Seit einiger Zeit scheint mir der ausdrückliche Ruf nach Digitalisierung allgegenwärtig geworden zu sein. Um so neugieriger machen mich Stimmen, die kritisch nach den Effekten von Digitalisierungsbestrebungen für Geschlechter, Diskriminierte und Marginalisierte fragen. Und die Initiativen wie Black Code Girls, Digital Care, Cyfem und Queer, Code Girls, Digital Detox, Xenofemismus, Glitchfeminismus oder die feministischen Teile von Antigoogle und der Tech Workers umfassen.
Bei näherer Beschäftigung wird schnell klar: Außer der losen, thematischen Klammer Digitalisierung und Geschlecht, lassen sich Ziele, Zwecke und Ansatzpunkte dieser Initiativen kaum einheitlich bestimmen. Auch kann ich bislang nicht einschätzen, ob es sich um feministisches Wissen, um feministische Initiativen oder gar neue feministische Bewegungen handelt (vgl. Ilse Lenz. Von der Sorgearbeit bis #MeToo). Sicher ist: Mich faszinieren die Vorschläge für ein alternatives Miteinander in einer globalen digitalisierten Welt, genauso wie mich ihr gegenseitiges Misstrauen oder gänzliches Ignorieren irritieren. So kommt etwa Helen Hester in ihrem viel beachteten Buch „Xenofeminismus“ nicht ohne die ewigen Seitenhiebe gegen Maria Mies und den Ökofeminismus aus, die als Natur- und Weiblichkeitsfetischistinnen, gar als ‚alte Killjoys‘ erscheinen. Umgekehrt bringen in Gesprächen marxistische Digitalaktivistinnen mit Silvia Federici das Thema Frauenrechte in Koltanminen des Globalen Südens auf, während sie für queere Digitalinitiativen nur ein müdes Lächeln übrighaben: Ein bloßes differenzpluralistisches, kapitalistisches Make-up, sei das. Ich denke, dass hier nicht nur alte feministische Debatten wie etwa Fraser versus Butler in der Merely Cultural Debatte ausgetragen werden. Diese Seitenhiebe verweisen möglicherweise auf eine viel grundlegendere Problematik – hier werden feministische Kämpfe darüber geführt, wie soziale Geschlechtergerechtigkeit in einer zukünftigen globalen digitalen Welt aussehen soll.
Fragen über Fragen
Beste Gründe also, um ein neues Forschungsprojekt zu entwerfen und mit den folgenden, explorativen Fragen zu beginnen: Wie erzählen, thematisieren, interpretieren und dramatisieren zeitgenössische feministische Digitalbewegungen Digitalisierung und Geschlecht? Wie intervenieren und agieren sie? Und wie eignen sie sich digitale Medien, Infrastrukturen und Plattformen an? Wie imaginieren sie zukünftige Geschlechtergerechtigkeiten in einer globalen digitalisierten Welt?
Zum Thema Digitalisierung und Geschlecht haben die feministischen Arbeitswissenschaften wichtige Forschungsergebnisse vorgelegt. Sie untersuchen, wie und ob sich die Digitalisierung nachteilig auf sogenannte Frauenberufe auswirkt. Feministische Medienwissenschaften konturieren präzise die visuellen Strategien feministischer Netzbewegungen und zeigen, wie Netzfeministinnen eigene Weiblichkeitsbilder produzieren (vgl. Kohout 2018). So wertvoll die Beiträge sind, so verengen erste das Thema Geschlecht und Digitalisierung auf eine Frage von (Lohn)Arbeit, zweite lassen bislang Initiativen aus, die das Netz nicht nur nutzen, um Inhalte zu transportieren und sichtbar zu machen, sondern das Digitale, ihre Plattformen, Infrastrukturen, Medien und globale Materialität selbst zum Untersuchungsgegenstand machen. Schließlich fehlen mir Metaperspektiven auf die epistemischen Prämissen der Digitalinitiativen und ihr feministisches Cyberwissen. Diese Metaperspektive würde Feminismen zusammenbringen, die bislang unverbunden, selbstbezüglich, feindselig zueinander agieren.
Methode, theoretischer Hintergrund und Ziele
Methodisch soll das Projekt durch multi-perspektivische Ethnografien von Treffen, Veranstaltungen oder Demonstrationen umgesetzt werden. Zusätzlich sollen Interviews mit Akteur_innen und Aktivist_innen sowie Dokumentenanalysen von sozialen Medienprodukten und tagesmedialen Beiträgen, aber auch von Talkshows, Statistiken, politischen Regierungsprogrammen Romanen und Filmen durchgeführt werden.
Literaturwissenschaftliche, wissenssoziologische Arbeiten von Clare Hemmings, Robyn Wiegand, Connie Möser und Sabine Hark bilden die erste theoretische Säule für meine empirischen, qualitativen Analysen. Diese Autor_innen sezieren dominante Entwicklungsnarrationen über den akademischen, westlichen Zweite-Welle-Feminismus humorvoll und schonungslos – Theorie-Narrative, die ich seit Beginn meines Genderstudiums für selbstverständlich hielt und die ich selbst in Seminaren, Texten und auf Workshops zum Besten gegeben habe, die aber dennoch manche feministische Zugänge als besser, selbstverständlicher und fortschrittlicher beschreiben als andere.
Eine zweite theoretische Säule sind momentan intensiv geführte kulturwissenschaftliche und medienphilosophische Debatten zu Medienökologien. Darin konstatiert Erich Hörl, dass unsere derzeitige „technologische Bedingung“ (Hörl 2011) eine digitale ist: Digitale Medientechnologien sind allgegenwärtig (Hörl 2018). Zweitens liefert er einen neuen, komplexen Theorie-Ansatz, der zwischen verschiedenen Formen und Schichten der Digitalisierung unterscheidet – oder zwischen Modi, wie Hörl selbst formuliert (Hörl 2018). Zu diesen Modi gehören neue digital vermittelte Subjektivierungsweisen, Technologien, Medien, Machtverhältnisse, Kapital-, Kontroll- und Herrschaftsformen. Meine qualitativen Ergebnisse kopple ich an dieses Verständnis von Medienökologien als ein kritisches Dechiffrierungstool und versuche so, verschiedene Wissensebenen in den feministischen Einsätzen sichtbar zu machen oder zu fragen: Was genau bedeuten diese unterschiedlichen Wissensebenen im Detail für die Frage von Geschlecht?
Mit der Durchführung des Forschungsprojektes verfolge ich drei Ziele:
Erstens, kulturwissenschaftliche Medienökologiedebatten aus intersektionaler Perspektive zu untersuchen und existierende, entstehende, andere feministische Digitalökologien in die Debatte einzubringen.
Zweitens, den erstarkenden feministischen Digitalbewegungen und -initiativen sowie ihrem Cyberwissen innerhalb der genderwissenschaftlichen Forschungen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen.
Drittens, die Grenzen der verschiedenen feministischen Ansätze zwar kritisch zu diskutieren, sie aber nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander ins Gespräch zu bringen.
Einstiege statt Endpunkte
Wenn wir also von verschiedenen Modi und nicht ontologisch getrenntem, gar falschem feministischen Wissen ausgehen, dann müssen wir in unseren eigenen feministischen Analyseerzählungen auch nicht mehr den Ökofeminismus gegen den Queerfeminismus, ethnografische Alltagsforschungen gegen kulturwissenschaftliche Theorien oder Fragen nach Subjektivität gegen Fragen von Arbeit und Kapital ausspielen. Statt Endpunkte wären die feministischen Interventionen dann verschiedene Einstiegspunkte in eine kritische Mitgestaltung einer digitalen globalen Welt. Und die ist dringend nötig.
Ausführlicher siehe
• Ute Kalender, Aljoscha Weskott (2019). Data Doubles and Control Society: Critical Contentions. In: Conference Proceedings, 18th Annual STS Conference Graz, Critical Issues in Science, Technology and Society Studies, peer-reviewed, http://diglib.tugraz.at/conference-proceedings-of-the-sts-conference-graz-2019-critical-issues-in-science-technology-and-society-studies-6-7-may-2019-2019.
• Ute Kalender (2019). Digital Detox? Digital Care. Ein Text zu Digitalisierung und was die mit Sorge zu tun hat. In: Arts of the Working Class. 9th Issue, Dezember 2019, Everyone is Gay.
• Ute Kalender (2020). Zählen vs. Erzählen? Digitalisierung und Bildung. In: Demantowsky, Marko, Gerhard Lauer, Robin Schmidt, Bert te Willst (Hrg.). Was macht die Digitalisierung mit den Hochschulen – Einwürfe und Provokationen. De Gruyter: Oldenburg, Frühjahr 2020.
Literatur
Hörl, Erich (2018). The Environmentalitarian Situation: Reflections on the Becoming-Environmental of Thinking, Power, and Capital. In Cultural Politics, Vol. 14, Issue 2, July 2018, 153-173, Duke University Press.
Hörl, Erich. (2011). Die technologische Bedingung: Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Suhrkamp: Frankfurt am Main.
Kohout, Annekatrin (2019). Netzfeminismus. Klaus Wagenbach Verlag: Berlin.
Dr. Ute Kalender ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmedizin der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Feministische Perspektiven auf Technologien sind seit langem eines ihrer zentralen Forschungsinteressen.