Seit Januar 2021 bin ich postdoc im Team ‚Geographie der Geschlechterverhältnisse in Mensch-Umwelt Systemen‘ (Prof. Dr. Sandra Jasper) und seit dem Sommersemester nun auch offizielles Mitglied (oder Mit-Frau, wie wir in meinem Lieblings-Sportverein sagen würden) am ZtG. Meinen Beitrag habe ich entlang der ZtG-Themenfelder „Inter- und Transdisziplinarität“ und „Intervention“ strukturiert, denn diese beiden Felder verbinden sich auch in vielfältiger Weise mit meiner eigenen Forschungspraxis und meinen Ansprüchen an die Lehre.
Um dies kurz vorwegzunehmen: Begriffe und Definitionen von Inter- und Transdisziplinarität wurden in den vergangenen Jahren vielseitig und kontrovers diskutiert. Ich werde diese Widersprüche in meinem Beitrag nicht auflösen, sondern die Idee einer Auseinandersetzung mit einem gemeinsamen Thema (z.B. Geschlecht) „in allen theoretischen und gesellschaftlich-praktischen Feldern“ hier aufgreifen, um über meine Arbeit als Stadtforscherin zu schreiben. Als „Intervention“ verstehe ich die gemeinsame Auseinandersetzung mit Studierenden und nicht-akademischen Partner*innen in Forschung und Lehre zu urbanen Transformationsprozessen, spontanen Protestbewegungen, aber auch ganz alltäglichen Verbindungen zwischen Menschen, Dingen und Umwelt in der Stadt.
„Inter-/Transdisziplinarität“: Stadtforschung zwischen Geographie, Anthropologie und Feministischer Theorie
Als Stadtforscherin sehe ich mich seit ungefähr zehn Jahren, das fällt mit meinem Umzug nach Berlin-Neukölln im Oktober 2010 zusammen. Ich habe zu diesem Zeitpunkt meine Studienschwerpunkte im M.A. Internationale Beziehungen auf den Bereich interdisziplinäre Stadtforschung gelegt und mit einer Arbeit zu dekolonialen und feministischen Perspektiven auf die damalige ‚Aufwertung‘ der Karl-Marx-Straße (betreut von Prof. Dr. Manuela Boatcă und Prof Dr. Ina Kerner) abgeschlossen. In den Jahren darauf habe ich dann zum Beispiel in Kooperation mit der Bundeszentrale für Politische Bildung in Berlin (mit Prof. Dr. Julia Roth) und mit dem Polis-Institut in São Paulo (Brasilien) eine Reihe von Events zu kritischen Perspektiven auf städtische Transformationsprozesse organisiert, u.a. unter Beteiligung des Geografen und postkolonialen Theorikers Kanishka Goonewardena, des Berliner counter-mapping Kollektivs Orangotango, sowie einer Reihe brasilianischer und deutscher „Recht auf die Stadt“-Aktivist*innen.
Von meinem kritischen Interesse für Stadt- und insbesondere Straßen-Umbauprozesse bin ich dann zu der Auseinandersetzung mit urbanen Infrastrukturen gekommen. In meiner Promotionsarbeit, die ich bei den Stadtanthropolog*innen Prof. Dr. Alexa Färber und Prof. AbdouMaliq Simone geschrieben und im Herbst 2020 an der HafenCity University Hamburg abgeschlossen habe ging es um „Bonding“. Die letzte Straßenbahn (Brasilianisch bonde) Rio de Janeiros wurde in meiner Arbeit zu einer Art Vehikel, um der Frage nachzugehen, wie sich anhand städtischer Infrastrukturen die Verbindungen (Engl. bonds) ganz unterschiedlicher Stadtbewohner*innen und Dinge/Materialitäten zu ‚urbanen Kollektiven‘ untersuchen lassen. Auf der theoretischen Ebene habe ich mit Konzeptualisierungen zu affective bonds gearbeitet, wie sie beispielsweise die feministischen Theoretikerinnen Sara Ahmed (2010) und Lauren Berlant (2007) entwickelt haben. Die räumlich-politische Dimension solcher „affektiven Verbindungen“ zwischen Bewohner*innen und beispielsweise dem Bahn-Trittbrett habe ich dann mithilfe von Theorien und Konzepten in Geographie und Anthropologie untersucht.
Politisch war meine Promotion inspiriert von meiner Arbeit im Regionalbüro der UN-Habitat in Rio de Janeiro 2014-15 und den Diskussionen, die damals in Lateinamerika um die sog. Neue Urbane Agenda (NUA) geführt wurden. Denn die zentrale Annahme der NUA, dass Städte künftig die entscheidenden Orte sein werden, an denen sich der Kampf um eine nachhaltige Entwicklung entscheidet (Sennett et al. 2018) hat mich seitdem zu einer Reihe kritischer Fragen getrieben. Wie liest sich so eine Annahme, die Städte entweder als Heilsbringer oder als apokalyptische Orte von Verschmutzung, Ausrottung und Erwärmung darstellt vor dem Hintergrund des redemptive urbanism (etwa: „Erlöser-Urbanismus“) einiger brasilianischer Bürgermeister*innen und Anhänger*innen des ultrarechten Brasilianischen Präsidenten Jair ‚Messias‘ Bolsonaro (vgl. Kemmer und Simone, 2021)? Und welche neuen, widerständigen Formen von Kollektivität entstehen, wenn städtische Materialität die von Menschen gemachten Versprechen ablöst und bestimmte ‚Dinge‘ ganz eigene, affektive Verbindungen zwischen Bewohner*innen und Stadt schaffen (Kemmer, 2019)?
„Intervention“: Kollaboratives Forschen und Lernen zu Stadt und Umwelt
In meiner Arbeit als Postdoc an der HU gehe ich weiter Fragen zur Wechselwirkung von international zirkulierenden Stadt-Politiken und -Imaginationen auf der einen und der Wirkmächtigkeit nicht-menschlicher Akteure auf der anderen Seite nach. In einem meiner Forschungsprojekte beschäftige ich mich zum Beispiel mit den Folgen eines sogenannten Climate Urbanism, verstanden als die zunehmende politische Hinwendung zu Städten als Orten des Handelns gegen die globale Klimakrise. Hier interessiert mich die historische Dimension von solchen (Schienen-)Technologien, die als schnelle Lösung für Luftverschmutzung und Verkehrschaos von europäischen Unternehmen in den Globalen Süden exportiert werden. Gemeinsam mit Studierenden an der Universität Wien sind wir im Wintersemester 2019-2020 im österreichischen Werk von Bombardier Transportation (heute: Alstom) der Frage nachgegangen, wie die Plausibilisierung und Umsetzbarkeit aktueller ‚nachhaltiger‘ Stadtumbau-Projekte ganz zentral von den kulturellen und materiellen Spuren historischer Schienensysteme in urbanen Kontexten weltweit abhängt.
Das Konzept ‚forschendes Lernen‘, also die aktive Einbindung von Studierenden in meine aktuellen Projekte konnte ich während meines Postdocs an der HU weiterentwickeln. Im Rahmen eines Studienprojekts am Geographischen Institut und am ZtG sowie einer durch die Berlin University Alliance geförderten x-student group erarbeite ich mit Studierenden verschiedener Universitäten und Fachbereiche gemeinsam eine kritische Perspektive auf aktuell kursierenden Imaginationen von Stadtnatur als remedy (Heilmittel).
Diese Arbeit steht in engem Zusammenhang mit zwei Projekten, die ich derzeit mit Prof. Dr. Sandra Jasper, Prof. Dr. Dorothee Brantz und anderen Forscher*innen an HU, TU, FU und der Charité ausarbeite. Im ersten Projekt geht es darum, die ‚gesunde Stadt‘ als ein Ergebnis der Beziehungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Dingen, Spezies, Organismen oder Ökosystemen zu verstehen. Im zweiten Projekt zeigen wir am Beispiel Stadt-Boden wie die nicht-menschlichen Elemente des Urbanen nicht einfach als ‚Ressource‘ oder ‚Lösung‘ funktionieren sondern aufgrund ihrer Hybridität zwischen lebendig und versiegelt, biodivers und toxisch ein Neu-denken von Mensch-Umwelt Beziehungen erfordern, jenseits der neutralen Begriffe von Begegnungen mit dem Anderen hin zu einem gegenseitigem Ausgesetzt-sein oder Verletzlich-werden.
Im Sinne der Intervention arbeite ich in meinen Forschungs- und Lehrprojekten zusammen mit einer Reihe umweltpolitisch und stadtaktivistisch engagierter Kollektive in Berlin und darüber hinaus, mit denen wir beispielsweise neue Methoden GIS-basierter Citizen Science, ecopolitical mappings und raumproduzierender Kartierungen zwischen Städten in Südamerika und Berlin übersetzen. In den kommenden Jahren möchte ich solche Kollaborationen weiter ausbauen, um einerseits Asymmetrien und Eurozentrismus in der Produktion von Wissen zu durchkreuzen und andererseits neue Wege zu erschließen, wie aus der Universität hinaus Stadt mit-produziert werden kann.
Literatur:
Public Culture 19 (2): 273-301.
Laura Kemmer ist seit Januar 2020 postdoc im Team ‚Geographie der Geschlechterverhältnisse in Mensch-Umwelt-Systemen‘ am Geographischen Institut der Humboldt-Universität und seit Juni 2020 postdoc am Center for Metropolitan Studies der Technischen Universität Berlin. Sie hat ihre Promotion im Jahr 2020 an der HafenCity Universität Hamburg im Bereich interdisziplinäre Stadtforschung abgeschlossen. Sie forschte u.a. als Fellow an der Universidade de São Paulo und am EU-HERA Projekt ‚Public Transport as Public Space‘ bevor sie zur HU kam. Sie ist Herausgeberin einer Special Issue zu „Locating Affect“ (Distinktion, 2019, mit Krämer, Peters und Weber), sowie einer Ausgabe zu „Standby“ (ephemera, 2021, mit Kühn und Weber) und hat in internationalen Fachzeitschriften zu Themen um Infrastruktur, materielle politics und urbane Versprechen publiziert. Derzeit arbeitet sie an einer Monografie über städtische Formen von urbaner Kollektivität und neue Verbindungsbegriffe, die 2022 im Verlag Berghahn Books einscheint.