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„Von Heteronormativität durchzogen“ – Ein Gespräch über die Corona-Krise mit Francis Seeck

Francis Seeck ist Kulturanthropolog*in, Geschlechterforscher*in, Autor*in, Antidiskriminierungstrainer*in. Francis‘ Fortbildungen, Forschung und Lehre drehen sich vor allem um Themen, wie Fürsorge, Trauer und Klassismus – mit einem explizit queer/trans-feministischen Fokus. Francis promoviert am Institut für Europäischen Ethnologie zu trans* und nicht-binärer Care-Arbeit. Aktuell arbeitet Francis Seeck gemeinsam mit Brigitte Theißl an der Realisierung des Sammelbandes „Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen“. Im Rahmen unseres Blogschwerpunktes „Corona“ berichtet sie*er für uns zu dem Thema mit einem Fokus auf Fürsorgearbeit aus nicht-binärer und trans*- Perspektiven.

Marie Springborn

Francis, was bedeutet die Ausbreitung des Coronavirus für dich als queere*r Wissenschaftler*in persönlich und beruflich?

Ich habe das Privileg, meine Doktor*innenarbeit aktuell von zuhause zu Ende schreiben zu können. Mir fehlen jedoch Räume des Austausches, mit anderen heteronormativitätskritischen Wissenschaftler_innen, zum Beispiel in der queer-feministischen Bürogemeinschaft, in der ich einen Schreibtisch habe. Gleichzeitig werden mir meine Klassenprivilegien als Wissenschaftler_in in der Krise umso deutlicher. In meiner Herkunftsfamilie arbeiten viele Personen als Maurer_innen, Lastwagenfahrer_innen oder Pfleger_innen. Sie sind dem Virus direkter ausgesetzt und können nicht von zuhause arbeiten.

Ich lehre Gender und Queer Studies an der Alice-Salomon-Hochschule im Bachelor Soziale Arbeit. Aktuell lerne ich, wie sich digitale Lehre umsetzen lässt. Mir gefällt, dass in virtuellen Räumen der soziale Status weniger inszeniert werden kann, weil wir nicht in sterilen akademischen Räumen sitzen und Habitus über Zoom oft weniger zur Geltung kommt. Auch die Einbindung in Sorgearbeit wird in virtuellen Lehr-Räumen sichtbarer und wird schneller kollektiv besprochen. Von den Studierenden der Sozialen Arbeit, die meistens neben dem Studium in dem Feld berufstätig sind, lerne ich über die Effekte der Corona-Krise, wie sie sich im Kontext der Wohnungslosen- oder Jugendhilfe auswirken und sich dadurch soziale Ungleichheiten verschärfen.

In deiner Arbeit sind soziale Ungleichheiten ein wichtiger Fokus. Momentan promovierst du zu trans* und_oder nicht-binären Perspektiven auf Care bei Beate Binder und Sabine Hark. Darauf, dass diese Krise überproportional stark Menschen betrifft, die von Machtverhältnissen benachteiligt sind, wird an unterschiedlichen Stellen bereits hingewiesen. Welche Effekte kann die momentane Situation deiner Ansicht nach insbesondere auf queere und trans*Menschen haben?

Die Debatte zur Care- und der Corona-Krise ist häufig von Heteronormativität durchzogen. So wird meist ausschließlich von Männern und Frauen gesprochen und von heterosexuellen Beziehungen ausgegangen. Es gibt kaum Forschungen zur Ungleichverteilung von Care-Arbeit über das binäre Geschlechtersystem hinaus. Im Rahmen meiner Doktor*innenarbeit forsche ich zu Formen von trans- und nicht-binärer Sorgearbeit: ob in Selbsthilfegruppen, bei Transitionsbegleitungen oder in gender-nicht-konformen Friseursalons. Ich habe die Interviews und die teilnehmenden Beobachtungen von 2016 bis2018 durchgeführt. Nun habe ich erneut alle 19 Forschungspartner_innen kontaktiert und sie gefragt, wie sich ihr Leben und ihre Care-Beziehungen durch die Corona-Krise verändert haben. Für viele hat die Krise große Auswirkungen, besonders im Sinne einer noch größeren Prekarität. Der Zugang zu körperlichen Transitionsmöglichkeiten wurde unterbrochen, geschlechtsangleichende Operationen wurden aufgeschoben und trans* Beratungen finden meistens nur online statt. Fast alle berichteten über ein Gefühl der Isolation. Für eine Interviewpartnerin, die chronisch krank, älter und von Klassismus betroffen ist, hatte die Krise ganz dramatische Auswirkungen. Sie musste aus einem Hausprojekt in der Großstadt zurück in ihr Heimatdorf ziehen, wo sie nicht mehr geoutet als trans* Person leben kann und von Isolation und Ausgrenzung betroffen ist. Sie meldete sich mit suizidalen Gedanken bei mir. Viele trans* und nicht-binäre Personen arbeiten im „purple collar“-Dienstleistungssektor, zum Beispiel in queeren Bars oder prekär freiberuflich etc. und sind nun von Einkommensausfällen betroffen.

Streitgespräche über Ökonomisierungsprozesse in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, vor allem Personaleinsparungen und -untergrenzen, waren und bleiben brisant. Menschen, die auf medizinische Behandlungen und Pflege angewiesen sind und Menschen, die diese anbieten, haben ein besonders hohes Risiko sich mit dem Virus anzustecken. Queere Communities haben historisch gesehen ein besonderes Verhältnis zu Themen wie Fürsorge, Verwandtschaft und Krankheit. Was sind deine Gedanken zu Queerness und Fürsorge im Kontext dieser Care-Krise?

Die Corona-Krise zeigt, dass wir voneinander abhängig sind. Sie verdeutlicht den gesellschaftlichen Wert von Care. Dieser ist vielen trans*, nicht-binären und queeren Aktivist_innen bereits bewusst. Innerhalb der trans*, nicht-binären und queeren Communities werden kontinuierlich Formen solidarischer Fürsorge entwickelt. Hierbei sollte aktuell mehr darauf geachtet werden, dass diese klassen-übergreifend zugänglich sind. Im Kontext der Corona-Krise wurden Mietumverteilungsfonds in der queeren Community organisiert, jedoch über digitale Apps wie Telegram. Dadurch werden Ressourcen vor allem zwischen Personen verteilt, die einem ähnlichen Milieu angehören und über viel kulturelles und soziales Kapital verfügen. Ich würde mir wünschen, dass queere und trans* Aktivist_innen stärker über den eigenen Milieu-Tellerrand schauen. Ich finde es auch wichtig, gegen die Verschärfungen der Arbeitsbedingungen von Care-Arbeiter_innen zu kämpfen. Die Bundesregierung erlaubte die Ausweitung der täglichen Arbeitszeit auf zwölf Stunden und die Verkürzung der Ruhezeiten auf neun Stunden für systemrelevante Berufe.

Isolation bedeutet für viele queere Menschen auch den Verlust eines Teils von Community – Veranstaltungen und Gruppentreffen fallen aus, Räumlichkeiten bleiben geschlossen und sorgen sich um ihre Existenz. Wie nimmst du diese Entwicklungen in queeren Communities wahr und welche Strategien hast du im Umgang mit physischer Distanzierung gefunden?

Ja, ich denke, das ist eine große Gefahr. Ich frage mich, welche queeren Bars und Räume nach der Corona-Krise noch bestehen werden, da bei diesen oft eh prekär finanzierten Projekten der Verlust an Einnahmen einschlägt. Ich habe das Gefühl, wir wurden teilweise auf Paarbeziehungen und Familienstrukturen zurückgeworfen, so ist es in Zeiten der Krise komplizierter polyamoröse Beziehungen zu organisieren und andere Formen von queerer Gemeinschaft fallen oft weg. Für mich persönlich ist es so, dass ich aktuell oft in einem Modus der physischen Distanzierung lebe, da ich meine Doktor_innenarbeit aktuell beende, um sie im Sommer einzureichen. In meinem Homeoffice-Büro hatte ich oft Besuch von meiner Bezugshündin Muffin, der ich bei ihren Gassi-Runden Gesellschaft leistete. Zudem treffe ich mich regelmäßig mit engen Freund_innen zum Spazieren, vermisse aber größere Community-Veranstaltungen und die Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen. Teilweise habe ich auch in virtuellen Räumen nahe Gespräche gefühlt, da es mit der Distanz manchmal möglich scheint, Verletzlichkeit anders zu zeigen.

 

Francis Seeck ist Antidiskriminierungstrainer_in, Autor_in und Doktorand_in an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie_r lehrt an der Alice-Salomon-Fachhochschule im Bereich Gender und Queer Studies in der Sozialen Arbeit. Zudem ist Francis Seeck beim Institut für Klassismusforschung aktiv. 2017 erschien „Recht auf Trauer. Bestattungen aus machtkritischer Perspektive“, in dem Francis den Zusammenhang zwischen Klassismus und Trauerpraktiken in den Blick nimmt.