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LSBTIQ*-BEWEGUNGEN, MENSCHENRECHTE UND EMOTIONEN IN DER ZEITGESCHICHTE

Es erscheint heutzutage genauso selbstverständlich, dass sich NGOs wie Amnesty International für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*, Inter* und Queers* (LSBTIQ*) einsetzen, wie es normal sein sollte, dass im Schulunterricht geschlechtliche und sexuelle Vielfalt thematisiert werden. Tatsächlich aber unterstützt Amnesty International erst seit 1991 – nach einer groß angelegten Kampagne der International Lesbian and Gay Association (ILGA) sowie anderer Organisationen – Menschen, die auf Grund ihrer sexuellen Orientierung bzw. ihres Einsatzes für die Rechte von Schwulen und Lesben inhaftiert waren (Belmonte 2021: 153–154). Auch die  Sexualerziehung der Berliner Schulen umfasst erst seit 2001 gleichgeschlechtliche Lebensweisen, während Aspekte geschlechtlicher Vielfalt erst 2015 verankert wurden.

Wie LSBTIQ* zu ihrer Geltung und ihren Rechten kamen und welche Rolle dabei Menschenrechte spielten, untersucht das DFG-Forschungsprojekt ‘Menschenrechte, queere Geschlechter und Sexualitäten seit den 1970er Jahren‘. Besonderes Augenmerk liegt auf der transnationalen Vernetzung sowie der Bildungsarbeit und -politik der LSBTIQ*-Bewegungen. Der Untersuchungszeitraum reicht von den Anfängen der Schwulen- und Lesbenbewegungen in den 1970er Jahren über die AIDS-Krise der 1980er und 1990er Jahre, die Debatten über die gleichgeschlechtliche Ehe ab den 1990er und zunehmend 2000er Jahren bis hin zur staatlichen Institutionalisierung von LSBTIQ*-Anliegen – sowie diesbezüglichen Gegenprotesten – in den 2010er Jahren. Das Projekt ist ein Teilprojekt der DFG-Forschungsgruppe  „Recht – Geschlecht – Kollektivität. Prozesse der Normierung, Kategorisierung und Solidarisierung“, welche Recht und Geschlecht als Dimensionen der Herausbildung unterschiedlicher Kollektivitäten untersucht. Gegenstand der 2021 begonnenen zweiten Forschungsphase der Forschungsgruppe sind Kollektive als wichtige Impulsgeber in den gesellschaftlichen Verhandlungen von Gemeinschaft, Gemeinwohl und Solidarität. Insbesondere geht es um Kämpfe um das Allgemeine bzw. Versuche seiner Rekonfiguration sowie Konzeptionierungen eines neuen Gemeinsamen.

(Menschen-)Rechte als soziale und emotionale Praxis

Der Fokus des Teilprojekts auf Menschenrechte bezieht sich sowohl auf eine Geschichte ihrer Umsetzung als auch ihrer Reflexion als soziale Praxis: Menschenrechte existieren, trotz ihrer mehrfachen Postulierung als universal, nicht unabhängig von historischen und politischen Kontexten. Zu fragen ist dementsprechend, wer in welchen Kontexten welche Menschenrechte für wen genau forderte. In den Blick gerät einerseits die Art und Weise, in welcher sich dabei Handlungsräume verschlossen und eröffneten. Andererseits wird untersucht, welche Effekte die Mobilisierung von Menschenrechten umgekehrt auf die LSBTIQ*-Bewegungen selbst genommen hat. In den Vordergrund gerückt werden die Austauschprozesse, Wechselwirkungen, Widersprüche und Ambiguitäten, die dort entstehen, wo alltagsweltliche, institutionelle und rechtliche Praktiken aufeinandertreffen.

Zu betonen ist, dass Menschenrechte nicht nur eine soziale, sondern auch eine emotionale Praxis darstellen. So argumentiert die Historikerin Lynn Hunt, dass Emotionen und insbesondere Empathie eine wichtige Rolle dabei spielten, Menschenrechte für politischen Wandel zu mobilisieren: Menschenrechte seien nur dann gefordert und durchgesetzt worden, wenn Mitgefühl und Mitleid für die betroffene Gruppe existierte oder hergestellt werden konnte. Eine „imaginierte Empathie“ sei überhaupt die Grundlage für Menschenrechte (Hunt 2008: 32).

Angst und Arbeitsrecht

Welche unerwarteten Ergebnisse die Erforschung von (Menschen-)Rechten als soziale Praxis hervorbringen kann, demonstriert eine der ältesten bundesrepublikanischen Akteurinnen von LBSTIQ*-Bildungspolitik, die Arbeitsgemeinschaft Schwule Lehrer in der GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) Berlin. Seit Ende der 1970er Jahre betrieben die Schwulen Lehrer aktive Bildungsarbeit und vor allem Bildungspolitik in West-Berlin – und argumentierten dabei lange Zeit so gut wie nie mit Menschenrechten. Bis in die 1990er Jahre hinein handelt es sich bei der einzigen dokumentierten Nutzung des Begriffs/Konzepts um eine Solidaritätskampagne für die lesbische Lehrerin Eliane Morrissens im Jahr 1982, die in Belgien aus dem Schuldienst entlassen worden war. Selbst in diesem Fall ging es aber nicht um eine gezielte Mobilisierung von Menschenrechten, sondern um eine kontextuelle Nennung, da bereits absehbar war, dass Morrissens vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen würde.

Die lange Zeit ausbleibende Mobilisierung von Menschenrechten durch die Schwulen Lehrer war vor allem durch ihren gewerkschaftlichen Hintergrund bedingt. In innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen um die Durchsetzung von LSBTIQ*-Positionen verwiesen sie vielmehr auf die Norm der Solidarität und bemühten sich, Analogien zu bestehender gewerkschaftlicher Anti-Diskriminierungsarbeit gegen Sexismus zu etablieren. Im Kontakt mit der Senatsbildungsverwaltung wurde im Bemühen um Schutz vor Diskriminierung – noch 1973 war ein Lehrer in Westberlin aus dem Dienst entlassen worden, weil er schwul war – dagegen mit Arbeitsrecht argumentiert. Die Mobilisierung von Solidarität und Arbeitsrecht waren in den Kontexten der Schwulen Lehrer schlicht etablierter und nützlicher auf Gewerkschaftstagen und in Verhandlungen mit der Senatsbildungsverwaltung als in diesem Kontext abstrakte Forderungen nach Menschenrechten.

Interessanterweise verwendeten die Schwulen Lehrer aber wiederholt und insbesondere in ihrer Öffentlichkeitsarbeit einen Appell an Empathie in Analogie zu Hunts Überlegungen zur Rolle von Empathie in der Menschenrechts-Politik. In verschiedenen Artikeln, Flyern und anderen Texten wurden Erfahrungen von Angst und Isolation von schwulen Lehren geschildert, die aus Furcht vor Diskriminierung ihr Schwulsein versteckten. Wie im 1978 erschienenen Artikel „Die angst des schwulen lehrers im dienst“ [sic] sollten emotionale Schilderungen Mitleid hervorrufen und mittels eines Apells an die Empathie bildungspolitische Forderungen begründen und notwendig erscheinen lassen. Dass es sich dabei um eine bewusste Kommunikationsstrategie handelte, belegt einerseits ein deutlich selbstbewussteres Auftreten in Auseinandersetzung mit der Senatsbildungsverwaltung und andererseits, dass einige Mitglieder der Schwulen Lehrer unzufrieden waren, ihre Diskriminierungserfahrungen öffentlich zu machen. Diese Unzufriedenheit rührte aus einer Wahrnehmung, dass der Artikel nicht das Selbstbewusstsein einer „erstarkenden Schwulenbewegung“ vermittle, sondern im Gegenteil dazu dränge den „armen Schwulen“ zu bemitleiden. Offensichtlich bestand Uneinigkeit innerhalb der Schwulen Lehrer, ob es sinnvoller war, Rechte aus einer Position der Stärke oder Schwäche zu fordern (Schreiner 1980: 1). Auch jenseits ihrer strategischen Nutzung im Rahmen von Öffentlichkeitsarbeit ist Angst für die Geschichte der Schwulen Lehrer durchaus auch als produktive Emotion zu verstehen: Sie gab nicht nur den Impuls für die Gründung der Schwulen Lehrer, sondern die Verarbeitung von Angst innerhalb der Gruppe hatte weit über die Gründungsjahre hinaus einen kollektivierenden Effekt. Ohne ihre Angst und ihre diesbezügliche Emotionsarbeit könnten die Schwulen Lehrer nicht auf eine inzwischen über 40jährige Geschichte zurückblicken.

In unserer weiteren Forschung zur Mobilisierung von (Menschen-)Rechten durch die LSBTIQ*-Bewegungen seit den 1970er Jahren werden wir dementsprechend nach der Rolle von Emotionen für Kollektivierungsprozesse auch in anderen Gruppen fragen. Darüber hinaus wird uns die Überschneidung von queerer Geschichte, Menschenrechts- und Emotionsgeschichte beschäftigen: Inwiefern unterschieden sich die Mobilisierungen von Menschenrechten durch LSBTIQ*-Gruppen je nach spezifischen Emotionsregimes und -arbeit?  Wie beeinflussten Emotionen und ihre Wahrnehmung, Verarbeitung sowie Kommunikation den historischen Wandel von LSBTIQ*-Rechten?

Literatur

  • Laura A. Belmonte, The International LGBT Rights Movement: A History, London 2021.
  • Lynn Hunt, Inventing human rights: A history. New York, 2008.
  • Klaus Schreiner, Einleitung, in: Arbeitsgemeinschaft homosexueller Lehrer und Erzieher in der GEW Berlin, Dokumentation. Berlin, Mai 1980, S. 1-8.
  • Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport, Rundschreiben Nr. 9/2002. Allgemeine Hinweise zur Sexualerziehung in der Berliner Schule, 28.3.2002; Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM), Orientierungs- und Handlungsrahmen für das übergreifende Thema Sexualerziehung/Bildung für sexuelle Selbstbestimmung, Ludwigsfelde-Struveshof, 2021.

Bildnachweis
© akg-images / Guenay Ulutuncok

Merlin Sophie Bootsmann, Greta Hülsmann, Martin Lücke und Andrea Rottmann arbeiten gemeinsam im Forschungsprojekt „Menschenrechte, queere Geschlechter und Sexualitäten seit den 1970er Jahren“, einem Teilprojekt der DFG-Forschungsgruppe Recht – Geschlecht – Kollektivität. Das Projekt ist im Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte des Friedrich-Meinecke-Instituts an der Freien Universität Berlin angesiedelt.