Neue Blickwinkel auf alte Geschichten: Über das Seminar „Weibliche Perspektiven auf den Trojanischen Krieg“

Odysseus, Achilles, Paris, Hektor, Priamos, Agamemnon und Menelaus  – die Liste der mit dem Trojanischen Krieg verknüpften Männernamen ist lang. Fragt man nach den Frauen des Trojanischen Kriegs, kommt vielen nur Helena in den Sinn. Dabei spielen Frauen in den Geschichten rund um den Trojanischen Krieg eine zentrale Rolle: Briseis, Polyxena, Hekuba, Andromache und Penelope, um nur einige zu nennen. Wieso aber sind diese Namen weitestgehend unbekannt?

Frauen in männlichem Umfeld

Die Geschichten rund um den Trojanischen Krieg handeln von einer epischen Schlacht, in der sich Männer heldenhaft bekämpfen. In dieser von männlichen Heldentaten geprägten Szenerie haben Frauen wenig Platz. Die weiblichen Akteurinnen erscheinen in Homers Ilias, dem berühmten Epos über den Trojanischen Krieg, häufig als passive Beobachterinnen von männlichen Handlungen und Entscheidungen, die tief in ihr Leben eingreifen und es nachhaltig verändern. Aber auch sie sind Opfer des Krieges abseits des Schlachtfeldes. Sie werden in ferne Länder verschleppt und zwangsverheiratet oder versklavt, sind heimatlos und haben ihre engste Familie verloren, – wie etwa Andromache, die Witwe des trojanischen Helden Hectors, oder Hekuba, die ehemalige Königin Trojas, die als Gefangene der Griechen in die Fremde gebracht wurden. In allen Fällen sind die Betroffenen von den Entscheidungen und Handlungen von Männern abhängig.

Die andere Perspektive: Der weibliche Blick

In dem Seminar „Weibliche Perspektiven auf den Trojanischen Krieg“, das von Prof. Dr. Lisa Cordes (Institut für Klassische Philologie, HU) im Sommersemester 2021 veranstaltet wurde, stand deshalb eine große Frage im Zentrum: Inwiefern ändert sich die Perspektive auf den Trojanischen Krieg, wenn Frauen sie einnehmen? Welche neuen Geschichten könnten entstehen, wenn wir sie aus der Sicht der Frauen betrachten? Wie ändert sich bei solch einem Perspektivenwechsel das Narrativ der Geschichte des Trojanischen Krieges? Wichtige Parameter bei der Einnahme weiblicher Perspektiven sind auch die soziale Stellung und ob die Akteurinnen auf trojanischer oder griechischer Seite standen. Wie gestaltete sich die Kriegstragödie für die Königinnen, Prinzessinnen, Dienerinnen, Mütter, Ehefrauen, Töchter in Troja und Griechenland? In der Ilias herrscht eine überwiegend männliche Sichtweise vor, aber auch in der Antike gab es bereits literarische Texte, welche die weiblichen Perspektiven in den Blick nahmen und eine Neuverarbeitung des alten Materials versuchten.

Wir haben deshalb gemeinsam Ovids Heroides sowie Senecas Troades in Ausschnitten gelesen. Seneca hat eine Tragödie verfasst, in der er über das Schicksal der trojanischen Frauen unmittelbar nach dem Fall Trojas schreibt und diese Akteurinnen selbst zu Wort kommen lässt.

Die Heroides Ovids wiederum sind eine Mischung aus Elegie und fiktiven Briefen, Sie sind außerdem auch ein Spiel mit dem Mythos, gepaart mit realen Lebenswelten und menschlichen Emotionen. Das Interessante an den Heroides ist, dass in diesem Werk weibliche Perspektiven im Fokus stehen und dadurch die weiblichen Charaktere innerhalb der trojanischen Epik neu bewertet werden können.

So zum Beispiel in dem Brief von Helena an Paris (Heroides 17, 75-268), in dem sie sich einerseits geschmeichelt, aber auch bedrängt von Paris fühlt. Die ganze Problematik rund um Helenas „Raub“ wird hier aus weiblicher Sicht in seiner Komplexität dargestellt: Ging sie nun freiwillig mit nach Troja oder wurde sie dazu genötigt? Bei Ovid spricht sie selbst über ihre Bedenken.

Des Weiteren haben wir in unserem Seminar moderne Romane über die Akteurinnen des Trojanischen Krieges gelesen, die deren Empfindungen und Emotionen literarisch darstellen.

Die Stimmen der Stummen in antiker Literatur

Bei der Lektüre der Textstellen aus den Werken von Ovid und Seneca sowie der modernen Literatur bekommt man einen Einblick in weibliche Wahrnehmungen, Motive, Erwartungen und Reflexionen. Wie bereits erwähnt, ist auch Helena bei den lateinischen Autoren eine ambivalente Figur. Mal spricht sie aus der Sicht einer Frau, die freiwillig ihrem Geliebten in die Fremde gefolgt ist, sogar in dem Wissen, dass dies einen Krieg auslösen wird. Mal spricht sie von sich selbst als einer Art Spielball männlicher Begierde, da sie nicht ganz aus freien Stücken mit nach Troja gekommen ist.

Auch Briseis hat eine ambivalente Rolle: War sie die Geliebte oder versklavte Gefangene des Achilles? In der Ilias kommt ihr eine große Bedeutung zu: Nachdem der griechische König Agamemnon sie für sich selbst beansprucht und dem Achilles weggenommen hat, weigert sich Letzterer den Kampf fortzuführen und legt seine Waffen nieder. Erst als er Briseis zurückerhält, ist sein Zorn gedämpft und er greift als entscheidender Kämpfer der Griechen wieder in den Krieg ein. In der Ilias wird Briseis also versklavt, wird weggenommen, wird zurückgegeben. Und was sagt sie selbst dazu? „Nach dem Verlust von so vielen habe ich dennoch dich, einen einzigen, zum Ausgleich erhalten: Du warst mir mein Herr, du mein Mann, du mein Bruder.“ (Briseis an Achill, in: Ovid, Heroides, 3, 51-52) Bei Ovid spricht sie als Lieblingssklavin des Achill und in ihrem Brief an ihn erscheint sie als verliebte Gefährtin. Sowohl bei Ovid als auch in der modernen literarischen Verarbeitung wird es auch oftmals so dargestellt, als hätte Briseis ein stark reflektiertes Einsehen in Achills Innenleben.

Abb.1 Achilleus muss Briseis an Agamemnon abgeben, Wandgemälde aus Pompeji, 1. Jh. n. Chr.

Neue Sichtweisen auf weibliche Figuren in Epen, Mythen und antiker Literatur

Im Zuge des Seminars wurde uns bei der Lektüre zu den einzelnen Akteurinnen bewusst, dass der Trojanische Krieg für alle Frauen an verschiedenen Stellen für etwas anderes steht. Je nach Herkunft und sozialer Stellung ändert sich die Bedeutung des Krieges und des Falls von Troja für die jeweiligen Frauen. Für Hekuba etwa, die greise ehemalige Königin Trojas, bedeutet er den Untergang ihrer Heimat und ihrer gesamten Familie sowie ihrer eigenen Identität. Aus ihren Reden bei Seneca spricht Trauer und Klage und sie fordert ihr Publikum aktiv zum Seufzen und Weinen auf. Dadurch verhält sie sich weiterhin als Königin und spricht auch in dieser Form zu ihren Untergebenen. Sie beklagt ihr eigenes Schicksal sowie den Untergang Trojas bitterlich (Seneca, Troades, 1-66, 981-998, 1165-1179). Ebenso stellt Trojas Fall für Andromache, Hektors Witwe, ein Ende ihres bisherigen Lebens dar: Sie verlor den geliebten Ehemann und ihren Sohn.

Für die Griechin Penelope wiederum steht Troja und dessen Fall einzig für die Abwesenheit ihres Ehemannes Odysseus. In Ovids erstem Brief (Heroides, 1, 1-116) wendet sie sich sehnlichst an ihren nicht heimkehrenden Gatten und bittet ihn, sich um eine rasche Rückkehr zu ihr und dem gemeinsamen Sohn Telemach zu beeilen. Dass Troja nun gefallen und zerstört ist, hat für sie keine einschneidende Wendung gebracht, bis auf dass ihr Ehemann verschwunden zu sein scheint.

Was nun die entscheidenden Parameter für die Einnahme weiblicher Perspektiven auf den Trojanischen Krieg sind, bleibt der Interpretation überlassen. Aber wir haben gesehen, dass ein Perspektivenwechsel aus der Sicht weiblicher „Randfiguren“ ein neues Verständnis für alten Stoff erzeugen kann.

 

Literatur

Ovid, Briefe von Heroinen, lat.-dt., eingel., übers., komm. von Theodor Heinze, in: Edition Antike, Thomas Baier, Kai Brodersen, Martin Hose (Hg.), Darmstadt 2016.

Seneca, Sämtliche Tragödien, Band I: Hercules furens, Trojanerinnen, Medea, Phaedra, Octavia, lat.-dt., übers. und erl. von Theodor Thomann, Zürich 1978.

Pat Barker, The Silence of the Girls, London 2019.

Emily Hauser, For the Most Beautiful, London 2016.

Christa Wolf, Kassandra, Berlin, 8. Auflage 2018.

Margaret Atwood, The Penelopiad, Edinburgh, 4. Auflage 2018.

 

Abbildung

Abb.1: Achilleus’ Übergabe von Briseis, Wandgemälde aus Pompeji, 1. Jh. n. Chr., aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Briseis#/media/Datei:Achilles_Briseis_MAN_Napoli_Inv9105_n01.jpg, aufgerufen am 5.9.2021, 16:32.

 

Natascha Kostial hat in Wien Geschichte und Alte Geschichte sowie Klassische Philologie studiert. Seit April 2020 ist sie an der Humboldt-Universität zu Berlin eingeschrieben und studiert dort im Kernfach Latein sowie Bibliotheks- und Informationswissenschaften im Zweitfach. Seit Anfang dieses Jahres arbeitet sie auch als Studentische Hilfskraft am Robert K. Merton-Zentrum für Wissenschaftsforschung. Grob zusammengefasst lässt sich sagen, dass bei allen Beschäftigungen während Job und Studium die Transformation von Gesellschaften und Werten in ihrem Interessensfokus stehen.