Die moderne Gesellschaft hat lange für selbstverständlich gehalten, dass menschliches Handeln durch Eigeninteresse geleitet ist und dass der Eigennutz im Grunde ein vernünftiges Ziel darstellt. Stilisiert zur anthropologischen Konstante, die den Kapitalismus rationalisiert, scheint das im ökonomischen Sinne eigennützige Handeln nicht nur produktiv, sondern auch natürlich. Mein Buch, das vom frühneuzeitlichen Theater in England handelt, ist nicht zuletzt ein Versuch, zu den historischen Rändern dieser Maxime vorzudringen: bis zu einer Zeit, in der es nicht unbedingt rational erscheint, primär den eigenen materiellen Vorteil zu verfolgen. Lange vor Adam Smith wird Eigeninteresse als Handlungsmotiv höchst ambivalent und in paradoxer Weise auf der englischen Bühne verhandelt: als ordnende und zugleich konfliktstiftende Kraft, als neue Normalität und wahnhafte Obsession. Aspekte von Geschlecht spielen dabei in vielen Stücken eine wichtige Rolle, denn die Geschlechterordnung und der weibliche Körper werden oftmals zum Spielfeld und Gegenstand eines als überstark inszenierten Eigeninteresses.
Eigeninteresse auf der Bühne
Die englischen kommerziellen Bühnen, die zum Ende des 16. Jahrhunderts in London gebaut werden, sind der Ort, an dem die sozialen Auswirkungen frühkapitalistischer Transformationen reflektiert, kommentiert und aufs Korn genommen werden. Aus heutiger Sicht ist der berühmteste Autor dieser Zeit ohne Frage Shakespeare, aber es sind vor allem Kollegen (und Rivalen) wie Ben Jonson und Thomas Middleton, die mit einer neuen Art von Stücken das soziale Leben in London unmittelbar zur Aufführung bringen. Die sog. ‚London Comedies‘ beziehen sich selbstreflexiv auf die reale Topografie Londons einschließlich der Theater, sie verwenden ortstypische Redewendungen und geben auch den gemeinen Leuten, den Huren und Auszubildenden, den Handwerkern, Händlern und Goldschmieden, einen Part auf der Bühne. Sie verhandeln Eigeninteresse teils als irrationale Leidenschaft (in Form von Geldgier, Lust oder einem übertriebenen sozialen Aufstiegswillen), teils als vernünftiges Motiv verarmter Gentlemen, auch kluger Diener, die ihres Glückes Schmied sein wollen: ‚Making one’s fortune‘ hat nicht umsonst die doppelte Bedeutung von Glück und Wohlstand. In unterschiedlicher Form entfaltet sich ‚interest‘ auf der Bühne als beherrschendes Motiv einer neuen Zeit, das soziales Handeln dominiert und soziale Beziehungen neu strukturiert. Economies of Early Modern Drama diskutiert Londoner Komödien von Jonson und Middleton gemeinsam mit Tragödien Shakespeares, um die genreübergreifende Relevanz dieses Topos herauszuarbeiten, aber auch unterschiedliche Darstellungsformen aufzuzeigen.
Machiavellistische Tüchtigkeit
Ein wichtiges Ergebnis des Buches ist die Erkenntnis, dass in der Ratgeberliteratur und auf der Bühne parallel zum Topos des ‚private interest‘ auch der Weg, der zum Erfolg führt, interessant wird. In beiden Medien ist die Frage nach dem richtigen Handeln nicht mehr primär eine ethische, sondern betrifft die praktische Expertise und Effizienz, die für die Führung von Haus und Geschäft erforderlich sind. Eine gute Prise machiavellistischer Intelligenz, um nicht zu sagen Skrupellosigkeit gibt der von Aristoteles eigentlich ethisch bestimmten Instanz der praktischen Klugheit eine instrumentalistische Wendung. Dabei gibt es selbstverständlich Unterschiede zwischen Ratgeberliteratur und Theater. Während erstere an der Bedeutung des Gemeinwohls als höchstem Gut festhält, zeichnet letzteres das drastische Bild einer aus den Fugen geratenen egomanischen Intelligenz, für die der Zweck die Mittel heiligt. Da werden Könige beseitigt, Helden diffamiert und reiche Gönner nach Strich und Faden ausgenommen. Es werden Huren als Edelfrauen ausgegeben und Ehefrauen zahlungskräftigen Liebhabern angetragen, Ehemänner betrogen oder ermordet, Kinder zum Vorteil aller auch außerehelich gezeugt und Tölpel mit und ohne Geld durch elaborierte Tricksereien um den letzten Penny gebracht.
Oikonomia
Dass sich auf den Londoner Bühnen so viele Geldgeschäfte im und ums Haus herum abspielen, ist sicher kein Zufall. Seit der Antike ist das landwirtschaftliche Anwesen das Zentrum ökonomischen Denkens, das eben um Fragen der Verwaltung des Hauses kreist (Oikonomia kommt vom altgr. Oikos, das die Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft bezeichnet, und nomos als Gesetz oder Norm). Dazu kommt, dass sich die soziale Sprengkraft eines skrupellosen Eigennutzens in verwandtschaftlichen Beziehungen wunderbar darstellen lässt. Economies of Early Modern Drama macht überdies eine bildliche Funktion des Hauses aus, das in den domestic tragedies oft eine selbstzerstörerische Kraft entfaltet und in den Londoner Komödien zum Ort einer exzessiven Geldmacherei wird. Sowohl Tragödien als auch Komödien signalisieren die Auflösung einer ethisch fundierten Oikonomia, die hier durch exzessive und entgrenzte Kommerzialisierung ersetzt wird.
Geschlechterordnung
Doch ist damit nicht erklärt, wieso die Geschlechterrollen in oikonomischen Traktaten solch eine überragende Bedeutung haben. Warum gibt ihre Performanz auf der Bühne – etwa in Macbeth oder Othello – ebenso zu denken wie die völlige Abwesenheit von Frau und Kindern in den homosozialen Haushalten Timon of Athens sowie in Jonson’s The Alchemist und Volpone? Das Buch arbeitet heraus, wie die geschlechtliche Arbeitsteilung, die die Ratgeberliteratur der Zeit vorgibt, die Herausbildung getrennter Sphären – der domestischen und der kommerziellen – ermöglicht und wie die häusliche Geschlechterordnung zugleich ein patriarchales Regierungsparadigma abbildet, das die politische Ordnung exemplifiziert und stützt. Die Vermengung ökonomischer und politischer Funktionen im frühneuzeitlichen Oikos begünstigt – gemeinsam mit dem Eigeninteresse als überragendem Motiv sowie einer instrumentalistisch gewendeten praktischen Klugheit, die anders als bei Machiavelli nicht nur dem Prinzen, sondern jedem Hausherrn und Geschäftsmann anzuraten ist – die Weichenstellung für die sich im 17. Jahrhundert ausbildende politische Ökonomie.
Kritik und Anpassung
Das frühneuzeitliche Theater spielt als Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung eine kritische Rolle und tatsächlich kritisieren viele Stücke die egomanische Fokussierung auf das Eigeninteresse und warnen vor der destruktiven Kraft einer rein instrumentalistischen Logik. Doch ist die Kritik an der Kommerzialisierung sozialer Beziehungen nur ein Aspekt der sozialen Arbeit, die das Theater leistet. Indem die Stücke ökonomisches Verhalten radikalisieren und Grenzen aufzeigen, leistet das Theater zugleich eine wichtige Anpassungsarbeit. Zum einen wirkt die Allgegenwart von Eigeninteresse und Geschäftssinn auf der Bühne normalisierend. Zum anderen befördert gerade die Gegenüberstellung von Geldgier und Königsmord auf der einen, und einem nüchternen, geschäftstüchtigen Verhalten auf der anderen Seite die Ausbildung rationalen Eigeninteresses und einer legitimen Form strategischen Handelns.
Shakespeares Tragödien und die London comedies
Mit Shakespeares Tragödien Macbeth, Othello und Timon of Athens diskutiere ich einige der bekanntesten Stücke überhaupt, die auch heute noch vielfach aufgeführt werden. Das Buch historisiert sie jedoch, arbeitet über die Gegenüberstellung mit den Londoner Komödien ökonomische Handlungslogiken heraus und nimmt die Arbeits- und Autoritätsverteilung im Haus ebenso unter die Lupe wie Geschäftspraktiken, Geldwert und die Zeitlichkeit von Kredit. Dabei stellt das Buch stets auch die Frage nach der Form der Dramen und der poetologischen Kraft sozio-ökonomischer Transformationen: Wo und wie prägen sie Themen, Setting, Figuren und Plot und welchen Anteil haben sie an der innovativen Kraft des frühneuzeitlichen Theaters? Die Kommerzialisierung des frühneuzeitlichen Theaters selbst ist hier höchst relevant, denn sie bringt dieses Theater, das uns noch heute anspricht, eigentlich erst hervor.
Anne Enderwitz ist Professorin für englische Literatur mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hat ihre Promotion zum Thema Modernist Melancholia am University College London geschrieben und danach an der FAU Erlangen-Nürnberg sowie dem Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin gelehrt. Nach Vertretungsprofessuren in München und Tübingen und einem Ruf nach Gießen ist sie seit 2020 am Institut für Anglistik und Amerikanistik der HU tätig sowie Mitglied des ZtG.