Weichen von Bahngleisen im Nebel

Partizipation und Reproduktion. Fach- und Führungskräfte als arbeits- und geschlechterpolitische Akteure der Deutschen Bahn AG

Fach- und Führungskräfte stehen im Fokus neuer Managementstrategien, die eine Veränderung von Führungs- und Organisationskulturen anstreben. Insbesondere die als „kooperativ“ oder „partizipatorisch“ beschriebenen Personalführungsmodelle, die mehr Autonomie in der Arbeit versprechen, zielen auf eine Stärkung von Mitarbeiter*innenpotenzialen zur Selbststeuerung. Damit werden auch die traditionell männlich dominierten Führungskulturen und hierarchischen Autoritätsbeziehungen in den Unternehmen in Frage gestellt. Welche Auswirkungen dies auf die betriebliche Geschlechterpolitik hat, wurde in einem zweijährigen Forschungsprojekt in der Deutschen Bahn AG untersucht.

Die Reproduktionskrise weiblicher und männlicher Fach- und Führungskräfte

Es zeigte sich, dass die Ambivalenzen subjektivierter Arbeit, insbesondere die enormen, der subjektiven Kontrolle weitgehend entzogenen beruflichen Anforderungen, auch bei hochqualifizierten Fach- und Führungskräften nicht selten in eine Reproduktionskrise führen. Die Fach- und Führungskräfte gelten zum einen als „Strukturgeber*innen der organisationalen Erneuerung und haben zum anderen – wie im Fall der DB AG – oft ebenfalls mit „Höchstleistungen“ verbundene familiäre Verpflichtungen. Männlichen Führungskräften, die in der Regel einen ausgeprägten Leistungsethos mit hoher Karriereorientierung verbinden, fällt es hier angesichts der betrieblichen „Präsenzkultur“ und permanenten Reorganisation des Konzerns schwer, eine einigermaßen ausgewogene Balance von Arbeit und Leben zu finden, auch wenn sie die damit verbundenen persönlichen Dilemmata heute kritischer reflektieren als im Rahmen einer vor 10 Jahren hier durchgeführten soziologischen Studie. (Nickel/Hüning/Frey 2008) Weibliche Führungskräfte versuchen demgegenüber, sich über formal reduzierte Arbeitszeiten, die zugleich ihre Karriere bremsen, der einseitigen, das Private zunehmend vereinnahmenden Entgrenzung beruflicher Arbeit zu widersetzen. Sie sind es aber auch, die mit diesen so gewonnenen Zeitreserven die unterschiedlichen Taktgeber des Familienlebens koordinieren. Die bei männlichen und weiblichen Führungskräften festzustellende drastische Reduktion ihrer Reproduktionsansprüche zulasten von individueller Regeneration, Rekreation und gesellschaftlicher Partizipation führt zu Konflikten, ohne dass diese aber öffentlich artikuliert werden oder sich dafür im Unternehmen ein geeigneter Resonanzraum findet.  Im Vergleich zu den Führungskräften sind Fachkräfte, nicht selten auch männliche, eigensinniger auf ihre Reproduktionsansprüche bedacht. Sie insistieren stärker auf ein Gleichgewicht von Arbeit und Familienleben und reduzieren deshalb oft nicht nur ihre Arbeitszeit, sondern entscheiden sich häufig auch bewusst gegen einen vertikalen beruflichen Aufstieg. Allerdings gilt auch hier das Reduktionstheorem: Neben dem Beruf und der Familie bleibt wenig Spielraum für individuelle Regeneration und sonstiges Engagement.

Wie kann geschlechtergerechte Arbeitspolitik revitalisiert werden?

Der innere Zusammenhang von Arbeit und Leben war und ist historisch-kulturell vor allem über ungleiche Geschlechterverhältnisse strukturiert. Initiativen zur Demokratisierung der Arbeit sind daher nicht vom Thema Geschlechterdemokratie zu trennen. Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung lautet daher: Die betriebliche Geschlechterpolitik ist dringend zu revitalisieren! Eine zeitgemäße, den gravierenden Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt Rechnung tragende betriebliche Geschlechterpolitik muss auf verschiedenen Ebenen ansetzen.

Zum einen gilt es, Fragen vorhandener (betrieblicher und lebensweltlicher) Geschlechterungleichheit wach zu halten und sie als weithin noch immer ungelöst zu re-thematisieren. Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung sind keine Selbstläufer technischer oder technologischer Innovation. Sie stellen sich auch in der Arbeitswelt 4.0 nicht von selbst her. Insofern muss sich betriebliche Geschlechterpolitik immer noch in proaktiven Maßnahmenpaketen wie Personalauswahl- und Leistungsbemessungsverfahren, Arbeitszeit- und Einkommenspolitik und innerbetrieblichen Organisationszielen hinsichtlich der Sichtbarkeit von Frauen in Führungspositionen zeigen. Der Ungleichstellung von weiblichen Beschäftigten – in „Männerunternehmen“ wie der Deutschen Bahn zumal – ist dezidiert entgegenzuwirken.

Zum anderen muss eine zeitgemäße betriebliche Geschlechterpolitik aber auch einen Resonanzraum für die oben genannten Konflikte bieten. Sie muss ein Diskurs- und Reflexionsprozess sein, der Kritik an der verfestigten, männlich dominierten Führungs- und Organisationskultur, die noch immer von wesentlichen Reproduktionsansprüchen der Menschen abstrahiert, aufnimmt und sichtbar macht. Im Kern geht es mit einer so verstandenen Geschlechterpolitik nicht nur um kulturelle „Grenzkämpfe“ im betrieblichen Geschlechterverhältnis, sondern um das Ringen, die geschlechterkonnotierte Grenzziehung zwischen Wirtschaft und Sozialem, Produktion und Reproduktion, Arbeit und Familie grundsätzlich zu problematisieren und neu zu justieren. Das ist ein entscheidender Aspekt der Demokratisierung von Arbeit, bei der es auch darum gehen muss, für beide Geschlechter bessere Bedingungen der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Sorgebedürfnissen zu schaffen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und wie hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte für eine derart geschlechtergerechte Arbeitspolitik gewonnen werden können. Steht dem die oft unterstellte einseitige Identifikation mit Wettbewerbszielen des Unternehmens oder die Rolle, als Leistungstreiber und individualistisch agierender „Arbeitskraftunternehmer“ zu gelten, entgegen? Sind vor dem Hintergrund permanenter betrieblicher Reorganisation, sich ausdifferenzierender Statuspositionen und indirekter Steuerung womöglich auch (oder gerade) bei Fach- und Führungskräften Verunsicherungen, enttäuschte Gestaltungsansprüche und Momente von Kritik zu finden, an die Strategien für „gute Arbeit“, Geschlechtergerechtigkeit und Demokratisierung anschließen können?

Das Forschungsprojekt zu Reproduktion und Partizipation der DB

Um diese Fragen beantworten zu können, setzten wir mit einer qualitativen empirischen Untersuchung von individuellen Ansprüchen an betriebliche Partizipation und lebensweltliche Reproduktion an. Wir fragten, wie sich unter den Bedingungen von Vermarktlichung, Subjektivierung und Entgrenzung hochqualifizierter Arbeit das Wechselverhältnis von Reproduktion und Partizipation gestaltet. Im Fokus stehen die subjektiven Wahrnehmungen und Handlungsorientierungen von akademisch ausgebildeten männlichen und weiblichen Fach- und Führungskräften. Deren Ansprüche an Arbeit und Leben wurden vor dem Hintergrund der Umstrukturierung von betrieblichen Leistungsregimen, Vereinbarkeitsstrukturen und Personalentwicklungsmaßnahmen betrachtet.

Das Forschungsprojekt wurde von 2016 bis 2018 von der Hans Böckler Stiftung gefördert. Datenbasis sind – neben einer umfangreichen Dokumentenanalyse – 44 leitfadengestützte (Tiefen-)Interviews mit hochqualifizierten Fach- und Führungskräften und Betriebsrät*innen aus drei Unternehmensbereichen der DB AG (Konzernzentrale, DB Systel, DB Dialog). Die Altersspanne der je zur Hälfte weiblichen und männlichen Interviewten liegt zwischen 35 und 57 Jahren. Die überwiegende Mehrheit lebte in festen Paarbeziehungen und hatte Sorgeverpflichtungen gegenüber Kindern oder pflegebedürftigen Eltern. Wesentliche Ergebnisse der Untersuchung sind in dem Working Paper Forschungsförderung der Hans Böckler Stiftung, Nummer 153 vom August 2019 nachzulesen.

 

Hildegard Maria Nickel/Hasko Hüning/Michael Frey/Max Lill