Den einen, ,meinen‘ Schreibtisch gibt es eigentlich gar nicht, denn ich arbeite überall und trage alles immer von einem Ort zum nächsten. Meinen Schreibtisch in meinem neuen Büro an der HU lerne ich noch kennen, aber langsam fühle ich mich heimisch. Kleine Erinnerungsstücke (im Bild oben rechts), wie zum Beispiel eine Rosie the Riveter-Spielfigur, die ich aus Bochum mitgebracht habe, helfen mir dabei. Zu Hause arbeite ich am Esstisch und schiebe alles beiseite, wenn ich ihn mal für seinen ursprünglichen Zweck verwenden möchte. Meine räumliche Beweglichkeit spiegelt sich auch in meiner Forschung wider. Da bin ich zwar klar verortet, aber an verschiedenen ,Orten‘ gleichzeitig: den Südstaaten der USA, dem menschlichen Körper, der Populärkultur. Als Mensch mit Diaspora-Erfahrungen macht das vielleicht Sinn, denn ich habe viele Heimat(en); dass sich das in meine Forschung übersetzt, kommt mir nur allzu logisch vor.
Als Amerikanistin, ein etwas veralteter Begriff für jemanden, der*die sich mit der Kultur und Geschichte der Vereinigten Staaten beschäftigt, interessieren mich natürlich kulturelle Entwicklungen und Strömungen in den USA am meisten. Jedoch ist es nicht die ‚Nation‘, die mich fasziniert. Seit meinen Studienzeiten habe ich eine Faszination für das Regionale entwickelt, vielleicht weil ich im Ruhrgebiet und Neuengland ausgebildet worden bin. Vielleicht aber auch, weil Regionen immer als wundersame Gegenorte zum großen Ganzen kreiert werden und ich das Wundersame für einen ziemlich interessanten Ort halte. Die Südstaaten der USA wurden schon vor dem amerikanischen Bürgerkrieg als das Andere der Nation konstruiert und in meinem Projekt „Liminal Whiteness: Rednecks, Hillbillies and Crackers in American Culture“ beschäftige ich mich mit Prozessen des sogenannten Othering. Dies geschieht basierend auf der Kulturgeschichte und Entwicklung der Stereotypen ,redneck‘, ,hillbilly‘ und ,cracker‘. Diese wurden und werden immer noch verwendet, um arme, weiße Südstaatler*innen zu markieren und somit die hegemoniale Übermacht von Weißsein in der Nation zu erhalten und weiter zu verstärken.
Der andere Ort, der meine Forschung bestimmt und auf meinem Tisch gerade am sichtbarsten ist, ist der menschliche Körper. Auch wenn „Liminal Whiteness“ mit dem Körper und dessen Klassifizierung zu tun hat, geht es in meinem anderen Projekt um Körper, die von westlichen Gesellschaften als ,fett‘, ,dick‘ oder ,adipös‘ konnotiert werden. Mit anderen Wissenschaftler*innen aus Deutschland forsche ich im DFG-Netzwerk „Fat Studies – Doing, Becoming and Being Fat“ zur kulturellen Rezeption und Konstruktion von Dicksein. Fat Studies ist ein relativ junges Forschungsfeld, das zunächst sogenannte ,Fakten‘ in Frage stellt, sich für einen körperpositiven Zugang zum Dicksein einsetzt und kritisch mit medialen Repräsentationen von dicken Menschen umgeht. Während im deutschen Sprachraum und im deutschen Dickenaktivismus das Wort ‚dick‘ gebraucht wird, verwenden englischsprachige Fat Studies Wissenschaftler*innen ganz bewusst fat, um diesem Wort eine andere, nicht-beleidigende Bedeutung zuzuschreiben. Aus den USA stammend ist Fat Studies inspiriert vom second-wave und third-wave Feminismus und vom Aktivismus dicker US-Amerikaner*innen, die sich seit den 1970ern gegen Gewichtsdiskriminierung einsetzen (das deutsche Pendant ist die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung). Fat Studies verfolgen die Annahme, dass Dicksein ein Ausdruck körperlicher Diversität ist und nicht als krankhaft gesehen werden muss, denn dick sein ist nicht gleichzeitig krank sein. Das binäre Denken in dick/dünn, krank/gesund, unattraktiv/attraktiv ist demnach zu dekonstruieren, um ein Körperbewusstsein entstehen zu lassen, dass nicht zu Lasten ausgegrenzter Körper funktioniert. Fat Studies sind intersektional, denn Herkunft, Geschlecht und andere (äußere) Merkmale bestimmen das Stigma von Dicksein in den meisten westlichen Gesellschaften zusätzlich. Chris Forths Publikation „Fat: A Cultural History of the Stuff of Life“ (im Bild unten rechts) bietet einen wunderbaren Überblick zur kulturellen Bedeutung und der materiellen Beschaffenheit von ‚Fett‘.
Bislang hat sich meine Fat Studies-Forschung mit der Repräsentation dicker Frauen in der US-amerikanischen Populärkultur beschäftigt, primär in US-amerikanischen Reality TV-Formaten wie „Here Comes Honey Boo Boo“, „My Big Fat Fabulous Life“ oder „Revenge Body“. Zudem bin ich besonders interessiert an US-amerikanischen fett-positiven Selbsthilfebüchern. Selbsthilfe-Bücher für Frauen sind oft mit Gewichtsverlust verbunden und versprechen ein besseres Leben, sobald der eigene Körper kleiner, dünner und somit weniger geworden ist. Fett-positive Selbsthilfebücher stellen das Genre und den inhärenten Glauben an das bessere Leben ‚nach‘ Gewichtsverlust in Frage. Im Kontext des momentan äußerst populären Konzepts body positivity nehmen solche Publikationen zu. Body positivity wurde paradoxerweise besonders von der Mode- und Schönheitsindustrie als Marketing-Strategie für sich entdeckt. Es ist wichtig, dabei im Auge zu behalten, dass diese Art der Positivität aus dem fat activism stammt und primär keine kapitalistischen Interessen hatte, sondern um Gleichstellung und gegen die Stigmatisierung dicker Menschen – besonders im Beruf und in der Medizin – gekämpft hat. Leider werden dicke Aktivist*innen, besonders fat women of color, aus der Bewegung verdrängt und durch weiße Models und angebliche Wellness-Expert*innen ersetzt.
In meinem MA-Kurs zu Dicksein und Medien lesen wir momentan Sarai Walkers Roman „Dietland“ (2015). Darin wird die klassische chick lit-Geschichte – junge Frau in der Großstadt hat einen anspruchsvollen Medien-Job und sucht ihr Glück, das sie nur finden wird, wenn sie sich ändert – auf den Kopf gestellt. Die Protagonistin Plum (die eigentlich Alicia heißt) ist nämlich ziemlich dick und stellt fest, dass sie es auch bleiben möchte, denn sie sieht ihr Dicksein als Superkraft, um Sexismus und Kapitalismus zu bekämpfen. Walkers Roman hat fast dystopische Züge, denn ,das System‘ – so wird hier vorgeschlagen – kann nur mit Gewalt umgekrempelt werden. „Dietland“ ist ein interessantes Experiment, das das übliche Bild von der unglücklichen Dicken zurückweist.
Die feministische Psychoanalytikerin Susie Orbach hat schon in den 1970ern deutlich gemacht, dass fatness ein feministisches Thema ist. Das ist in den USA historisch begründet durch das gleichzeitige Sichtbarmachen und Unsichtbarmachen des als weiblich konnotierten Körpers, der immer schon Grund zur ‚Sorge‘ war und dessen Funktionen kontrolliert werden mussten. Die Kontrolle des weiblichen Körpers durch das Patriarchat und den Kapitalismus schließt Gesundheit und Schönheit ein. Daraus ist ein Idealbild von Weiblichkeit entstanden, das vielfältig ist, aber besonders Schlanksein als wertvoll und erstrebenswert konstruiert. Der dicke, (oft weibliche) Körper muss abgeschafft werden – so wird es vor allem durch sensationsfördernde Medien, die eine globale „Adipositas-Epidemie“ diagnostizieren – in die Welt getragen. Ziel ist es, dozile, attraktive und brauchbare (produktive) Körper zu kreieren. Ich beobachte und analysiere die kulturellen Narrative, die fat shame unterstützen. Ich bin aber auch an der Selbstbestimmung dicker Aktivist*innen und Künstler*innen interessiert, die Gegenentwürfe anbieten und jeden Körper als wertvoll deklarieren. Im März organisiere ich mit einer Kollegin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ein Netzwerktreffen zum Thema Visualizing Fat Studies an der HU und ich hoffe auch im ZtG mit Kolleg*innen und Studierenden das Thema voranzutreiben.
Evangelia Kindinger ist seit April 2019 Juniorprofessorin für amerikanische Literatur und Kultur am Institut für Anglistik und Amerikanistik. Sie ist die Autorin von „Homebound: Diaspora Spaces and Selves in Greek American Return Narratives“ (2015), und Mitherausgeberin von „The Intersections of Whiteness“ (2019, mit Mark Schmitt) und „After the Storm: The Cultural Politics of Hurricane Katrina“ (2016, mit Simon Dickel).
In unserem Format #MeinSchreibtisch – zu finden unter der Kategorie Personen – geben Mitarbeiter_innen, Mitglieder und Absolvent_innen des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien einen Einblick in ihr Arbeitsumfeld sowie ihre aktuellen Projekte und Aufgaben.