Seit Januar 2020 bin ich Juniorprofessorin für Islamische Glaubensgrundlagen, Philosophie und Ethik an der Humboldt-Universität, aber durch die Pandemie ist der Schreibtisch im Institutsgebäude in der Hannoverschen Straße noch immer nicht richtig zu meinem Arbeitsplatz geworden. Auf dem Bild sieht man stattdessen den Esstisch zu Hause, an dem gezoomt, gelesen und geschrieben wird – Online-Lehre und Forschung in Corona-Zeiten. Als größten Nachteil dieses Arbeitsplatzes empfinde ich, dass nichts dauerhaft liegen bleiben kann – denn eigentlich helfen mir Gegenstände, die manchmal auch etwas chaotisch auf dem Schreibtisch liegen, meine Gedanken zu strukturieren und sind für mich die beste To-do-Liste überhaupt. Das gewöhnliche Chaos an meinem Arbeitsplatz steht in einem gewissen Widerspruch zu meiner wissenschaftlichen Aufgabe: Als muslimische Theologin beschäftige ich mich hauptsächlich mit der systematischen Theologie des Islams, der Kalām-Tradition. Diese Disziplin ist für die Systematisierung der islamischen Glaubensgrundlagen zuständig, beschäftigt sich aber auch mit der kritischen Hinterfragung der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten.
Auf meinem Schreibtisch finden sich in diesen Tagen Spuren von zweien meiner Forschungsschwerpunkte: Auf der einen Seite liegt rechts ein Stapel von Büchern mit verschiedenen Nachschlagewerken, die ich für ein Buchprojekt zur Medizinethik in Judentum und Islam benötige. Auf der anderen Seite liegen links die Druckfahnen für einen Artikel, in dem ich Gender zum Ausgangspunkt für eine Neubetrachtung der islamischen Glaubensgrundlagen genommen habe. Mit diesem Schwerpunkt hängt auch das Programm der Tagung „Divers kontrovers!“ der European Society of Women in Theological Research zusammen, das auf dem Computer zu sehen ist und an deren Organisation ich beteiligt bin. Rechts unten liegt noch ein Stapel mit Vokabelkarten zum palästinensischen Arabisch. Zuletzt steht auf meinem Schreibtisch fast immer ein Minztee.
Islamische Ethik
Der Bereich der Ethik ist aktuell das Thema, zu dem ich am meisten arbeite. Während in der islamischen Tradition in ganz verschiedenen Disziplinen der Theologie ethische Diskussionen zu finden sind – zum Beispiel im Islamischen Recht, in der islamischen Philosophie oder auch in der systematischen Theologie – ist die Ethik an sich keine eigenständige Disziplin. Trotzdem sind gerade heute ein Großteil der Herausforderungen, mit denen Muslim*innen konfrontiert sind, ethischer Natur: Wie kann man sich aus einer islamisch-theologischen Perspektive zu medizinethischen Fragestellungen wie derjenigen nach der Verteilung von Beatmungsgeräten in Extremsituationen positionieren? Wie sollte eine islamische Sexualethik aussehen und welche Haltungen kann man aus der islamischen Tradition zu geschlechtsverändernden Operationen an Inter* Kindern entwickeln? Diese und andere Fragen bearbeite ich mit mehreren Kolleg*innen im Projekt Wege zu einer Ethik, das den Schwerpunkt auf Sexualethik legt.
Die Beschäftigung mit der reichen Tradition an ethischen Diskussionen kann dazu führen, neue Perspektiven auf scheinbar eindeutig geklärte Themen der klassisch-islamischen Theologie zu gewinnen. Ein Beispiel dafür ist die traditionelle Position des Islamischen Rechts, die es unter Rückgriff auf die normativen Bezugstexte für erlaubt erklärt, dass ein muslimischer Mann bis zu vier Frauen heiratet. Dies ist aber nicht die einzige Form der Positionierung, die sich in einer der klassisch-islamischen Wissenschaftstraditionen findet: So wird im Rahmen unseres Projekts unter anderem eine ethische Abhandlung des osmanischen Gelehrten Kınalızade Ali Efendi (gest. 1572) bearbeitet, die in der Tradition der antiken griechischen Philosophie steht. In diesem Text wird unter Rückgriff auf die Vorstellung der Seele die Polygamie kritisch bewertet: So wie eine Seele nicht in zwei Körper gehöre, wäre es ebenfalls schädlich, wenn ein Mann zwei Frauen hätte. Diese Erwägung, die weniger auf der Ebene des rechtlich Erlaubten, sondern eher auf der des glücklichen Lebens angesiedelt ist, kann aus heutiger Sicht auf die Meinungsvielfalt in der islamischen Tradition auch in kritischen Fragen verweisen.
Islamische Theologie und Gender
Erkenntnisse der genderorientierten Forschung sind in der Islamischen Theologie in den vergangenen Jahren immer mehr in den Fokus geraten, auch wenn sich die Lage in den theologischen Teildisziplinen stark unterscheidet. Die Vorreiter*innenrolle nimmt sicher die feministische Koranexegese ein, in welcher die patriarchalischen Strukturen des 7. Jahrhunderts auf der Arabischen Halbinsel reflektiert worden sind. Hier wurde auch versucht, das Potenzial des Korans für eine geschlechtergerechte Lektüre herauszuarbeiten. Während diese Herangehensweise, die vor allem mit den Namen von Amina Wadud (Qur’an and Woman, 1999) und Asma Barlas (“Believing Women” in Islam, 2002) verbunden ist, nicht ohne Kritik geblieben ist, sind andere Bereiche wie der Kalām als islamische systematische Theologie bislang noch viel weniger aus einer genderorientierten Perspektive in den Blick genommen worden. Im Zusammenhang der Kalām-Tradition sind vor allem Fragen des Gottesbildes und geschlechtlich konnotierter Eigenschaften Gottes von besonderer Bedeutung. Mich interessieren aber auch bislang zu wenig betonte prophetologische Debatten aus dem Andalusien des 10. Jahrhunderts, in denen die Prophetie von Frauen anerkannt wird.
Theologische Genderforschung lässt sich oft besonders gewinnbringend in einer interreligiösen Perspektive betreiben. Zum einen stehen Theolog*innen der jüdischen, christlichen und islamischen Traditionen häufig vor ähnlichen Herausforderungen. So hatte ich beispielsweise vor Kurzem die Möglichkeit, im Rahmen eines Podcasts mit Prof. Katharina Pyschny, meiner katholischen Kollegin an der HU, über Geschlecht und Sexualität sowie Potenziale und Herausforderungen im Umgang mit Bibel und Koran zu diskutieren. Es zeigt sich immer wieder, dass muslimische und christliche Theolog*innen ähnliche Strategien verwenden, um geschlechtergerechte Lesarten der religiösen Bezugstexte zu entwickeln. Zum anderen sind die Traditionen der abrahamitischen Religionen aber auch wirklich verflochten, sodass die gemeinsame Beschäftigung auch dazu führen kann, das Andere im Eigenen zu erkennen.
Ein Beispiel für eine solche Verflechtung findet sich in der koranischen Schöpfungstheologie, in Sure 4, Vers 1, wo es heißt: „Ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen erschuf, aus diesem ein Partnerwesen erschuf und aus diesen beiden viele Männer und Frauen sich verbreiten ließ.“ Während ausgehend von einem verbreiteten Verständnis der Erzählung über Adam und Eva häufig davon ausgegangen wird, dass hier die Schöpfung Adams und die darauffolgende Erschaffung Evas aus dessen Rippe angedeutet wird, führt eine Beschäftigung mit etwa zeitgleichen jüdischen Quellen aus der Umwelt des Korans zu einem anderen Bild: Nach diesen stammen die Menschen von einem ersten Wesen ab, aus dem alle anderen Menschen geschaffen wurden. Dieser Urmensch war weder männlich noch weiblich, sondern trug beide – oder alle? – Geschlechter in sich. Die Kenntnis dieser jüdischen Traditionen kann dazu führen, den Koran neu zu lesen und zu einem besseren Verständnis der Schöpfungstheologie zu kommen.
Mira Sievers ist Juniorprofessorin für Islamische Glaubensgrundlagen, Philosophie und Ethik am neu gegründeten Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität. Zuvor hatte sie in Frankfurt am Main und an der School of Oriental and African Studies in London Islamische Theologie studiert und dann über Schöpfungstheologie im Koran und in der Kalām-Tradition promoviert. Aktuell beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit islamischer Ethik und arbeitet an der Edition und Übersetzung von Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbārs „Kurzer Abhandlung über die Glaubensgrundlagen“.