Wie stellen sich aktuelle gesellschaftliche Konflikte dar, wenn wir sie aus der Sicht juristisch normierter und zugleich vergeschlechtlichter Kollektivierungsprozesse betrachten? Dieser Fragestellung ist die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte interdisziplinäre Forschungsgruppe „Recht – Geschlecht – Kollektivität“ (FOR) seit Januar 2018 nachgegangen. Auf ihrer Abschlusstagung „Recht umkämpft. Feministische Perspektiven auf ein neues Gemeinsames“ (29.–31. Mai 2024) stellte sie ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit vor. Immer häufiger, so eine zentrale Annahme der FOR, werden Kämpfe über Selbstverständnis und Regeln des Zusammenlebens mit den Mitteln des Rechts ausgetragen. Dass sich in ganz unterschiedlichen Feldern empirisch beobachten lässt, wie Recht mobilisiert und wie um Recht gerungen wird, machten die präsentierten Fallstudien ebenso deutlich wie den doppelten Charakter von Recht als ermöglichend und verhindernd.
Recht – Geschlecht – Kollektivität
Im Verlauf der drei Tage wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und im Refugio in Neukölln in fünf Panels, zwei Keynote-Vorträgen und einem Round-Table diskutiert – maßgeblich befördert durch die wechselnden Formate der Präsentationen wie auch durch eine kleine Ausstellung mit Artefakten aus den Forschungsfeldern. In der Eröffnung referierten Beate Binder und Eva Kocher die Geschichte der FOR und deren Selbstverständnis. Die Verbindung der legal gender studies, wie sie Susanne Baer seit vielen Jahren an der HU vertritt, mit unterschiedlichen fachlichen Perspektiven bezeichnete Binder mit Bezug auf die Kulturanthropologin Anna Tsing als produktive „Reibung“. Kocher präzisierte, dass sich die Kollektive einer „mittleren Ebene“, für die sich die FOR interessiert, häufig an einem „Allgemeinen“ abarbeiten und es infrage stellen, um zu einem „neuen“, inklusiven Gemeinsamen zu gelangen. Diese Bewegung wolle die Tagung mit unterschiedlichen Fallstudien nachzeichnen.
Ambivalenzen der Rechtsmobilisierung
Das erste Panel widmete sich den ambivalenten Auswirkungen rechtlicher Mobilisierungspraktiken. Soziale Akteur*innen, die Recht für ihre Anliegen nutzen, sind sich oft der strukturellen Ungleichheiten bewusst, die im Recht verankert sind. Petra Sußner analysierte das Beispiel der KlimaSeniorinnen Schweiz, die ihre spezifische intersektionale Vulnerabilität gegenüber der Klimakrise in einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nutzten, als Raum des rechtlichen Experimentierens. Adrian Lehne zeigte, dass die Schwulenbewegung in den 1980er Jahren Recht sehr gezielt mobilisierte, um konservative Vorstellungen von Seuchenbekämpfung in Bezug auf HIV/AIDS abzuwehren. Patrick Wielowiejski schließlich problematisierte den Topos der Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen auf der Grundlage von Interviews mit zivilgesellschaftlichen polnischen Akteur*innen.
„Rechtskämpfe, in Übersetzungen verstrickt“, betrachtete Susanne Baer in ihrem Keynote-Vortrag am ersten Abend. Ausgehend vom Spannungsverhältnis zwischen Emanzipation und Recht präsentierte die Initiatorin der FOR einen rechtsrealistischen Ansatz, der dazu dienen soll, Rechtskämpfe erfolgreicher zu führen und nachhaltig in Rechtspraxen zu intervenieren.
Kollektive Konflikte, Care und Community-Kapitalismus
Der zweite Tag begann mit einem Panel zu kollektiven Konflikten. Denn auch wenn die FOR grundsätzlich den Blick auf solche Kollektive lenkte, die sich gegenüber einer ausschließenden und normativen Allgemeinheit um inklusivere, partizipative und demokratische Vorstellungen des Gemeinsamen stark machen, wurde in den Fallstudien jeweils deutlich, dass auch die Aushandlungsprozesse innerhalb dieser Kollektive konfliktreich sein können: Merlin Sophie Bootsmann betrachtete das Verhältnis von Lesben und Schwulen in der Geschichte des Kommunikations- und Beratungszentrums homosexueller Männer und Frauen zwischen 1980 und 2000; Maja Apelt berichtete anhand von Interviews mit trans Soldat*innen über die Konflikte um Diversität im Militär; Teresa Löckmann analysierte das Feld aktivistischer Kampagnen, Projekte und Organisationen im Bereich der Menstruation und Bettina Barthel legte den Fokus auf die Frage, wie in selbstorganisierten Kollektiven, die formelle Hierarchien meiden wollen, versucht wird, mithilfe von Binnenverträgen und schiedsgerichtlichen Verfahren ‚am Rande des Rechts‘ Konflikte zu lösen.
Das Stichwort Care stand im Mittelpunkt des dritten Panels. Den programmatischen Auftakt machte Hanna Meißner, deren Beitrag Care nicht im Sinne spezifischer Tätigkeiten zu fassen suchte, sondern als Prinzip der bedürfnisorientierten Versorgung und Erhaltung von Beziehungen und Lebensbedingungen. Darauf folgte Olga Reznikova (Universität Innsbruck) mit einem ethnografischen Beitrag über Fürsorge als Bedingung und Widerspruch des Protestes in den ‚wilden Streiks‘ der LKW-Fahrer in Russland zwischen 2015 und 2018. Eva Kocher schloss mit einem rechtskritischen Beitrag über Rechtsform und Care an. Hier stand im Fokus, wie informale und prozedurale Formen des Rechts, deren Rechtscharakter in einem engen Verständnis von Recht oft infrage gestellt wird, Care aufnehmen.
Mit ihrem Keynote-Vortrag „Perspektiven auf ein neues Gemeinsames: Vom Community-Kapitalismus zur Vergesellschaftung“ griff Silke van Dyk (Universität Jena) diesen Faden auf. Sie kritisierte die Art und Weise, in der soziale Aufgaben an die Zivilgesellschaft delegiert werden, verknüpft mit einer neuen Gemeinschaftsrhetorik, die mit einer vergeschlechtlichten moralischen Ökonomie einhergeht. Diesem Outsourcing sozialer Aufgaben an die Zivilgesellschaft stellte sie die Perspektive der Vergesellschaftung und ein Commoning des Öffentlichen gegenüber.
Die Politik sozialer Figuren, transnationale Kämpfe für Gerechtigkeit und feministische Perspektiven auf Recht, Geschlecht und Kollektivität
Ein Panel zur Politik sozialer Figuren eröffnete den dritten Tag – eingeleitet von einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der sozialen Figur von Beate Binder. Anknüpfend an seine Forschung zum Volksentscheid „Berlin autofrei“ betrachtete Alik Mazukatow Figuren wie den „Radfahrer“, den „Autofahrer“ oder den „Fußgänger“, über die nicht nur der Zustand von Mobilitätsinfrastrukturen verhandelt werde, sondern in denen sich auch Gesellschaftsdiagnosen kondensierten. Matthias Schneider führte aus, wie „Verbraucher*innen“ als soziale Figuren gedacht und welche Grenzziehungen dabei mitproduziert werden. Vanessa von Wulfen schließlich analysierte mit einem Ansatz zu rechtlichem Framing, mit welchen sozialen Figuren das Recht gegen sexualisierte Belästigung arbeitet und welche Implikationen sich daraus für Rechtsarbeit ergeben.
Das letzte Panel der Tagung fokussierte auf die Ambivalenzen in transnationalen Kämpfen für soziale Gerechtigkeit. Andrea Rottmann zeichnete nach, „how love became a human right“: Sie zeigte anhand historischer Quellen, wie Aktivist*innen der Lesben- und Schwulenbewegung das in den 1970er Jahren dominant werdende Menschenrechtsparadigma strategisch einsetzten in dem Versuch, die Mission von Amnesty International um die Rechte queerer Menschen zu erweitern. Wie sich migrantische Fahrradkurier*innen in Berlin jenseits etablierter Gewerkschaften in Arbeiter*innenkollektiven organisieren und welche Hindernisse sie in Bezug auf ihre interne Heterogenität dabei zu überwinden haben, diskutierte Joanna Bronowicka. Marie-Sophie Keller schließlich unterzog die Versuche, transnational agierende Unternehmen stärker zu regulieren und für Menschenrechtsverletzungen entlang ihrer Lieferketten in die Verantwortung zu nehmen, einer kritischen Betrachtung.
Im abschließenden Round-Table diskutierten Andrea Rottmann, Beate Binder, Ida Westphal, Eva Kocher, Matthias Schneider und Sabine_ Hark, wie ihre Forschungen mit feministischen Kämpfen und Bewegungen verbunden sind, sowohl in Bezug auf ihre analytischen Instrumente und die interdisziplinäre Zusammenarbeit als auch auf die politischen Auseinandersetzungen in den Forschungsfeldern.
Die Tagung brachte nicht nur die Ergebnisse und analytischen Schwerpunkte von über sechs Jahren interdisziplinärer feministischer Rechtsforschung auf den Punkt. Sie setzte diese Arbeit auch fort, indem sie zeigte, dass die Universität trotz neuer Herausforderungen in der Gegenwart ein Ort des kritischen Denkens und kontroversen Argumentierens bleibt. Wir danken allen Kolleg*innen und Teilnehmenden für die anregenden Diskussionen!
Titelbild:
Logo des Forschungsprojektes „Recht umkämpft. Feministische Perspektiven auf ein neues Gemeinsames“, Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Patrick Wielowiejski ist promovierter Kulturanthropologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er die DFG-Forschungsgruppe „Recht – Geschlecht – Kollektivität“ koordiniert. Seine Forschungsinteressen sind Politik- und Rechtsanthropologie sowie Geschlecht und Sexualität in der äußersten Rechten. Seine Dissertation mit dem Titel „Rechtspopulismus und Homosexualität: Eine Ethnografie der Feindschaft“ erschien am 18. September 2024 im Campus Verlag (Open Access).