Auf meinem Schreibtisch herrscht Chaos. Mir wurde mal gesagt, dass dieses Chaos dort ist, weil es auch in meinem Kopf ist. Ich beherrsche dieses Chaos auch nicht, ich ordne es jeden Tag neu, bringe meine eigene Ordnung rein und finde mich zurecht. Neben Kaffeetassen, Post-It’s, Zetteln, Büchern finden sich dort auch öfter mal Katzen – und Ideen. Ideen, was ich lesen und schreiben möchte, was ich forschen möchte. Ich habe zwei Schreibtische: Einen zuhause in Hannover und einen in Berlin am Institut für Sozialwissenschaften, wo ich ein Semester als Elternzeitvertretung am Lehrbereich „Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse“ arbeite – ein geliehener Schreibtisch, ein Platz auf Zeit sozusagen. Zeit für neue Blickwinkel, neue Menschen und neue Ideen. Ich komme aus der Politischen Theorie und Ideengeschichte und habe mich im Zuge meines Dissertationsprojektes zur Identitätsbildung von trans*Migrant*innen der Geschlechterforschung zugewandt. Ich habe mich nicht von der Politischen Theorie abgewandt, sondern es geschafft, beides miteinander zu verbinden.
Identitätsbildung
Theorie und Empirie miteinander zu verbinden, war für mich etwas Logisches. Auch hier fand sich auf den ersten Blick Chaos: Sich in zahlreichen Publikationen und Theorien zurechtzufinden, war vor allem verbunden mit viel Lesen. Zeitweise stapelten sich um die vierzig Bücher auf meinem Schreibtisch, sodass kaum Platz für Bewegung war. Nach und nach verschwanden die Bücherberge und es entwickelte sich eine Ordnung in den so vielfältigen und verschiedenen Theorien: Die Frage danach, wie sich Identitäten bilden, ist eine Frage, die sich in vielen wissenschaftlichen Disziplinen findet: Sowohl die Soziologie und die Politikwissenschaften als auch Psychologie, Cultural Studies oder die Gender Studies befassen sich mit diesem Themengebiet. So vielfältig wie die Forschungsgebiete sind auch die Annahmen über Identitätsbildung. Diese Annahmen und Theorien unterliegen einer stetigen Veränderung, wie alles in der Welt. Schaut man in die Ideengeschichte, finden sich Theorien, die bis heute einen Einfluss auf das Denken über Identitäten haben.
Von René Descartes, der von einem atomistischen Individuum und einem inneren (unveränderbaren) Wesenskern ausgeht, welcher sich unabhängig von der Gesellschaft ausbildet, über liberale Denker wie Immanuel Kant und John Locke, gelangte ich zu G.W.F. Hegel, der den Grundstein für ein Denken jenseits des atomistischen Subjekts legte und die Gesellschaft und die Anerkennung durch Andere in die Identitätsbildung mit einbezieht. Hegel war es auch, der mir ab meinem ersten Tag an der Humboldt-Universität immer wieder begegnete und mich auf meinen Wegen zum Institut oder auf Spaziergängen begleitete. Begleitet hatten mich auf meinem Weg durch das Studium auch die Theorien von Michel Foucault, Judith Butler oder Iris Marion Young, die ich in meine Arbeit mit einbezog. Doch was wäre eine Arbeit zur Identitätsbildung von trans*Migrant*innen ohne diejenigen, um die es gehen sollte? Die Herangehensweise der Arbeit war die subjektive Perspektive von trans*Migrant*innen durch die empirische Erhebung herauszustellen und in Verbindung mit den Identitätstheorien zu bringen, die in der kritischen Rekonstruktion aufgearbeitet und systematisiert wurden.
Neue Wege
Die Gedanken aus der Dissertation weiterzudenken ist das, was ich in den kommenden Monaten machen möchte. Weiterdenken über Begriffe wie Akzeptanz und Anerkennung, über Gewalt und deren Verbindungen. Darüber, wie Nichtanerkennung und Gewalt die Identitätsbildung erschweren und welche Strukturen dazu beitragen. Im Kleinen versuche ich dies in meine derzeitigen Seminare an der HU mit einzubringen: Was bedeutet Macht und wie wird diese in der Gesellschaft durch Normen ausgeübt und wie beeinflusst sie unser alltägliches Leben? Wie und warum werden Menschen marginalisiert? Und welche Rolle spielen Nichtanerkennung und Gewalt?
Ordnung in das Chaos zu bringen, gelingt mir durch das Erforschen verschiedener Sichtweisen, um dadurch gesellschaftliche Mechanismen besser verstehen zu können. Dazu dienen mir die Theorien, um Verständnis zu generieren, um erkennen zu können wie bestimmte Mechanismen in der Gesellschaft entstehen und wirken. Phänomene zu durchdringen und erforschbar zu machen, findet jedoch nicht alleine auf einer Theorieebene statt, sondern auch in den Erzählungen und Erfahrungen von Individuen – und deswegen ist die Verbindung von Theorie und Empirie für mich etwas Logisches: Durch Theorien können Phänomene in einen größeren Kontext eingeordnet und verstanden werden, empirische Daten helfen dabei, eine nuancierte Erklärung zu entwickeln, indem die Theorien mit konkreten Beobachtungen und Erfahrungen verbunden werden. Durch die Verbindung wird der Prozess der Theoriebildung und -entwicklung gefördert und Wissen weiterentwickelt. Hiervon ein Teil zu sein, mich einbringen zu können in die Wissenschaft und Forschung- das ist, wofür ich jeden Tag dankbar bin und was mir – bei all dem Chaos – Freude bereitet.
Das Foto zeigt meinen Schreibtisch zu Hause, welchen mein Vater für mich gebaut hat, in einem sehr aufgeräumten Zustand – mit Lilli (benannt nach Lili Elbe) und Mia.
Nele Weiher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin als Elternzeitvertretung am Lehrbereich Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor arbeitet sie an der Leibniz Universität Hannover am Institut für Politikwissenschaft im Arbeitsbereich Politische Ideengeschichte und Theorien der Politik. Ihre Dissertation schrieb sie an der Universität Bielefeld über Identitätsbildung von trans*Migrant*innen.