Es sind zwei Schreibtische, an denen ich abwechselnd sitze, seit ich im November 2021 meine Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität aufgenommen habe: Mein Schreibtisch im Homeoffice und der Schreibtisch in meinem Büro in der Geschwister-Scholl-Straße. Nach dem Wintersemester, in dem ich pandemiebedingt von zu Hause aus unterrichtet habe, war ich in diesem Frühling froh, meinen Platz im Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Gender und Diversität einzunehmen. Nun hat die vorlesungsfreie Zeit des Sommers begonnen – eine Zeit zum Lesen und Schreiben, für die Vorbereitung der Lehre im kommenden Semester und Zeit aufzuräumen und all das zu verstauen, was sich in den letzten Monaten auf und um den Schreibtisch angesammelt hat.
Frauenbildungszusammenhänge
Nicht auf meinem Schreibtisch, sondern in einer Kiste, die mir der Mandelbaum Verlag aus Wien zugesandt hat, liegen einige Exemplare meines Buchs „Kritik und Konflikt. Die Zeitschrift Die Schwarze Botin in der autonomen Frauenbewegung“. Das Buch beruht auf meiner Dissertation, die ich an der Universität Innsbruck letztes Jahr verteidigt habe. Es handelt von Konflikten um feministische Theoriebildung, auf die ich ausgehend von der Zeitschrift Die Schwarze Botin Schlaglichter werfe. Die Zeitschrift wurde 1976 in Westberlin gegründet, die letzte Ausgabe erschien 1986/87. Zu ihren Redakteurinnen zählten die Gründerinnen Gabriele Goettle und Brigitte Classen, sowie Elfriede Jelinek, Marie-Simone Rollin und Branka Wehowski; ab 1983 wurde sie von Marina Auder herausgegeben. Die Zeitschrift verstand sich Zeit ihres Bestehens als Kritikerin der Frauenbewegung aus den Reihen Frauenbewegung. In den Auseinandersetzungen wird deutlich, dass feministische Theorie durch Dissens und Kritik entstanden ist und – so denke ich – noch immer entsteht. Die Erziehungswissenschaftlerin Susanne Maurer plädiert dafür, feministische Historiografie als „offene[s] Archiv der Konflikte“ zu begreifen, das „Spannungen“ und „Widersprüche“ (Maurer, 2012) nicht neutralisiert. Ich verstehe mein Buch als einen Beitrag zu einem solchen „Gedächtnis der Konflikte“ (Maurer, 2016). Zudem geht es mir darum, ein verkürztes Bild der feministischen Theorie der 1970er und 1980er Jahre zu korrigieren – ein Bild, in dem der sogenannte „Zweite-Welle-Feminismus“ und sein Denken unzutreffend als veraltet und überholt dargestellt wird . Denn die außeruniversitäre, noch nicht institutionalisierte Theoriebildung war nicht nur inhaltlich breit gefächert, sondern enthält Denkmotive, die es für die gegenwärtige feministische Kritik und Theorie zu erneut zu befragen lohnt, wie zum Beispiel die verschiedenen Umgangsweisen mit der Frage, was unter Erfahrung zu verstehen ist und welchen Stellenwert sie für die feministische Theorie und Praxis haben sollten. Der Fokus auf Konflikte um feministische Theoriebildung erhellt auch die Zeit vor und am Beginn des Institutionalisierungsprozesses feministischen Wissens, der zur Etablierung der akademischen Geschlechterforschung und der Gender Studies geführt hat.
Ansätze feministischer Theoriebildung
Auf meinem Tisch liegt ein zerlesenes Exemplar des Buches „Wie weibliche Freiheit entsteht. Eine neue politische Praxis“ der Libreria delle Donne di Milano, das ich, neben weiteren Texten aus der US-amerikanischen Frauenbewegung zum Consciousness-Raising, der Praxis der Selbsterfahrung, mit Studierenden der Gender Studies und der Erziehungswissenschaften im Sommersemester gelesen und diskutiert habe. Über die jeweiligen historischen Zusammenhänge, in denen die Texte stehen, hinaus, werfen die Praxis der Selbsterfahrung sowie die Praxis des affidamento die Fragen nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, sowie von symbolischer Ordnung und Freiheit auf und bieten Einblicke, welche unterschiedlichen Antworten die feministischen Bewegungen gegeben haben.
Erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung und marxistische Pädagogik
In der linken Tischecke stapeln sich gerade Bücher von Anna Siemsen, Siegfried Bernfeld, Hans-Jochen Gamm und Karl Marx – Lektüren für meinen weiteren Forschungsschwerpunkt und für mein Seminar am Institut für Erziehungswissenschaften im Wintersemester. Ich bearbeite die Frage, welcher systematische Zusammenhang sich zwischen der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung und der Tradition der marxistischen Pädagogik herstellen lässt. Denn die Kategorien der Geschlechterdifferenz und der Sorge, die in der Geschlechterforschung bearbeitet werden, enthalten einen materialistischen Index, insofern es um die Frage geht, wie Gesellschaften mit menschlicher Angewiesenheit, Abhängigkeit und Begrenztheit umgehen. Das betrifft sowohl die intersubjektiven Beziehungen und Selbstverhältnisse als auch die durch die kapitalistische Produktionsweise bedingten Weltverhältnisse. Auf beiden miteinander verschränkten Ebenen muss ein verantwortlicher Umgang mit der Tatsache der Angewiesenheit entwickelt werden, soll ein Fortbestehen der Weltgesellschaft gelingen. Die erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung verbunden mit materialistischer Pädagogik könnte hier Orientierung bieten.
Klassenverhältnisse
Zum Gegenstandsbereich der marxistischen Pädagogik gehört auch die Thematisierung der Klassenverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft. Doch ist gerade die Geschlechterforschung der Ort, an dem die Kategorie Klasse auch jenseits von akademischen Konjunkturen in ihrem Verhältnis zu Geschlecht und race über Jahrzehnte hinweg thematisiert wurde. Seit einigen Jahren zeichnet sich in der Öffentlichkeit und der Literatur sowie in den Sozialwissenschaften ein breiteres Interesse an den Klassenverhältnissen in unserer Gesellschaft ab. Die Kategorie Klasse, ihr Stellenwert für die Erziehungswissenschaft und in Exkursen ihr Verhältnis zu Geschlecht war Gegenstand eines weiteren Seminars im Sommersemester. Von ihm rühren die Bücher von Pierre Bourdieu auf meinem Schreibtisch und die Texte zur Social Reproduction Theory, die den Zusammenhang von Klasse und Geschlecht thematisiert,.
Mein Schreibtisch ist notorisch zu voll. So wird es wohl auch weiterhin bleiben, denn das Wissen, das sich zwischen den Buchdeckeln der Bände versteckt, die sich auf meinem Tisch stapeln, zieht mich zu sehr an, als dass ich sie wegräumen könnte. So brauche ich wohl einen größeren Schreibtisch.
Literatur
Maurer, Susanne (2012): Utopisches Denken statt Utopie? Gedankenexperiment und (unbestimmte) Grenzüberschreitung als feministische Politik, in: Birkle, Carmen et al. (Hg.): Emanzipation und feministische Politiken. Verwicklungen, Verwerfungen, Verwandlungen, Ulrike Helmer, Königsstein i. Ts., 75–93.
Maurer, Susanne (2016): „Gedächtnis der Konflikte“ statt „Kanon“? Historiographiepolitik als Normativitätskritik in feministisch-kritischer Wissenschaft, in: Dreit, Karolina et al. (Hg.): Ambivalenzen der Normativität in kritisch-feministischer Wissenschaft, Ulrike Helmer, Sulzbach i. Ts., 135–152.
Dr. Katharina Lux ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Gender und Diversität am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität und Mitglied des ZtG. Sie promovierte am Doktoratskolleg Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation an der Universität Innsbruck. Kürzlich erschien ihre Monografie „Kritik und Konflikt. Die Zeitschrift Die Schwarze Botin in der autonomen Frauenbewegung“.