Wie können humanitäre und Friedensaktivitäten hinsichtlich des „Nahost-Konflikts“ aussehen? Wie kann eine Gewaltspirale unterbrochen und wie können dabei die Vulnerabilitäten beider Kollektive sichtbar gemacht werden? Der israelische Psychologe Dan Bar-On und der palästinensische Wissenschaftler Sami Adwan plädierten bereits 2003 dafür, das Narrativ des ‚Anderen‘ genau und empathisch zu studieren und über Grenzen offizieller Geschichtsschreibung zu reflektieren. Zu diesen und weiteren Themen fand am 8. Februar 2024 eine studentische Tagung im Rahmen des Projektseminars „Israel-Palästina-Konflikt. Historische Dimensionen, kulturelle Reflexionen und Strategien in der Friedensarbeit“ statt, konzipiert und organisiert von Julia Barbara Köhne. In einem Seminarraum des Instituts für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin berichteten Friedensaktivist*innen aus Israel/Palästina und Berlin von ihren Initiativen, die Gewalt- und Traumageschichte beider Parteien sichtbar zu machen und übergreifende Dialoge zu initiieren. Studierende des Seminars stellten weitere Projekte vor.
Begegnung zweier Realitäten: Combatants for Peace
Die Tagung begann mit zwei Aktivist*innen der bilateralen Bewegung Combatants for Peace, die per Zoom zugeschaltet wurden. Nimala und Roei erzählten von ihrer politischen Arbeit und ihren bisherigen Lebenswegen. „We are living in the same land but in two realities“, sagt Nimala. Sie und Roei seien Ausdruck dieser zwei Realitäten. Roei wurde in einer rechtsnationalen Siedler-Gemeinde geboren. Nimala ist in Jerusalem aufgewachsen, ihr Vater lebte im Westjordanland. Ihre Familie ist entlang von Grenzziehungen und Zugehörigkeiten zu Kollektiven getrennt.
Combatants for Peace wurde 2006 von ehemaligen palästinensischen Kämpfer*innen und IDF-Soldat*innen gegründet. Ihren Anfang nahm die Friedensbewegung in Begegnungen von Mitgliedern beider Gruppen und ihrer Gemeinsamkeit: die mittlerweile abgelegte Bereitschaft, fremde Mitglieder der jeweils anderen Seite, gesellschaftlich als ‚Feinde‘ markiert, zu töten. Roei sagt in dem Zoom-Gespräch, dass ihm in seiner Herkunftsgemeinde Furcht und Hass gegenüber palästinensischen Menschen anerzogen wurden: „[I learned] the only way to fight them is to occupy“. Durch freundschaftliche Begegnungen mit sozialistischen Israelis und später mit Palästinenser*innen lernte er, seine Ängste und Rachefantasien zu hinterfragen. Darauf folgte sein politisches Umdenken. Nimala kam durch ein Training in gewaltfreiem Widerstand, das sie als Studentin absolviert hat, mit politischer Arbeit in Berührung. Sie erzählt, dass sie durch die Bildung, die sie dort erfahren durfte, heute fähig ist, Friedensarbeit zu leisten. In ihrer Ausbildung von Jugendlichen zu Gewaltfreiheit in Bethlehem sieht Nimala das Potenzial, die beiden Realitäten miteinander zu vereinen und friedliche Räume für Gemeinschaftlichkeit und Wertschätzung zu schaffen.
Lea Tsemel: Eine mutige Stimme für Gerechtigkeit
Eine weitere Person, die im Israel-Palästina-Konflikt auf Humanität beharrt, ist Lea Tsemel, bei der Tagung von zwei Studentinnen entlang der Dokumentation Advocate (2019) von Rachel Leah Jones und Philippe Bellaïche vorgestellt. Seit Anfang der 1970er Jahre vertritt die israelische Strafverteidigerin Palästinenser*innen vor Gericht, die wegen gewalttätiger und terroristischer Akte angeklagt sind. Tsemel nimmt in Israel demnach eine kontroverse Rolle ein. Von einigen Medien als „Advokatin des Teufels“ verunglimpft, hat die feministisch orientierte Menschenrechtsanwältin, die sich gegen die aggressive Siedlungspolitik einsetzt, auch schon Morddrohungen erhalten. Als eine Moderatorin der israelischen „Morning Show“ 1999 kopfschüttelnd feststellte, dass es so wirke, als identifiziere sich Tsemel mit den von ihr vertretenen Palästinenser*innen, lächelt sie.
„Wenn die Tat intendierte, sich der Besatzung zu widersetzen, übernehme ich den Fall“, sagte sie 2019 bei einer Pressekonferenz (Advocate (2019). In dieser Dokumentation über Lea Tsemel wird auch über einen 13-jährigen Jungen berichtet, der wegen versuchten Mordes und Waffenbesitzes angeklagt wurde. In der Untersuchung stellte sich demnach heraus, dass Ahmed niemanden verletzt hatte. Dennoch sei er in allen Punkten schuldig gesprochen und nach Erwachsenenstrafrecht zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Tsemels größter juristischer Erfolg war das Urteil des Obersten Gerichtshof von 1999, das physische Folter in israelischer Haft für illegal befand.
Urban Art als Ausdruck von Widerstand
Identität, Auflehnung und Solidarität – wie genau künstlerischer Friedensaktivismus aussehen kann und warum dieser so wichtig ist, stellte eine andere Gruppe Studierender auf der Tagung vor. In den palästinensischen Gebieten wird Urban Art zu einem kraftvollen Ausdrucksmittel, insbesondere während politischer Auseinandersetzungen und eingeschränkter Kommunikation. Nach Ende der ersten Intifada lag der Fokus verstärkt auf der ästhetischen Gestaltung von Wandmalereien und Kalligraphie. Während der zweiten Intifada (2000–2005) dominierten Wandgemälde und Portraits das Stadtbild. Interessant ist auch die Bemalung israelischer Sperranlagen durch palästinensische Street-Artists, die nicht nur ihre eigene Thematik, sondern auch Solidarität mit anderen Konflikten zum Ausdruck bringen.
Die Symbole und Techniken in verschiedenen palästinensischen Städten demonstrieren künstlerische Vielfalt. In Jerusalem sind Graffiti mit Stencils (Schablonen) von anonymen Künstler*innen populär, da sie mit nur geringen Ressourcen auskommen. Häufig gewählte Motive seien die Kuppel des Felsendoms und die Kaaba, so die Studierenden. Bethlehem hingegen zeige vermehrt Tags von Tourist*innen, während in Silwan, einem vorwiegend von Palästinenser*innen bewohnten Stadtteil Ostjerusalems, ein öffentliches Kunstprojekt namens „I Witness Silwan“ entstand. Die Künstler*innen bemalten enteignete Häuser und symbolisierten so ihren Widerstand gegen die Besetzung.
Breaking the Silence
Die nächste vortragende Person berichtete über die Friedensorganisation „Breaking the Silence“, die 2004 von ehemaligen Mitgliedern der Israeli Defense Forces mit dem Ziel gegründet wurde, die israelische Bevölkerung über Unrechtstaten bei Militäreinsätzen in den palästinensischen Gebieten aufzuklären. Meist männliche IDF-Soldaten berichten hier von Erfahrungen als Gewalthandelnde, was eng mit hegemonialen Männlichkeitsbildern zusammenhängt. Auf der Tagung wurde diskutiert, ob sich die Berichtenden neben ihren mutigen ‚Geständnissen‘ als moralische Autoritätspersonen stilisieren, die sich den Palästinenser*innen übergeordnet fühlen, selbst um Empathie ansuchen und dem Gegenüber keine Stimme einräumen. Oder, ob der Aufklärungscharakter der Berichte und die Emanzipation von Gewalt gutheißenden Soldatenimages überwiegen. Zudem wurde bemängelt, dass die Berichte weiblicher und queerer Soldat*innen nur bedingt sichtbar gemacht werden.
Dialoge an Berliner Schulen
Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, kurz KIgA, stellte sich bei der Tagung ebenso vor. Sie kämpft seit zwei Jahrzehnten gegen Antisemitismus, Rassismus, Hass und Intoleranz – und für die Demokratie. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Initiative mehr als 800 Beratungsgespräche geführt und 80 Projekttage veranstaltet. An den Schulen Berlins herrschen Verunsicherung und Wissensdefizite, auch auf Seiten des Lehrpersonals, denen die KIgA mit einer Handreichung zum Umgang mit dem ‚Nahost-Konflikt‘ begegnet. Durch ein beidseitiges Studium von Geschichte und das Einüben von Ambiguitätstoleranz können demnach kritisches Denken und Empathie für die jeweils andere Seite zum Beispiel unter jüdischen und muslimischen Schüler*innen befördert werden.
Enthüllung von Menschenrechtsverletzungen durch Forensic Architecture
Ein weiterer Vortrag beschäftigte sich mit Counter-Forensics, die von der Research Forschungsagentur Forensic Architecture am Goldsmiths College in London praktiziert wird. 2010 von dem israelischen Architekten und Schriftsteller Eyal Weizman gegründet, steht hier das Aufdecken von Menschenrechtsverletzungen und ökologischen Schädigungen im Vordergrund, die von dem Staat, in dem sie stattfinden, nicht adäquat thematisiert werden oder von ihm selbst ausgehen. Im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts werden Counter-Forensics zum Beispiel im Projekt „Living Archaeology in Gaza“ eingesetzt, um die Zerstörung von palästinensischem und anderem kulturellen Erbe aufzudecken und per 3D-Modellierung, Fieldwork, Open Source Intelligence und Photogrammetrie sichtbar zu machen.
Ausblick
Ein Projektseminar zur Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts durchzuführen, war nach Ausbruch des Kriegs in Israel und dem Gazastreifen am Institut für Kulturwissenschaft mitunter umstritten. Unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 war auch die Stimmung im Seminar emotional aufgeladen, da die Studierenden durch ihre Biographien und politischen Erfahrungen in verschiedenster Weise situiert waren. Mit einem multimedialen Ansatz näherten wir uns im Seminar einer vielfach asymmetrisch erzählten Historiographie. Hörstücke, Romane, Fotografien, filmische Dokumentationen, Spielfilme, Theaterstücke sowie Zeitungsartikel und wissenschaftliche Texte wurden als Quellen verwendet, um Multiperspektivität herzustellen.
Als Teilnehmer*innen einer wissenschaftlichen Lehrveranstaltung haben wir uns darin geübt, den öffentlichen Diskurs über den derzeitigen Krieg im Nahen Osten mit differenziertem historischen Wissen anzureichern. Wir haben gelernt, das eigene Wissen und Quellen zu hinterfragen, Meinungen, die die eigene Perspektive in Frage stellen, zu akzeptieren und auszuhalten. Gemeinsam haben wir einen Raum geschaffen, in dem Studierende eine Position beziehen konnten, ohne vorschnell verurteilt zu werden. Einen Raum mit Platz für Irritationen. Der Abschlussabend inklusive eines selbstgekochten gemeinsamen Essens konnte noch mehr Sichtbarkeit für Friedensaktivismus in Israel, Palästina und Deutschland sowie die ihm innewohnende Verve und Menschlichkeit schaffen.
Literatur
Advocate (Israel 2019) von Phillipe Bellaïche und Rachel Leah Jones, Israeli Home Made Docs et al.
Breaking the Silence (Hg.): Breaking the Silence. Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten. Übers. v. Barbara Kunz. Berlin: Econ, 2012.
Five Broken Cameras (Palästina/Israel 2011), Regie: Emad Burnat und Guy Davidi, 90 min.
Peace Research Institute in the Middle East Berghof Conflict Research (PRIME) u.a.: Sami Adwan/Dan Bar-On (Hg.): Das Historische Narrativ des Anderen kennen lernen. Palästinenser und Israelis. Eine Schulbuchinitiative als Beitrag zur Verständigung in Israel und Palästina. März 2003, dt. Übers. 2009 v. Antje Bauer.
Strübbe, Ella: Der Gaza-Krieg im Berliner Klassenzimmer. Ein Spotify-Podcast. Berlin 2024.
Two Kids a Day (Israel 2022), Regie: David Wachsmann, 70 min.
Lasse Kemna studiert seit 2021 Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit Konfliktlösungsstrategien hat er sich bereits intensiv im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust befasst.
Andreas Rumpf studiert seit 2021 Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Er hat sich auch schon vor dem Projektseminar in diversen Lehrveranstaltungen mit Holocaust-Studien auseinandergesetzt.
Ella Strübbe studiert seit 2017 Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität – nunmehr im Master. Ihr Fokus richtet sich auf Postkolonialismus, Hannah Arendt und den Israel-Palästina-Konflikt. Neben dem Studium arbeitet sie als freie Lokaljournalistin.