Alexander von Humboldts Kosmos-Vorlesungen im Winter 1827/28 waren legendär. Dass wir wissen, worüber er genau sprach, verdanken wir einer Frau: Henriette Kohlrausch. Jetzt erscheinen Humboldts Vorträge erstmals in einer zuverlässigen Textfassung in einem Band, der verdeutlicht, wie zentral Kohlrauschs Rolle war.
Die Humboldt-Universität zu Berlin feiert einen ihrer Namensgeber und widmet dem Ausnahmewissenschaftler Alexander von Humboldt ein Jubiläumsjahr mit zahlreichen Veranstaltungen, darunter auch eine Neuauflage seiner berühmten Kosmos-Vorlesungen, die damals an der Berliner Sing-Akademie (in dessen Gebäude heute das Maxim-Gorki-Theater sitzt) einem größeren Publikum die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse präsentierten. Im August erschien im Insel Verlag ein reich illustrierter Band mit den 16 Vorträgen, die Humboldt an der Sing-Akademie hielt, herausgegeben von Christian Kassung und Christian Thomas. Diese Ausgabe macht nicht nur Humboldts Vorlesungen einem neuen Publikum verfügbar, sondern deckt auch einen Teil der Entstehungsgeschichte auf, indem er die Co-Autorinnenschaft Kohlrauschs belegt. Humboldts und Kohlrauschs Namen sowie deren Porträts erscheinen paritätisch auf dem Cover – berechtigt, aber nicht selbstverständlich, wie ein Blick in die gegenderte Dynamik der Wissensgeschichte zeigt.
Wer war Henriette Kohlrausch?
Die Rolle von Frauen in der Wissensproduktion wird oft übersehen, vergessen oder aktiv aus der Geschichte rausgeschrieben. Kohlrausch erging es ähnlich wie vielen Frauen der Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Die Leistungen und Beiträge von Frauen wie Lise Meitner, Rosalind Franklin, Caroline Schelling (Schlegel), Ninon Hesse oder Mileva Marić standen oft im Schatten von berühmten Männern oder wurden gänzlich übergangen und mussten erst durch langwierige Forschung sichtbargemacht werden. Auch über Henriette Kohlrausch fand man lange nicht viel: Bis vor Kurzem fehlte ihr Artikel bei der Wikipedia, lediglich mit einem Satz war sie im Beitrag ihres Mannes, Heinrich Kohlrausch, erwähnt. Die Geschlechterdiskrepanz der Wikipedia und die damit einhergehende Unsichtbarmachung von Frauen und ihren Errungenschaften ist ein Symptom von vergeschlechtlichten Machtstrukturen. Gleichzeitig verstärkt es das Problem, da die Wikipedia als fünft meistbesuchte Website zentralen Einfluss darauf hat, wer erinnert wird und wer nicht. Mehr als 84% der biographischen Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia handeln von Männern. Dass diese Zahl nicht noch höher ist, liegt maßgeblich an der Arbeit von Initiativen und Einzelpersonen, die sich dem Thema Geschlechterdiskrepanz in der Wikipedia gewidmet haben. Doch oft fehlen Quellen und Nachweise, um den Beitrag von Frauen in der Geschichte, und damit ihre wichtige Rolle, zu belegen. So war es auch bei Henriette Kohlrausch.
Geboren am 14. September 1781 in Hannover, hatte sich Henriette Kohlrausch, geborene Eichmann, eine ausgezeichnete Bildung erarbeitet und war besonders im Bereich der Botanik versiert. Ihre Fachkenntnisse waren schon damals von Wissenschaftlern anerkannt. Kenner_innen der Botanik sind möglicherweise schon einmal über ihren Namen gestolpert, denn der Botaniker Carl Sigismund Kunth wählte, in Anerkennung ihrer Verdienste um die ‚Flora Berolinensis‘, die dieser in seiner gleichnamigen Publikation von 1838 umfassend beschrieb, Kohlrausch als Namenspatin für eine Pflanzengattung: ‚Kohlrauschia’, wissenschaftlicher Name der Felsennelken. Die Verbindung zu den Humboldts entstand durch ihren Mann. Dieser war vor der Ehe mit Kohlrausch als Hausarzt für Wilhelm und Caroline von Humboldt in Rom tätig. So war es dann auch Caroline von Humboldt, die ihrer Freundin Kohlrausch Eintrittskarten für die Kosmos-Vorlesungen verschaffte. Zu der Zeit war Kohlrausch bereits Witwe, nachdem ihr Mann 1826 infolge mehrerer Schlaganfälle verstorben war, und lebte in Berlin. Es ist ein Glücksfall für die Nachwelt, dass Kohlrausch in den Kosmos-Vorlesungen Humboldts in der Sing-Akademie saß, denn, nach derzeitigem Kenntnisstand, ist nur ihre Nachschrift aus diesem Vortragszyklus erhalten geblieben – während von den Kosmos-Vorlesungen, die Humboldt an der Berliner Universität hielt, zahlreiche Nachschriften bekannt sind. Kohlrauschs Nachschrift liegt im Archiv der Berliner Staatsbibliothek. Was lange Zeit fehlte, war eine Antwort auf die Frage, wer die Schrift verfasst hatte, denn ein Name steht nicht im Manuskript. Kassung und Thomas konnten dieses Rätsel jetzt lösen und geben damit auch einen Einblick in damalige Formen der Wissensproduktion.
Henriette Kohlrausch als Co-Autorin
Denn Kohlrauschs Nachschrift ist mitnichten nur eine Kopie des Gesagten. Humboldt sprach frei und wer seinen Ausführungen nicht nur gedanklich folgen, sondern auch mitschreiben wollte, brauchte, neben einer hervorragenden Auffassungsgabe, einen Wissensstand, der erlaubte, das Gesagte sofort zu verstehen und die verkürzten Notizen im Anschluss wieder in einen komplexen Text umzuwandeln. Um ihre Nachschrift anzufertigen, musste Kohlrausch auf dem neuesten Stand der (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisse gewesen sein. Dies macht deutlich, warum Henriette Kohlrausch auf dem Cover der Neuerscheinung gleichberechtigt als Co-Autorin genannt wird. Anders als eine bloße wortwörtliche Wiedergabe des Gesagten ist der von ihr verfasste Text ein Hybrid aus Humboldts Erkenntnissen und Kohlrauschs Expertise. Die Schaffung und das Zirkulieren solcher hybriden Textformen waren im 19. Jahrhundert weit verbreitet, dienten sie doch dem gebildeten Bürger_innentum als Möglichkeit der Wissensreproduktion sowie als kulturelles Kapital. Gleichzeitig verkomplizierten sie jedoch das Konzept der Autor_innenschaft.
Wie kamen Kassung und Thomas der Verfasserinnenschaft Kohlrauschs nun auf die Spur? Wie so oft in der Wissenschaft half auch hier ein glücklicher Zufall. Von der in der Berliner Staatsbibliothek verwahrten Nachschrift sind zwei Abschriften bekannt. In einer davon taucht der Vermerk „Abschrift des Heftes der Frau Geheimräthin Kohlrausch“ auf. Ein Vergleich mit der Handschrift aus Briefen Kohlrauschs bestätigte die Vermutung, dass es sich hierbei um Henriette Kohlrausch handeln könnte und dass diese den Text selbst geschrieben hat (und nicht etwa nur Besitzerin des anonym verfassten Heftes war). Die einzige Nachschrift von Humboldts Kosmos-Vorlesungen an der Sing-Akademie stammt also aus der Feder von Kohlrausch. Der Band von Kassung und Thomas gibt in seinem Vorwort einen ausführlichen Einblick in die Entstehung des Textes im Kontext damaliger Medienpraktiken des Mit- bzw. Nachschreibens. Darüber hinaus leistet der Band zwei zentrale Dinge: die Zugänglichmachung von Humboldts vollständigen Kosmos-Vorlesungen an der Berliner Sing-Akademie sowie die Sichtbarmachung von Kohlrauschs Anteil an diesem Text – und damit Kohlrauchs Wiedereinschreibung in die Wissensgeschichte des 19. Jahrhunderts. Kurz nach der Veröffentlichung des Sammelbandes hat Henriette Kohlrausch nun auch einen eigenen Artikel in der Wikipedia.
Katrin Frisch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, wo sie u. a. für das GenderOpen Repositorium arbeitet. Sie promovierte über Interdependenzen von rechter Ideologie und englischsprachiger Literatur. Vor Kurzem erschien ihr Buch The F-Word. Pound, Eliot, Lewis, and the Far Right. Ihre Forschungsschwerpunkte sind diskursive Gewalt und Machtstrukturen in kulturellen Praktiken. In ihrer Freizeit versucht sie, das Internet etwas feministischer zu machen.