durch ihre hohe Aktualität zunehmend in den Vordergrund und bilden aktuell den Schwerpunkt meines Interesses: die mehrheitlich von muslimischen Frauen geführte Protestbewegung in Neu-Delhis Stadtteil Shaheen Bagh gegen die Einführung eines neuen Staatsbürgerschaftsgesetztes (2019-20) und die Bewegung der indischen Bauern und Bäuerinnen gegen drei neue Agrargesetze (2020-21), die im November 2021 in der erfolgreichen Akzeptanz ihrer Forderungen mündete. Beide Bewegungen sind sowohl durch einen hohen Grad an medialer Mobilisierung und Social Media Berichterstattung gekennzeichnet, als auch durch den starken Bezug zu früheren revolutionären Bewegungen und Repertoires des Subkontinentes sowie ihre globale Vernetzung. Die Proteste in Shaheen Bagh erlangten bereits durch die außergewöhnliche Repräsentation muslimischer Frauen als Protestführerinnen in einem öffentlichen Raum, der sie sowohl per Geschlecht als auch per Religionszugehörigkeit marginalisiert, besondere Aufmerksamkeit. Auch im Rahmen der Bauernbewegung lässt sich beobachten, dass weibliche Repräsentantinnen zunehmend ihre Unsichtbarkeit als Bäuerinnen, Bürgerinnen und Aktivistinnen überwinden.
Solidarität als verbindendes Element der verschiedenen Fallstudien, an denen ich aktuell arbeite, nimmt unterschiedliche Formen an: Wichtig ist zum einen die Sichtbarmachung und Verbreitung von Gegen-Narrativen zu den offiziellen Versionen der Regierung und der mehrheitlich regierungstreuen Medien. Ebenso zentral ist eine Solidarisierung mit den protestierenden Individuen und Gruppen in Form von Anerkennung der Diskriminierungen und Marginalisierungen, die den Widerstand hervorgebracht haben. Die Narrative der Akteur*innen und ihre medialen und künstlerischen Produktionen bieten zudem sowohl Anknüpfungs- als auch Kritikpunkte für transnationale feministische Solidarität, da sich hier postkoloniale, regional spezifische Themen und global anschlussfähige Anliegen wie Geschlechtergerechtigkeit, Klimawandel oder Kapitalismuskritik überlappen.
Das Forschungsfeld ist hochaktuell und dynamisch, sodass ich voller Spannung auf die weiteren zwei Jahre des Projektes blicke, die vor mir liegen. Perspektivisch wird der neue Schreibtisch in meinem schönen Büro mit Nachmittagssonne mehr Einsatz finden und die Zoom-Interviews hoffentlich im kommenden Winter um einen realen Forschungsaufenthalt ergänzt werden können.
Dr. Fritzi-Marie Titzmann ist seit Mai 2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im BUA-Verbundprojekt „Beyond Social Cohesion: Global Repertoires of Living Together“ (RePLITO, www.replito.de) und Lehrende im Bereich Gender and Media Studies for the South Asian Region am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.