Grenzen überwinden. Recht als Ressource in Konflikten der Erwerbsarbeit

Wenn Gewerkschaften, aber auch Selbstständigenverbände oder transnationale Arbeiter:innenbewegungen Beschäftigtenrechte einfordern, ist dieses kollektive Handeln hoch vergeschlechtlicht und zumindest implizit immer auch mit Konflikten um Zugehörigkeit und Teilhabe verbunden. Dabei wird Recht zunehmend als Ressource gerade für solche Interessen relevant, die in dem auf Repräsentation und Mehrheitsentscheidung ausgerichteten Handeln traditioneller Interessenvertretung nur unzureichend erfasst werden. Dieses Repräsentationsdefizit betrifft u.a. Frauen und nicht-binäre Personen. Diese sind deshalb oft auf die Nutzung individueller Rechte angewiesen, insbesondere der Gleichbehandlungsrechte. Doch gerade in diesen Rechten zeigt sich die Ambivalenz des Rechts, das durch männliche Sichtweisen und Lebensverhältnisse geprägt ist sowie heteronormativ und rassifiziert kommuniziert. Dabei markiert die Berufung auf individuelle Rechte die ,anderen Subjekte‘ durch Differenz und reproduziert damit vergeschlechtlichte Machtungleichheiten.

Mit diesen Fragen zum Verhältnis individueller Rechte und kollektiven Handelns, an den Schnittstellen zwischen Recht, Geschlecht und Kollektivität, beschäftigt sich ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), zunächst unter dem Titel „Wandel vergeschlechtlichter Kollektive in Konflikten der Erwerbsarbeit“ und nun in der Verlängerungsphase unter dem Titel „Grenzen überwinden. Rechtliche Kategorisierungen von Geschlecht, ‚Race‘ und Klasse in transnationalen Arbeitskonflikten“. Das Projekt des Center for Interdisciplinary Labour Law Studies (C*LLaS) ist ein Teilprojekt der DFG-geförderten interdisziplinären Forschungsgruppe „Recht Geschlecht Kollektivität“.

Problematische Rechtsnutzung durch Kollektivakteur:innen der Erwerbsarbeit

In einer ersten Forschungsphase konnten wir für Gewerkschaften, aber auch Selbstständigenvertretungen feststellen, dass mit der Rechtsnutzung die dem Recht inhärenten Geschlechterverständnisse weiter transportiert und noch verfestigt werden. Wenn z.B. die GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) auf Rechtsfiguren wie die mittelbare Diskriminierung zurückgreift, um gleiches Entgelt für Grundschullehrer:innen anzumahnen, gelingt es nur schwer, die dabei im Recht und in der Gesellschaft produzierten Geschlechterbilder zu überwinden. Im Gegenteil droht die Markierung des vergeschlechtlichten Charakters der Arbeit an der Grundschule weibliche und binäre Geschlechterstereotype gerade dann zu reproduzieren, wenn rechtlich gesetzte Kategorien genutzt werden. Hier wirken in der Ordnung des Rechts auch patriarchalische Setzungskulturen fort. Allerdings ist es keine Alternative, wenn Interessenvertretungen kategorisierendes Recht in Gänze vermeiden und stattdessen auf Neutralität und Vielfalt setzen. Strukturelle Benachteiligungsstrukturen bleiben so verdeckt.

Aussicht auf eine reflexive Rechtsnutzung

Bei unseren Untersuchungen haben wir aber auch produktive Rechtsnutzung beobachtet – immer dann, wenn Akteur:innen ihre Kollektivdynamik nutzten, um die verwendeten Rechtskategorien zur Diskussion zu stellen. Wenn eine gewerkschaftliche Aktion sich auch intensiv mit den Rechtsbegriffen und der rechtseigenen Dogmatik auseinandersetzte, z.B. unter Rückgriff auf rechtswissenschaftliche Gutachten, gelang es, die mitlaufenden Zuschreibungen zur Sprache zu bringen. Wir gehen daher davon aus, dass unter bestimmten Umständen das Recht Anlass und Ausgangspunkt einer Reflexion über Geschlechterverständnisse und -ungleichheiten sein oder als Raum genutzt werden kann, um in kollektiven Prozessen über individuelle Betroffenheit zu sprechen, Wissen zu teilen und so Gruppenzuweisungen zu dekonstruieren.

Um das Verhältnis zwischen individuellen Rechten und kollektivem Handeln und die Chancen der Überwindung der rechtsinternen Zuschreibungsprozesse besser abschätzen zu können, blicken wir nun in der gerade gestarteten Verlängerung des Forschungsprojektes in den transnationalen, grenzüberschreitenden Beschäftigungsraum. Arbeitskonflikte sind hier jenseits von national strukturierteren kollektiven Arbeitsordnungen noch stärker in Menschenrechtspolitiken eingebunden, die durch einen normativen Individualismus gekennzeichnet sind.

Weil es auf transnationaler Ebene an schlagkräftigten Kollektivstrukturen fehlt und es Gewerkschaften nur begrenzt gelingt, grenzüberschreitende Sachverhalte wie Arbeitsmigration in ihre Interessenpolitik zu integrieren, beziehen sich Rechtsmobilisierungen eher auf individualrechtliche Menschenrechte, z.B. wenn Nichtregierungsorganisationen Menschenrechte als ‚Fürsprache‘ für die Betroffenen geltend machen. Als Untersuchungsfelder dienen uns die Bereiche der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration (konkret der Arbeit von Hausangestellten) und der Arbeit in globalen Lieferketten, die durch vergeschlechtlichte Konflikte geprägt sind.

Solidarität in transnationalen Arbeiter:innenbewegungen?

Wir blicken auf Bewegungsdynamiken und analysieren, wie sie jeweils auf Menschenrechte und die ebenfalls inhärenten Kategorien von Gender, ‚Race‘ und Klasse zugreifen. Konkret untersuchen wir, mit welchen Bezügen, Symbolen und welcher Sprache, durch wen mit welchen Zielen und mit welchen Folgen Ungleichheitskategorien in den Menschenrechten angerufen werden.

Mit der feministischen Rechtskritik problematisieren wir am Ende auch, inwieweit Menschenrechte überhaupt geeignet sind, transnationale Solidarität zu fördern. Ist der menschenrechtliche Autonomiebegriff zu sehr auf ein männliches Subjekt ausgerichtet, führt die Universalisierungstendenz der Menschenrechte zu einem kolonialen ‚Helfen-Diskurs‘, droht die Orientierung an Frauenrechten in die Essentialismusfalle zu führen?

Eine ähnliche Frage stellt sich aus arbeitsrechtlicher Perspektive: Drängt ein Fokus auf individuelle Rechte Umverteilungsfragen und kollektives Handeln an den Rand?

Mit solchen Kritiken interessiert es uns dennoch, wie eine radikale und kollektive Transformation der Menschenrechte zu denken und alternativ zu rekonstruieren sein könnte. In den nächsten zwei Jahren wollen wir diesen Bedingungen der kollektiven Dimension der Menschenrechte nachgehen.

 

Titelbild
von Claudio Schwarz auf Unsplash

 

Dr. Isabell Hensel (hensel@europa-uni.de) ist Post-Doc an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und wissenschaftliche Mitarbeiterin im TP B der DFG Forschungsgruppe Recht-Geschlecht-Kollektivität.

Jan Hübbe (huebbe@europa-uni.de) ist studentischer Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und im TP B der DFG Forschungsgruppe Recht-Geschlecht-Kollektivität.

Prof. Dr. Eva Kocher (kocher@europa-uni.de) ist Leiterin des Center for Interdisciplinary Labour Law Studies (C*LLaS) an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Projektleiterin des TP B der DFG Forschungsgruppe Recht-Geschlecht-Kollektivität.