Bis zum Schluss betrachtete sich Hannah Arendt (1906-1975) nicht als Philosophin. Auch nicht als Widerstandskämpferin, nicht als Politikerin und schon gar nicht als Feministin. Doch noch ein Jahrhundert später wirkt ihre Art zu denken nach: In Philosophie, Politik, Feminismus. Ihre Texte sorgten für Empörung, für Widerspruch, für Konflikte. Ihr Protest: das Denken.
Hannah Arendt war eine größere Feministin, als sie sich selber sah: Eine Theoretikerin in männerdominiertem Umfeld, eine Frau, die an Universitäten lehrte, die tat, was sie wollte, ohne es sich von anderen diktieren zu lassen. Dass sie in ihrem Handeln eine Ausnahme war, beeindruckte sie kaum. Emanzipation war für sie weder Frage, noch Problem. Und erst recht nichts Besonderes:
„Das Problem selber hat für mich persönlich keine Rolle gespielt. […] ich habe einfach gemacht, was ich gerne machen wollte.“ (Arendt, 1964)
Freiheit war für Arendt das wertvollste Gut im Handeln. Unterdrückung gab sie daher keinen Platz, nicht als Frau, nicht als Jüdin.
Im Handeln wirken wir
Emanzipation geschieht durch Wirken. Arendt verrät uns: Im Handeln wirken wir immer. Unser Wirken in der Welt teilt sich nach Hannah Arendts Vita activa in drei Bereiche, Arbeiten-Herstellen-Handeln. Im Handeln schafft der Mensch Wirkung, die nicht nur Geschichte schreibt, sondern Geschichte bewirkt. „Handeln […] schafft die Bedingungen für Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit Geschichte“. (Arendt, 2020 [1958]) Im Handeln wirkt der Mensch in seinem größten Zusammenhang. In diesem wirkt er politisch.
Unser Handeln ist politisch, doch immer menschlich
Handeln nach Hannah Arendt ist politisch. Doch was ist Handeln überhaupt? Wo handeln wir? Wie handeln wir? Unser Handeln ist „die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt.“ (Arendt, 2020 [1958]). Jedes Handeln ist ein Handeln als Menschen zwischen Menschen. Wir handeln politisch, doch gleichzeitig immer menschlich. Politisch ist menschlich. Und unser Handeln, politisch wie zwischenmenschlich, bestimmt, wer wir sind und zu was für einem Ort unsere Welt wird.
Unser Handeln soll verändern
Wir handeln in Natalität: Jede unserer Handlungen lässt sich auf den Ursprung zurückführen, dass wir in die Welt geboren wurden. Wir handeln in menschlicher Pluralität: Jedes Handeln basiert auf der Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern wir als Menschen im Plural gemeinsam auf der Welt leben. So Hannah Arendt. Es ist unsere Grundbegabung zu handeln im Neuanfangen, Einzigartigsein, Initiative ergreifen. Etwas in Bewegung bringen. Unser Handeln löst etwas aus. Unser Handeln soll wirken. Damit verändern wir.
Wirklichstes Handeln ist der Aktivismus
Das Grundelement von Hannah Arendts Wirken war der Protest, ihre Form von Emanzipation und von Freiheit. Protest ist emanzipiertes Handeln, politisches Handeln, wirkendes Handeln. Handeln soll wirken, indem es verändert. Ein zentraler Weg etwas zu verändern, liegt für Hannah Arendt in der Politik. Doch die darin tiefste Form der Veränderung, die wirklichste Handlungserfahrung, geschieht im politischen Widerstand, einem gewaltlosen, organisierten, gemeinschaftlichen Protest, den wir heute im politischen Aktivismus antreffen. Dabei handle es sich um „etwas Echtes“ (Arendt, in: Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt), die elementarste Erfahrung von Freiheit und elementarste Wirkung einer Veränderung. Es liegt eine „ungeheure Macht in gewaltloser Aktion und im Widerstand“ (Arendt, in: Prinz, 2019).
Ohne Vielfalt kein Handeln
In Vielfalt und Individualität entsteht das stärkste Handeln in Gemeinschaft. In diesem müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, was wir alle gemein haben: Wir sind Menschen mit Interessen in einer gemeinsamen Welt. Unser Handeln braucht Gleichheit und Verschiedenheit. Ohne Gleichheit kein Handlungsraum, ohne Verschiedenheit kein Handlungsgrund. Besonderheit ist eine Gabe des Handelns, die Gabe herauszustechen, zu reflektieren, wahrzunehmen, zu unterscheiden. Der Mensch wirkt zusammen, er wirkt unterschiedlich und er wirkt mit seiner Einzigartigkeit.
Fremdsein versus Ausgrenzung
Vielfalt ist der Treibstoff unseres gemeinsamen Handelns. Ausgrenzung das Leck in unserem gemeinschaftlichen Handlungsraum. Wir alle werden als „Fremdlinge“ (Arendt, 2020 [1958]) in die Welt geboren. Fremd zu sein bedeutet, neu sein. Erst hieraus sind wir fähig zu handeln. Es ist unsere stärkste Gemeinsamkeit. Womit legitimiert sich damit Ausgrenzung? Wieso grenzen wir aus, was wir gemein haben? Wieso grenzen wir aus, was unser Handeln zusammenhält? Wir alle kennen das Gefühl von Ausgrenzung. Warum geben wir anderen ein Gefühl, das wir kennen, selbst gefühlt haben und selber nicht fühlen wollen?
Kein Handeln ohne Miteinander
Wieso ist Vielfalt so wichtig für uns und Ausgrenzung so schädlich? Hannah Arendt kannte die Antwort: „In Gemeinschaft ist der Mensch am stärksten“ (Arendt, 2020 [1958]). Unser Netz des Miteinanders baut sich aus individuellen Interessen zusammen, über die wir agieren und uns austauschen. Wenn diese Vielfalt schwindet, bröckelt unser Miteinander. Es entstehen Ausgrenzung und Entfremdung. Wir subjektivieren uns zu stark nach innen und entfremden uns von der Welt, aus unserem Miteinander, handeln und sprechen nur noch aus unserer Perspektive, ohne die Perspektiven von Vielen als Orientierung zu nehmen. Vor allem in Krisenzeiten werden dadurch Verschwörungstheorien lauter, politische Korruption, Machtmissbrauch und Vertrauensverlust gefährlich stark.
Handeln in Krisenzeiten
Der Verlust des Miteinanders ist auch immer ein Verlust von Austausch. Die Abhängigkeit des menschlichen Handelns und Sprechens vom Miteinander unterstreicht die Bedeutsamkeit von Zusammenhalt und humanitärem Umgang. Hannah Arendt offenbart uns erschreckend, was wir durch falsches Handeln dem Miteinander antun und was das Versagen des Miteinanders im Handeln und seiner Wirkung auslösen kann: Falsche Beweggründe und politische Instabilität. Und die haben oft fatale Konsequenzen. Ausgrenzung und Weltentfremdung – das bringt uns auseinander, das macht unser Handeln schwach.
Nationalität „Welt“
Hannah Arendt zeigt uns deutlich, wie wichtig, und in Krisenzeiten wichtiger denn je, der Zusammenhalt ist. Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der jede*r nur für sich selbst kämpft? Sollen wir vergessen, dass wir alle Menschen sind, die diese Welt, über Landesgrenzen hinweg, als ihr Zuhause ansehen? Wünschen wir uns die Vergangenheit für unsere Nachwelt und vor allem: für das Hier und Jetzt? Unser Verhalten kann die Welt verändern, in zwei Richtungen. Wir sollten uns bewusstmachen, dass wir in unserem Handeln immer wirken und keine Handlung rückgängig gemacht werden kann. Deshalb sollten wir miteinander handeln, nicht gegeneinander, integrieren statt ausgrenzen, vergeben und keiner Rache folgen, nicht verurteilen, sondern verstehen.
Wir können handeln. Handeln in Respekt und Verantwortung. Handeln für unsere Nationalität „Welt“. Veränderung entsteht durch Handeln, durch Wirken. Hannah Arendt jedenfalls hat gewirkt.
Literatur:
Alois, Prinz: Hannah Arendt oder die Die Liebe zur Welt, Berlin: Insel 2019.
Hannah Arendt mit Günter Gaus: „Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt (Interview)“, Sendung RBB 1964.
Arendt, Hannah: Über die Revolution, München: Piper 2019.
Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben [1958], hg. v. Thomas Meyer, München: Piper 2020.
Beitragsbild: Hannah Arendt, von Ryohei Noda, CC BY 2.0
Lisa Marie Jordan ist 23 Jahre alt und studiert im Master Europäische Literaturen an der HU. Ihren Bachelor machte sie, ebenfalls an der HU, in Deutscher Literatur und Philosophie.