Können wir (über) Femizid überhaupt denken? Ein Interview mit Eva von Redecker

Können wir (über) Femizid überhaupt denken? „Die Werkzeuge des Meisters werden niemals das Haus des Meisters niederreißen“, schrieb Audre Lorde.

EvR: Was wäre das Denken wert, wenn es sich nicht gerade der bestürzendsten Erfahrungen und Ereignisse annehmen könnte? Am Thema Femizid zeigt sich aber in der Tat sehr gut, dass mit unreflektiertem ,allgemeinen‘ Nachdenken auch viel Unheil gestiftet werden kann. So wird von ,Familiendramen‘ gesprochen, als seien alle daran gleich beteiligt. Es ist unheimlich, wie unsere unreflektierten Annahmen uns dazu bringen, die Täterperspektive zu übernehmen. Da ist dann von männlicher Eifersucht und Verlustangst die Rede, als seien das natürlich Reaktionen, die sich automatisch mit mörderischer Gewalt verkoppeln. Schon der Begriff ,Femizid‘ ist dagegen der Versuch, sich aus faulen Formulierungen zu lösen und zu betonen, dass hier jemand Mordopfer wurde, weil sie eine Frau ist.

Welche Alternativen schlägst du vor?

EvR: Noch besser wäre meines Erachtens, gleich von misogynem Mord oder ,Sachherrschaftsdelikt‘ zu sprechen. Die Frauen werden ja nicht umgebracht, weil sie Frauen sind, sondern weil Täter einer patriarchalen Logik folgen und sie wie ihr Eigentum behandeln. ,Sachherrschaft‘ versucht das einzufangen. Der Begriff ist ein Synonym von Eigentum und eignet sich gut, um moderne Unterdrückungsverhältnisse zu beschreiben. Der Vortrag, in dem das genannte Zitat von Audre Lorde seinen Platz hat, handelt übrigens davon, dass eine feministische Konferenz, in der nahezu nur weiße Perspektiven Gehör finden, keine gültigen Befreiungsstrategien entwickeln kann. Es ist also keine Absage an das Denken, sondern die revolutionäre Maßgabe, dabei vom Wissen der Beherrschten und Bedrohten auszugehen. Das gilt beim Thema Femizid erst recht. Wenn das Delikt nicht so durchdacht wird, dass den Perspektiven von trans* Frauen, Sexarbeiterinnen, Migrantinnen, Lesben und rassifizierten Frauen Rechnung getragen wird, taugt die Theorie nicht viel.

Welche Denkerinnen haben zum Thema Frauenverachtung (und/oder Femizid) geschrieben, geforscht und was haben sie herausgefunden?

EvR: Die wichtigsten Arbeiten zum Thema kommen derzeit aus Lateinamerika. Ausgehend von der Mobilisierung gegen Femizide unter der Formel „Nicht eine weniger!“ ist insbesondere in Argentinien und Chile die feministische Bewegung so massiv und wirksam geworden, wie wir hier nur erträumen können. Die Anthropologin Rita Segato ist eine fast schon legendäre Vordenkerin. Sie hat erforscht, wie die Kolonisierung über eine „Pädagogik der Gewalt“ durchgesetzt wird, die indigene Männer in die Männlichkeitsvorstellungen der Eroberer einspannt. Eine wichtige aktuelle Stimme ist die Soziologin Verónica Gago. In ihrem neuen Buch „Feminist International“ (2020) beschreibt sie die gesellschaftliche Matrix, aus der immer wieder Gewalt gegen Frauen hervorgeht. Die Implosion der männlichen Versorgerrolle, mafiöse und autoritfäre Formen politischer Macht, Landnahme und Zerstörung öffentlicher Ressourcen, allgemeine Verschuldung durch finanzkapitalistische Mechanismen. Das gibt viel Stoff zum Nachdenken.

Du schreibst in deinem neuen Buch „Revolution für das Leben“ (2020): „Das Paradox, als Frau halb Subjekt und halb Objekt zu sein, strukturiert die femizidale Gewalt, aber auch deren kulturelle Einstufung.“ Kannst du etwas ausführen?

EvR: Ja, genau. Die Form des Patriarchats in der Moderne ist Sachherrschaft über Reproduktionsfähigkeit. Sorgearbeit, Zuwendung, Fortpflanzung und sexuelle Befriedigung werden als eine Art Ressource zusammengefasst. Frauen verkörpern sie, aber in gewisser Weise gehört sie immer schon den Männern, die zur Aneignung berechtigt sind. Rassifizierte Frauen unterliegen einer noch grundlegenderen Entmenschlichung, da ihre ganze Person – nicht nur die Reproduktionsfähigkeit – unter dem Vorbehalt der Fremdverfügung steht. Mobilität, selbst der Personenstatus, werden von den Institutionen weißer Vorherrschaft eingeschränkt.

Selbst dort, wo die rechtliche Gleichstellung errungen wurde, strukturiert das Muster der weiblichen Verfügbarkeit noch Anspruchshaltungen und Verletzlichkeiten. Zugleich haben moderne Frauen aber Handlungsfähigkeit und gleiche Rechte. Sie sind also auch Subjekt. Diese Mischung ist verheerend.

Femizidale Gewalt folgt also nahezu immer dem gleichen Skript…

EvR: Ja; ein Mann tötet eine Frau, die einen Eigentumsanspruch, den er auf sie erhebt, verletzt – etwa durch Trennung oder andere Beziehungen. Es geht in der Gewalt einerseits darum, den Objektstatus wiederherzustellen. Andererseits geht es aber auch darum, den ,Dieb‘ zu eliminieren. Eine selbstbestimmt handelnde Frau tritt gewissermaßen als Diebin ihrer selbst auf. Sie beraubt ihren patriarchalen Besitzer, sie begehrt gegen den partiellen Scheintod auf, den uns die patriarchale Rolle aufbürdet. Die Rechtsprechung, die den Tätern meist mildernde Umstände und „Handlung aus Affekt“ zugutehält, verkennt diese zweite Dimension.

Misogynie entmenschlicht, objektiviert und verachtet Frauen. Gewalt wird zur „Botschaft des Besitztums“:Wie kommen wir aus dieser Negativschleife heraus?

EvR: Natürlich muss man alles tun, auch rechtlich, um weibliche Selbstbestimmung abzusichern. Aber ich glaube, dass gegen misogyne Verhältnisse langfristig nur hilft, umfassend die Sprache zu wechseln. Wir müssen an dem radikalen feministischen Wunsch nach einer Welt festhalten, in der Gewalt überhaupt keine Demonstration von Macht sein kann. Das wäre nur möglich, wenn nicht mehr die kurzfristige Aneignung von Dingen, sondern die langfristige Sorge um Beziehungen im Zentrum von Ökonomie und Gesellschaft stünde.

Literatur

Verónica Gago: Feminist International. How to Change Everything, New York City 2020.

Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Eine Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a. M. 2020.

Rita Segato: La guerra contra las mujeres, Madrid 2020

 

Das Interview ist zuerst am 8.3.2021 in der Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ erschienen und wurde von Heidi Hintner geführt.

 

Eva von Redecker ist Philosophin und Autorin. Als Marie-Skłodowska-Curie-Fellow forscht sie derzeit an der Universität Verona über autoritäre Charakterbildung. Zuvor war sie langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin mit Zweitmitgliedschaft im ZtG. Im Wintersemester 2015 lehrte sie als Gast-Dozentin an der New School for Social Research in New York. Neben wissenschaftlichen Artikeln und literarischen Essays hat Eva von Redecker vier philosophische Monografien verfasst. Zuletzt erschien bei S.Fischer „Revolution für das Leben. Eine Philosophie der neuen Protestformen“ (2020).

Heidi Hintner ist Lehrerin und leitet das Maria-Hueber-Gymnasium in Bozen, Südtirol. Sie unterrichtet dort Deutsch, Philosophie und politische Bildung und gestaltet Projekte im Bereich Begabungsförderung. Über zwanzigjährige Mitarbeit beim Südtiroler Frauenkalender Alchemilla, Gründerin und Mitfrau der autonomen Frauengruppe TANNA, die seit 2005 feministische Kulturarbeit leistet und Mitarbeiterin beim Kalender „Berühmte Frauen“ von Luise F. Pusch. Veröffentlichung: Frauen der Grenze. Donne di frontiera. 13 Frauenbiographien aus Nord-, Süd- und Osttirol und dem Trentino (2009, 2013), hrsg. von Luise F. Pusch, Heidi Hintner und Donatella Trevisan.