Die Tagung „Opfer//Täter-Inversionen. Mediale Studien zu Täterhandeln und Gewalterfahrungen“, am 14.06.2019 an der Humboldt-Universität zu Berlin, bildete den Abschluss einer durch die DFG geförderten Reihe an Forschungskonferenzen, die sich der multidisziplinären Untersuchung der Verbindung von historischen Traumata, Psychotraumatologie und deren Medialisierung widmete. Konzipiert von Julia B. Köhne und Franziska Lamott lag der thematische Fokus der Abschlusstagung auf der Auseinandersetzung mit medial inszenierter Täter_innenschaft. Zentral verhandelt und kritisch hinterfragt wurden dabei die festen Kategorien von Täter_innenschaft und „Opfer-Sein“. Diese starre Trennung, so die Referierenden, verstellt den Blick für die verschiedenen Ursachen von Gewalt und zementiert einseitig asymmetrische Vorstellungen von Macht. Die Wissenschaftler_innen praktizierten einen intersektionalen Ansatz, um die miteinander verschränkten Machtstrukturen in den jeweiligen Täter/Opfer-Settings zu entlarven.
In den Vorträgen wurde für die Komplexität der Begriffe sensibilisiert – die geschlechtliche Konnotation ‚männliche Aggressoren versus weibliche Geschädigte‘ wäre zu vereinfachend. Eine geschlechterübergreifende Inversion von Täter- und Opferseite transformiert dieses tradierte Genderkonzept hingegen.
Mediale Inszenierungen weiblicher Täterinnenschaft im Nationalsozialismus
Die Genderwissenschaftlerin Katja S. Baumgärtner stellte in ihrem Vortrag einen Ausschnitt ihrer Dissertationsschrift „Internationale und transnationale filmisch-mediale Repräsentation des Konzentrationslagers Ravensbrück: Interdependenzen von Erinnerung und Geschlecht“ vor. Sie beschäftigt sich mit Lagerfilmen, die als Spiegel ihrer Zeit das kollektive Trauma Holocaust/Shoah sag- und sichtbar machen. Filmische Inszenierungen speichern, beschwören und reproduzieren bestimmte Vorstellungen des kulturellen Unbewussten der Lagerstrukturen, so Baumgärtner. Bei diesen Imaginationen handelt es sich um bestimmte Zeitabschnitte, die von den jeweiligen Gesellschaftsgenerationen als die eigene Realhistorie bzw. Geschichte erinnert werden.
Eine der Figuren, die in ihrer stereotyp-eindringlichen medialen Gestaltung markant hervortritt, ist die als brutal, dämonisch und hypersexuell überzeichnete KZ- bzw. SS-Aufseherin. Baumgärtner moniert, dass in den letzten 70 Jahren kaum differenzierte Täter_innenfiguren in internationalen ‚Lagerfilmen‘ erzeugt worden seien. Die paradigmatische Maskulinisierung weiblicher Täterinnen im Zusammenhang mit patriarchalen Gesellschaftsstrukturen lässt sich jedoch auch produktiv lesen. So handelt es sich dabei um ein Modell, die von Frauen ausgeführten systematischen Morde an inhaftierten Jüd_innen und anderen kriminalisierten Insass_innen zu erklären. Dadurch wird eine künstliche Unvereinbarkeit zwischen Weiblichkeit und Tötungsmacht produziert. Laut Baumgärtner verfolgt die Überzeichnung von Täter_innenschaft allgemein die Strategie einer Freisprechung von kollektiver Schuld durch die Verschiebung auf (mediale) Individuen.
Der unschuldige Täter
Wie sich der Entwurf des ‚unmenschlich Bösen‘ in einem anderen Fall auf Einzelpersonen projizieren lässt, erläuterte Susanne Regener in ihrem Vortrag „Fabrikation eines Verbrechers – Der Kriminalfall Bruno Lüdke“. Sie untersucht diese besondere Täter-Opfer-Geschichte, in welcher der als behindert stigmatisierte Kleinkriminelle Bruno Lüdke während des Nationalsozialismus für 50 Sexualmorde an Frauen zu Unrecht angeklagt und verurteilt wurde. Lüdkes Geschichte zeichnet sich dadurch aus, dass es sich hierbei um eine imaginierte Täterfigur handelt. Im Zuge ihrer nachträglichen Medialisierung wurde aus einem Unschuldigen ein Serienmörder gemacht. Durch seine unrechtmäßige Verurteilung fiel Lüdke der zeitgenössischen Ideologie zum Opfer, die Menschen mit geistiger Behinderung als „Gemeinschaftsfremde“ dämonisierte.
Im Verlauf der ‚Fabrikation des Verbrechers‘ wurde der falsche Täter an die Tatorte der Frauenmorde geführt, entsprechend inszeniert und fotografisch abgelichtet. Bemerkenswert hierbei ist, dass Lüdke in dieser Inszenierung nicht nur als Täter posierte, sondern zugleich auch in die Rolle der weiblichen Mordopfer schlüpfte. Die hier erzeugte temporäre Geschlechtstransformation und Täter-Opfer-Verkehrung, die indirekt Lüdkes falsche Beschuldigung reflektiert, spiegelt zugleich die Absurdität der zweifelhaften Beweisaufnahmen wider. Auch hier werden neuerlich klar begrenzte Täter- und auch Opfermodelle aufgeweicht. Der übertragene Geschlechtertausch, der sich mit der Geste der performativen Opferwerdung Lüdkes vollzieht, verdichtet sich in der Strafmaßnahme der Zwangssterilisation vor seiner Ermordung durch den SS-Apparat.
Sexualität, Disziplin und Weiblichkeit
Diese Art der Disziplinierung von Sexualität und vermeintlich perversem Verhalten wurde auch vom Politikwissenschaftler Maximilian Schochow thematisiert. Gemeinsam mit Florian Steger untersuchte er die medizinpolitischen Hintergründe geschlossener venerologischer Stationen in der DDR. In die sogenannten „Fürsorgeheime“ wurden zwischen 1946 und 1989/90 vornehmlich Frauen zur medizinischen Behandlung von Geschlechtskrankheiten eingewiesen. Häufig war dies jedoch lediglich ein Vorwand, denn tatsächlich war nur ein geringer Anteil der Patientinnen diagnostizierbar erkrankt. Bei über 50 Prozent der Eingewiesenen fand sich in den Patientinnenakten der Hinweis auf „Herumtreiberei und Arbeitsbummelei“ als Grund für ihre Festnahme. Unabhängig von ihrem Krankheitszustand mussten alle Frauen tägliche gynäkologische Untersuchungen ertragen. Die Verfügung über den weiblichen Körper in Verbindung mit der systematischen Stigmatisierung und Pathologisierung weiblicher Sexualität wird zum Machtinstrument eines Staates, der nicht-systemkonforme Individuen aus dem Alltag des gesellschaftlichen Lebens ausschließt.
Dieser Komplex rund um weibliche Körper und an sie gekoppelte Sexualität geht auf eine lange medizin- und kulturhistorische Tradition zurück, in der Behandlungsmethoden sogenannter ‚Frauenkrankheiten‘, wie der weiblichen „Hysterie“ unter dem Deckmantel der Objektivität und Wissenschaft den Missbrauch von Frauen verschleierten. Aus den präsentierten historischen Dokumenten der venerologischen Stationen lässt sich das Selbstbild der behandelnden Ärzte ablesen, die sich zum Beispiel als Geschlechtspartner der ihnen ausgelieferten Patientinnen imaginierten. Dieses offensive Bekennen demonstrierte die Selbstsicherheit des venerologischen Klinikpersonals, das sein Vorgehen als rechtens ansah. Die staatliche Legitimation erhielten sie durch die „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ aus dem Jahr 1961. Frauen, die unter dem Verdacht standen, häufig wechselnde Geschlechtspartner zu haben und damit das stereotype Frauenbild destabilisierten, konnten nun systematisch zwangseingewiesen werden. Die Konsequenz bestand in einer rechtlichen Entmündigung, die sich durch ein institutionalisiertes Schweigen fortschrieb und bis heute die Anerkennung und Therapie der vielzähligen Traumatisierten erschwert.
Wissensaustausch auf Augenhöhe
Die hier angeführten Wissenschaftler_innen vereint, dass sie die mediale und gesellschaftliche Konstruktion ihrer Untersuchungsgegenstände reflektieren und auf ihre Lücken und Risse samt Narbengewebe hin befragen. Signifikant für die Vortragenden war auch, dass sie in respektvoller Weise den in ihre Forschungsgegenstände eingeschriebenen realhistorischen Schmerz mitbedachten. Die Vortragenden versuchten, die Schritte ihres wissenschaftlichen Arbeitens weitestgehend transparent zu machen. Dies beinhaltete, die eigene privilegierte Machtposition als Wissenserzeuger_innen mitzudenken.
Sinnbildlich für den Abbau von Hierarchien kann auch die integrative Konzeption der gesamten Veranstaltung gelesen werden. So wurde die Tagung von einem Forschungsseminar am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin flankiert, dessen studentische Teilnehmer_innen als Mitdiskutierende, Moderator_innen und Rezensent_innen partizipierten.
Clara Erbes studiert im Master Gender-Studies an der Humboldt-Universität. Am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung arbeitet sie als stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte.
Theresa Schatt studiert im Master Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Sie ist als studentische Hilfskraft im BMBF-Projekt „Tiere als Objekte“ tätig.