Das Foto zeigt eine Bücherreihe auf einem Regalbrett, bestehend aus 40-50 unterschiedlichen Buchtiteln.

Queer Reading online entdecken

Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175 – vom Inkrafttreten des Paragrafen im Jahr 1872 bis zu seiner endgültigen Abschaffung 1994 – entstand unter heteronormativen Bedingungen. Jene Literatur, die sich dem heteronormativen gesellschaftlichen „Grundzustand“ (Kubowitz 2012) aus Heterosexualität und Zwei-Geschlechtersystem widersetzte, ihn zurückwies oder kritisierte, entwickelte verschiedene Schreibstrategien, die wiederum spezifische Lektürepraxen erfordern. Queer Reading beschreibt diese Lektüreverfahren. Ausgehend von den Strukturen, die auf der Textoberfläche zu beobachten sind, identifiziert und analysiert es Formen des Begehrens und Vorstellungen von Geschlecht, die sich der Norm entziehen.

Auf einer neuen Website informiert das Projekt „Queer Reading – eine Methodologie. Deutsche Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175“ rund um Methoden heteronormativitätskritischer Lektüreverfahren und zu queerer deutschsprachiger Literatur. Das Projekt erarbeitet eine systematische Einführung in die Methodologie des Queer Readings, die erstmals die verschiedenen Ansätze in ihrer Vielfalt und in ihrem Zusammenhang darstellt. Ausgewählte Methoden– und Literaturporträts bilden die bereits existierende Methodenvielfalt und ihre Forschungsgeschichte exemplarisch ab. Daneben bietet die Website exemplarische queere Lektüren und Bibliografien zur Forschungsliteratur und deutschsprachiger Literatur.

Queer Reading als hermeneutische Methode

Queer Reading ist mit der Methode des Close Reading vergleichbar, legt aber den Fokus auf nicht-heteronormative narrative Strukturen, Handlungsebenen, Motive und Figuren. Intersektional erweitert beschränkt sich der Begriff ‚queer‘ nicht auf Sexualität und Begehren, sondern berücksichtigt die Verschränkung mit anderen Formen der Diskriminierung. Es geht beim Queer Reading also nicht darum, die (vermeintliche) Homosexualität von Figuren und/oder Autor*innen aufzudecken, sondern darum, zu analysieren, wie in literarischen Texten Heteronormativität kritisiert, dekonstruiert oder unterlaufen wird oder welche alternativen Vorstellungen von Begehren, Geschlecht oder Gemeinschaft ihr entgegengesetzt werden.

Besonders interessant für queere Lektüren sind Momente der Unordnung, Ambivalenz und Störung eindeutiger Sinnbildung in literarischen Texten. Diese „Leerstellen“ (Wolfgang Iser) begründen die Deutungsoffenheit literarischer Texte und fungieren als Eintrittspunkte für ein Queer Reading. Daraus ergeben sich zentrale Fragen für das Projekt: Welche wiederkehrenden Textelemente eignen sich als Ansatzpunkte für queere Lektüren? Wie funktionieren sie semantisch und formal? Welcher Lektürehaltung und welchen Wissens bedarf es, um diese Leerstellen zu erkennen?

Gay Reading, Lesbian Reading und Queer Reading

Die Forschungsgeschichte des Queer Reading lässt sich zwar nicht als lineare Entwicklung erzählen, allerdings waren zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Strömungen vorherrschend. Erste Vorstöße, im weiteren Sinne queere Literaturgeschichten und Anthologien zu bilden, wurden bereits in der Kaiserzeit und Weimarer Republik unternommen. In den queeren Zeitschriften aus dieser Zeit wurden beispielsweise Werke und Biografien kanonisierter Autor*innen wie Annette von Droste-Hülshoff und Friedrich Schiller für eine lesbische und schwule Literaturgeschichte reklamiert. Queere Bestrebungen jeglicher Art fanden mit dem Nationalsozialismus ein jähes Ende. Erst in den 1970er und 80er Jahren nahmen im deutsch- und englischsprachigen Raum die Forschung und Theoriebildung zu lesbischer und schwuler Literatur wieder Fahrt auf. Zunächst ging es darum, überhaupt erst einmal Literatur mit lesbischer und schwuler Thematik zu identifizieren. Madeleine Martis Studie Hinterlegte Botschaften (1991) zur Darstellung lesbischer Frauen in der Literatur der BRD, DDR, Österreich und der Schweiz zwischen 1945 und 1991 sowie die Gründung der Zeitschrift Forum Homosexualität und Literatur (1987-2007) sind wichtige Wegmarken in der deutschsprachigen Forschungslandschaft zu queerer Literatur.

Ein weiterer Forschungszugang richtete sich auf die Produktivität des ‚Tabus Homosexualität‘ und zielte auf die Identifikation homoerotischer Subtexte in kanonischen Werken männlicher Autoren. Dazu zählen etwa James Creeches Entwurf eines ‚Closet Writing‘ und ‚Gay Reading‘ (1993), Marita Keilson-Lauritzs Studie zur Maskierung und Signalisierung „homoerotischer Konstellationen“ (Keilson-Lauritz 1987, 64) am Beispiel des literarischen Werks Stefan Georges sowie Heinrich Deterings Konzept der literarischen Camouflage.

Die US-amerikanische Queer Theory ist eine wichtige Impulsgeberin für Methoden des Queer Reading, die sich etwa ab dem Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre herausbildeten. Eve Kosofsky Sedgwick richtete in ihrer wegweisenden Studie Between Men (1985) den Blick auf das Begehren, das sich in textuellen und narrativen Strukturen manifestiert, und entkoppelte die Textanalyse von den Biografien der Autor*innen. Die Suche nach lesbischen und schwulen Subtexten wurde zunehmend als komplexitätsreduzierend wahrgenommen, und die Theoriebildung konzentrierte sich stärker auf die historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte, in denen queere Literatur geschrieben und gelesen wurde. Insbesondere in den letzten Jahren ist die Instanz der Leser*innen zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. Wie die Anglistin und Geschlechterforscherin Dana Luciano betont, ist aus queerer Perspektive die Frage, wie gelesen wird, untrennbar mit den Fragen verbunden, wer liest und warum gelesen wird (Luciano 2021: „how one reads is always bound up with why and for whom one reads in the first place“). Studierende und im Projekt beschäftigte Praktikantinnen haben zu ausgewählter Forschungsliteratur einführende Methodenporträts erarbeitet, die nach und nach auf der Website veröffentlicht werden.

Queere Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175

Vom Inkraftreten im Jahr 1872 bis zur endgültigen Abschaffung im Jahr 1994, also mehr als 120 Jahre lang, war der Paragraf 175 in verschiedenen Fassungen Bestandteil des deutschen Strafrechts. Er kriminalisierte sexuelle Handlungen zwischen Männern. Obwohl er Frauen, trans Personen und nicht-binäre Menschen nicht explizit einschloss, hatte die repressive Gesetzeslage konkrete Auswirkungen auf alle Menschen, die nicht den gesetzlich wie gesellschaftlich verankerten Normen des Zweigeschlechtersystems und der Heterosexualität entsprachen. Im Zusammenspiel mit anderen Sittengesetzen wirkte der Paragraf 175 auf die soziokulturelle Ordnung ein. Gleichzeitig flossen gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht, Sexualität und Sittlichkeit in die Rechtsordnung ein und standen mit ihr in einem spannungsvollen Wechselverhältnis (Springmann 2018, 24) Angelehnt an die Revisionen, denen der Paragraf 175 unterzogen wurde, untersucht das Projekt queere deutschsprachige Literatur, die seit der Kaiserzeit bis in die frühen 1990er Jahre in den verschiedenen deutschen politischen Systemen erschienen ist. Dabei stehen einerseits jene Werke im Fokus, die ‚an der Oberfläche‘ Queerness erzählen, also etwa queere Figuren beinhalten oder dezidiert queere Themen verhandeln. Zum anderen zählen wir jene Werke zur queeren Literatur, die sich kritisch mit Heteronormativität auseinandersetzen und diese dekonstruieren, oder die bereits queer gelesen wurden.

Auf der Projektwebseite werden kurze Literaturporträts zu ausgewählten literarischen Werken veröffentlicht, die gemeinsam mit Studierenden, studentischen Mitarbeiterinnen und Praktikantinnen erarbeitet wurden. Sie führen in die queeren Lektürepotenziale der Texte ein und sollen in ihrer Gesamtheit das Spektrum queerer deutschsprachiger Literatur schlaglichtartig abbilden. Daneben erscheinen auf der Seite vertiefende Lektüren, die queere Lektüreansätze exemplarisch aufbereiten. Bereits online ist eine Übersicht über literarische Auftritte des Sexualwissenschaftlers und Aktivisten Magnus Hirschfeld (1868–1935) in Romanen und Erzählungen von 1908 bis 2024. Im Oktober erscheint ein exemplarisches Queer Reading zum Prosastück Ruth der Schweizer Autorin Annemarie Schwarzenbach (1908–1942), die als queere Ikone avant la lettre gilt.

Sie möchten ein Literatur- oder ein Methodenporträt beisteuern oder haben Vorschläge für die Bibliografien der Primär- und Sekundärliteratur? Melden Sie sich gern unter kulturgeschichte-sexualitaet (ät) hu-berlin.de.

 

Literatur

Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 2002.

Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB Literaturwissenschaft). München 1994.

Keilson-Lauritz, Marita: Von der Liebe die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges (Homosexualität und Literatur 2). Berlin 1987.

Kubowitz, Hanna: The Default Reader and a Model of Queer Reading and Writing Strategies Or: Obituary for the Implied Reader. In: Style 46 (2012), Nr. 2, S. 201–228.

Marti, Madeleine: Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945.  Stuttgart 1991/1992.

Sedgwick, Eve Kosofsky: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire (Gender and culture). New York 1985.

 

Beitragsbild

Bücherreihe, Feature der Website Queer Reading, Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Projektteams.

 

Die Forschungsstelle ist eine interdisziplinäre Einrichtung, die 2012 von Prof. Dr. Andreas Kraß gegründet wurde. Die Forschungsprojekte bearbeiten aus literatur-, kultur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive Fragestellungen zur Kulturgeschichte der Sexualität im 19. und 20. Jahrhundert. Seit Juli 2016 finanziert sich die Forschungsstelle vollständig aus eingeworbenen Drittmitteln.

Seit Mai 2023 arbeiten die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Janin Afken und Liesa Hellmann gemeinsam mit Andreas Kraß an einem neuen Forschungsprojekt: Queer Reading – eine Methodologie. Deutsche Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175 (1872–1994) (gefördert von der Thyssen-Stiftung).