Mehrfachbarrieren und Diversität unter Berliner Forschenden: Herausforderungen und Ressourcen

Universitäten sind zentrale Orte der Wissensproduktion. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass vielfältige Perspektiven in der Forschung vertreten sind. Jedoch sind besonders Frauen, rassifizierte Minderheiten, Menschen aus Arbeiter*innenklassen und Personen mit Behinderungen in der deutschen Forschung immer noch unterrepräsentiert. Je höher die Statusgruppe, desto weniger sind marginalisierte Personen vertreten, allerdings mangelt es an konkreten Zahlen. Unser Projekt „Diversität, Objektivität und Meritokratie in der Wissenschaft: Mehrfachbarrieren auf dem Weg zu wissenschaftlicher Exzellenz“ wirft einen Blick auf die Herausforderungen und Barrieren, denen marginalisierte Forschende in Deutschland gegenüberstehen, sowie Ressourcen und Veränderungspotentiale. Unser Projekt erforscht die vier Häuser der Berlin University Alliance (BUA): Humboldt-Universität zu Berlin, Freie Universität, Technische Universität und Charité Berlin. Dieses umfasst die Erhebung und Analyse von Grundlagendaten, sowie darüber hinaus tiefergehende theoretische wie empirische Schwerpunktsetzungen. Gefördert wird das Projekt (bis 2026) von der BUA als eines von vier Forschungsprojekten zum Thema Gender und Diversität an Hochschulen.

Grundlagendaten realitätsnah erfassen

Bei der Analyse der Grundlagendaten stehen die Lebensrealitäten der Befragten im Mittelpunkt. Es wird daher zum einen eine intersektionale Betrachtung von quantitativen Daten angestrebt, die besonders die Komplexität sozialer Positionierungen berücksichtigt. Hierfür werden aktuell partizipativ deutschsprachige Befragungsinstrumente entwickelt.

Zum anderen werden die Laufbahnen von Forschenden analysiert, wobei auch mentale Gesundheit, Burnout und Einstellungen zu Diversität, Objektivität und Meritokratie erfasst werden. Besondere Berücksichtigung finden dabei Diskriminierungserfahrungen und psychologische Wirkungsmechanismen.

Darüber hinaus wird aktuell im Team an fünf Schwerpunkten gearbeitet:

1. Leaky pipeline

Derzeit gibt es vor allem Studien zu Geschlecht, die die horizontale und vertikale Segregation zeigen: Frauen fehlen überproportional in MINT-Fächern und auf Leitungsfunktionen (Engels et al., 2015). Dies gilt für den Arbeitsmarkt, wie auch für den Hochschulkontext. Gründe dafür liegen in wissenschaftlichen Normen, Fachkulturen und der Ausrichtung auf scheinbar neutrale Objektivität (Erlemann, 2018). Das Bild einer leaky pipeline, also einer undichten Leitung, wird dabei oft herangezogen, um den in der Wissenschaft absinkenden Frauenanteil auf den verschiedenen Qualifizierungsebenen und Karrierestufen darzustellen.

Karrierewege marginalisierter Forscher*innen in Deutschland wurden bislang wenig untersucht, weshalb unser Projekt folgende Fragen stellt: Lässt sich eine leaky pipeline bei marginalisierten Forscher*innen in Deutschland finden? Wenn ja, wo liegen die strukturellen Hürden? Dabei liegt der Fokus auf informellen Strukturen, wie die vorherrschenden Einstellungen zu Objektivität und Meritokratie. Denn die Überzeugung, dass Wissenschaft objektiv sei, geht sicherlich Hand in Hand mit einem Widerstand gegen Gleichstellungsmaßnahmen einher.

2. Die Universität als Streitplatz

Die Universität sollte ein Ort der Teilhabe sein, doch stehen hier moralische und emotionalisierte Kämpfe um Macht und Privilegien im Vordergrund (Schubert, 2023). Versuche der Demokratisierung und Gleichstellung sind mit Widerstand konfrontiert (Hark & Hofbauer, 2023). Insbesondere die Debatte um Redefreiheit illustriert diesen Konflikt. Regeln zur Inklusion von marginalisierten und unterrepräsentierten Personengruppen (z.B. diskriminierungsarmer Sprachgebrauch) treffen dabei auf Ideen absoluter Redefreiheit, die keine Grenzen und Regeln kennt. Auch hier konstatieren wir, dass Glaubenssätze zu Diversität, Objektivität und Meritokratie eine zentrale Rolle in diesen Kämpfen spielen und die Vorherrschaft des akademischen Ideals eines weißen, gesunden, heterosexuellen, cis männlichen Wissenschaftlers reproduzieren. Welche messbaren Folgen hat dies für Forschende an den BUA-Instituten?

3. Fehlende Zugehörigkeit als unsichtbare Barriere

Eine kritische Analyse der deutschen Forschungslandschaft zeigt, dass marginalisierte Forscher*innen mit unsichtbaren Barrieren konfrontiert sind (Heitzmann et al, 2012). Dabei müssen auch psychologische Faktoren wie das Imposter-Phänomen, die Wahrnehmung von Zugehörigkeit und der Habitus berücksichtigt werden. Wie hängen Zugehörigkeitsgefühle mit der akademischen Karriereplanung zusammen? Auf welche Barrieren stoßen mehrfach marginalisierte Forschende und inwiefern beeinflussen diese deren Karriereentscheidungen? Zur Beantwortung dieser Fragen wird die Untersuchung des Zusammenspiels psychologischer und umweltbezogener Faktoren als Einflussfaktoren für die akademische Karriereplanung als weiterer Schwerpunkt gesetzt.

4. Die Rolle der Wissenschaftskultur und kolonialer Erbschaften

Die Erfassung von Diversitätsmerkmalen rührt aus der gesellschaftshistorischen Praxis her, bestimmte Personengruppen als anders zu markieren (Othering) und Zugehörigkeiten aufgrund fremdbestimmer Aspekte festzuschreiben (Migrationshintergrund, Be_hinderung, Sexualität usw.). Das führt dazu, dass Kategorisierungen als essentialistisch festgeschrieben werden und die resultierenden Machtverhältnisse und Ungleichheiten unhinterfragt bleiben. Ein dekolonialer Ansatz bietet demgegenüber die Möglichkeit, sowohl historische als auch zeitgenössische Machtstrukturen innerhalb der Wissenschaft kritisch zu hinterfragen. Dieser historisch-kritische Umgang begleitet die Anwendung soziodemografischer Erhebungsinstrumente im Projekt. Ziel unserer Untersuchung ist es, mithilfe der historischen Diskursanalyse von kolonialpolitischen Kategorisierungsprozessen gegenwärtige diversitätsorientierte Entwicklungen präziser zu kontextualisieren und zum kritischen Umgang mit Kategorien beizutragen.

5. Neurodiversität an der Hochschule

Aus einer intersektionalen, community-basierten und kritischen Perspektive hat sich Neurodiversität als Sammelbegriff für Personen aus dem Autismus-Spektrum sowie mit ADHS, Dyslexie, Dyskalkulie, Tourette, Dyspraxie und weiteren individuellen neuro-kognitiven Variationen etabliert. Auch wenn etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung als neurodivers gelten (Doyle, 2020), erlebt diese Personengruppe im Arbeitskontext häufig Marginalisierung und diverse Mehrfachbarrieren. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk des Forschungsprojektes darauf, wie diese Mehrfachbarrieren mit einem erhöhten Burnout-Risiko zusammenhängen, wie der wissenschaftliche Arbeitsalltag neuro-inklusiver gestaltet werden kann und welche Vorteile dies sowohl für neurodiverse als auch neurotypische Forscher*innen mit sich bringen könnte.

Fazit: Auf dem Weg zu einer vielfältigen Wissenschaft

Um gegen Diskriminierung in der Forschung vorgehen zu können, braucht es ein ganzheitliches Verständnis der Herausforderungen und Barrieren, denen marginalisierte Forscher*innen gegenüberstehen. Durch eine intersektionale Perspektive, die psychologische, soziale und strukturelle Faktoren berücksichtigt, können wir hoffentlich bald gezieltere Maßnahmen entwickeln, um Diskriminierung in der Forschungslandschaft abzubauen und so dem Anspruch auf eine gerechtere Wissenschaft nachgehen.

 

Literatur

Doyle, Nancy (2020): Neurodiversity at Work: a biopsychosocial model and the impact on working adults, British Medical Bulletin, Vol. 135, pp. 1-18.

Engels, Anita; Sandra Beaufaÿs, Nadine Kegen, Stephanie Zuber (2015): Bestenauswahl und Ungleichheit. Eine soziologische Studie zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Exzellenzinitiative, Campus

Erlemann, Martina (2018): Fachkulturen und Geschlecht in den Natur- und Technikwissenschaften – Forschungsergebnisse am Beispiel der physikalischen Fachkulturen, Schriftenreihe der Hochschule Emden/Leer

Hark, Sabine, Johanna Hofbauer (2023): Die ungleiche Universität. Diversität, Exzellenz und Anti-Diskriminierung, Passagen Verlag

Heitzmann, Daniela; Klein, Uta (2012): Zugangsbarrieren und Exklusionsmechanismen an deutschen Hochschulen. In: Uta Klein und Daniela Heitzmann (Hg.): Hochschule und Diversity. Theoretische Zugänge und empirische Bestandsaufnahme. Weinheim: Beltz Juventa (Diversity und Hochschule), S. 11-45.

Schubert, Karsten (2023): Zwei Begriffe der Wissenschaftsfreiheit. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie 10 (1), 39–78

 

Mirjam Fischer ist promovierte Soziologin und arbeitet zu den Forschungsschwerpunkten Ungleichheiten der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt in sozialen Netzwerken, Familienbeziehungen und auf dem Arbeitsmarkt. Sie hält aktuell eine Gastprofessur für Gender Studies am ZtG und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für empirisch-analytische Forschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Esto Mader wurde promoviert in der Sozialwissenschaft und forscht und lehrt zu den Schwerpunkten Geschlechterverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und an Hochschulen, Queere, Trans*, Inter* und Nicht-binäre Studien, Anti-Diskriminierung und Intersektionalität sowie zu Wissenschaftskritik.

Lea Luttenberger hat in Konstanz Psychologie studiert und promoviert zum Thema Zugehörigkeit. Hierbei vertritt sie einen kritischen Blick auf den Objektivitätsanspruch quantitativer Forschung.

Selin Akgöz hat in Hamburg und Istanbul Politikwissenschaft studiert und macht aktuell den Master “Gender, Intersektionalität und Politik” an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte sind materialistische und queerfeministische Theorien, koloniale Gesellschaftsverhältnisse und intersektionale Methoden in den Sozialwissenschaften.

Celine Vallender studiert an der Universität Potsdam im Master Psychologie mit dem Schwerpunkt Klinische Psychologie und hat bereits seit dem Bachelor ihr zweites Standbein in den Gender Studies gefunden. Forschungsschwerpunkte sind unter anderem feministische Forschungsethik & Wissenschaftskritik, kritische Psychologie, Neurodiversität sowie materialistischer & intersektionaler Queer-Feminismus.

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