Bevor die SARS-COV2-Variante des Corona-Virus in der chinesischen Stadt Wuhan entdeckt wurde, stand die Volksrepublik vorwiegend mit ökonomischen und Menschenrechtsthemen in den Schlagzeilen der westlichen Medien. Auf der wirtschaftlichen Ebene war es vor allem die als ‚neue Seidenstraße‘ titulierte Infrastrukturinitiative, die kritisch und kontrovers diskutiert wurde. Diese ‚neue Seidenstraße‘ – die Belt and Road Initiative (BRI) in offizieller Diktion – umfasst in ihrer territorialen und maritimen Ausdehnung ein Gebiet, das sich von Asien bis Afrika und teilweise auch über Europa erstreckt. Am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften (IAAW) der HU Berlin wurde uns klar, dass mit der BRI etwas bewegt wird, das unsere Forschung nicht nur mittelbar berührt. Wir waren uns schnell einig, dass in der gängigen Berichterstattung und den renommierten Forschungsjournalen zu dem Projekt viel kommentiert, eine Perspektive allerdings nur sehr selten aufgegriffen wird: die lokale. Wie regiert die lokale Bevölkerung, wenn, zum Beispiel, mit Konfuzius-Instituten in afrikanischen Städten eine neue Art von Kulturpolitik und heritage diplomacy betrieben wird? Lernen dann mehr Menschen dort Chinesisch als an den (oftmals geradezu benachbarten) Goethe-Instituten Deutsch? Welche Aktivitäten löst die Bahnverbindung Duisburg-Shenzhen an den (Zwischen-)Halteorten aus? Was macht die Händler*in auf dem kambodschanischen Wochenmarkt, wenn die primär männliche chinesische Kundschaft zunimmt, oder wenn der Marktplatz einer Baustelle weichen muss? Fördert die zunehmende Grenzmobilität neue Solidaritäten zwischen Uighur*innen aus Xinxiang und Muslim*innen aus Zentralasien? Die Betrachtung der Dynamiken auf der lokalen Ebene verlangt, selbstredend, den steten Einbezug einer Gender- und Diversityperspektive. Warum sind es z.B. so oft Frauen, die auf neue Gegebenheiten rasch und pro-aktiv reagieren, grenzüberschreitenden Handel organisieren, neue Erwerbsmöglichkeiten erschließen und damit zu einem relevanten ökonomischen Akteur werden? Ohne einen dafür geschulten Blick und entsprechend formulierte Forschungsfragen kann die Untersuchung großer Infrastrukturprojekte wie die BRI nicht solide erfolgen. Unser Projekt versucht dies indessen nicht nur über Fragestellungen, Erkenntnisinteressen und Forschungsdesigns einzulösen, sondern ebenso über die Zusammensetzung des Wissenschaftler*innenteams.
Verbinden im Verbund
Eine weitere Anforderung, die sich an das Projekt stellt, ist sprachlicher Natur. Unsere Forschungsfragen können nur dann seriös beantwortet werden, wenn die sprachliche, kultur-, medien-, literatur-, geschichts-, gender-, religions- und sozialwissenschaftliche, ethnologische und ökonomische Expertise dazu vorhanden ist – wie es am IAAW der Fall ist. Als Format zur Umsetzung unseres Vorhabens bot sich eine Programmlinie des BMBF an, mit der die Regionalwissenschaften in Deutschland gefördert werden. Auch Wissenschaftskommunikation und der Transfer von Wissen/schaft in die Gesellschaft nehmen in der Programmlinie einen hohen Stellenwert ein. Dem IAAW haben sich daher drei weitere Institute angeschlossen, die in der Politikberatung und der Öffentlichkeitsarbeit routiniert sind, inhaltlich anknüpfen und mit den Ansprüchen an Diversity im Forschungsbetrieb vertraut sind. Der zusammenarbeitende Verbund besteht aus IAAW, Leibniz Zentrum Moderner Orient (ZMO, Berlin), Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS, Berlin) und Bonn International Center for Conversion (BICC). Seit April 2021 wird er vom BMBF gefördert und widmet sich der Erforschung von lokalen Perspektiven auf multiple transregionale Ver- und Entkopplungsprozesse am Bespiel der BRI. Das Akronym des Verbunds, De:link//Re:link, greift diese multiplen Prozesse auf und schaut auf Akteurs- und institutionelle Beziehungen, regionale Einheiten, Initiativen, Solidaritäten, Narrative, kulturelle Repertoires u.v.a.m. Das Akronym „link“ steht dabei für die Verknüpfung von „local insights and new knowledge“. Mit De:link//Re:link verlassen wir die enge geopolitische und ökonomische Interpretationsebene, die gegenwärtig in der Forschung zur BRI dominiert, und stellen die regionalwissenschaftliche Expertise als analytisches Fundament in den Vordergrund. Drei mit einander verschränkte Themenlinien strukturieren die gemeinsame Agenda. Alle drei Themenlinien werden auf unterschiedlichen Ebenen bearbeitet, d.h. im Hinblick auf sozioökonomische, politisch-institutionelle und kulturelle/kulturpolitische (Ideen, Sprache, kulturelle Codes etc.) Ver- und Entkopplungen.
Politik und Kultur im Visier
China wurde lange sowohl in Deutschland als auch in der EU insgesamt als Absatzmarkt und Produktionsstätte von Billigwaren wahrgenommen. Mit der BRI hat die Volksrepublik jedoch ihren regionalen und globalen Führungsanspruch unterstrichen. Seitdem ist eine Diskussion über den ‚richtigen’ Umgang mit China und der BRI entbrannt. De:link//Re:link untersucht die wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgen der BRI für die von ihr erfassten (Trans-)Regionen. Kreiert China mit der BRI tatsächlich eine „Win-Win“ Situation, wie es von der chinesischen Führung propagiert wird? Welche Implikationen ergeben sich daraus für die Europäische Union (und Deutschland als einem ihrer größten Mitgliedstaaten)? Aus deutscher Perspektive ist eine Auseinandersetzung mit den lokalen Perspektiven auf die BRI in der direkten europäischen Nachbarschaft, aber auch in Afrika, Eurasien und Asien vor diesem Hintergrund äußerst relevant, um das Ausmaß und die Auswirkungen chinesischen Engagements zu verstehen und abschätzen zu können, wann China als Partner, Wettbewerber oder ‚systemischer Rivale‘ auftritt, und wie deutsche und europäische Politik damit umgehen kann.
Aber es geht um mehr als Politik. Die Debatte um Restitution und die eindrücklich artikulierte Forderung nach einer „zivilisatorischen Wende“ sind Ausdruck eines zunehmenden Bedürfnisses nach epistemischer Dekolonisierung. Eine kritische Reflektion über dominante ontologische Parameter des sog. globalen Nordens – inklusive der in Genderregimen wirkmächtigen Parameter – ist dem inhärent. Die entwicklungspolitisch als Süd-Süd-Kooperation bezeichnete Verbindung und Verbündung von Akteur*innen des sog. globalen Südens zeigt, welche konkreten politischen und ökonomischen Ausgestaltungen diese Bedürfnisse flankieren. Die BRI Chinas versteht sich als Implementierung einer Süd-Süd-Kooperation. Das kulturelle Infrastrukturprojekt der BRI fordert zur Reflektion über Besitz und Schutz von Kulturerbe sowie über Geschlechterrepräsentationen z.B. in der bildenden Kunst – in Deutschland allgemein und in Berlin im Besonderen heraus.
Und was noch?
De:link//Re:link ist ein Verbund, der ein Zeichen setzen möchte mit der konsequenten Ausrichtung am Prinzip des Forschens auf Augenhöhe mit unseren Partner*innen im sog. globalen Süden, der theoretische Impulse aus diesem Süden aufnehmen möchte, und der mit dem Bekenntnis zu New Area Studies eine neue Auffassung von Regionalwissenschaften etabliert. Die Bedeutung der Regionalwissenschaften für die Wissensgenerierung, -kommunikation und -vermittlung in der heutigen Welt deutlich zu machen, ist ein zentrales Anliegen. Dies gilt insbesondere für die Vermittlung der Relevanz von Sprachkenntnissen: Sprachen reflektieren Geschlechterverhältnisse, soziale Hierarchien und gesellschaftliche Vielfalt, im positiven (Toleranz, Offenheit) wie im negativen (Diskriminierung, Herabwürdigung) Sinne. Mit dem gleichen commitment vertritt De:link//Re:link die Auffassung, dass ein Vorhaben wie das beschriebene nur dann gelingen kann, wenn auch das Team der Forschenden die Diversität abbildet und lebt, die das Forschungsfeld kennzeichnet. Mit sechs Doktorand*innen, drei Postdocs und einer Koordinatorin bietet der Verbund eine Vernetzungsplattform für neun Nachwuchswissenschaftler*innen. Sie bilden ein m/w/d-weiß/PoC-Team mit Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichsten Arbeits- und Praxiskontexten. Schaufenster zu den laufenden Postdoc-Projekten wurden auf dem öffentlichen Kickoff-Workshop des Verbunds am 25.06.2021 geöffnet.
Claudia Derichs ist Professorin für Transregionale Südostasienstudien am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der HU Berlin. Sie studierte Japanisch und Arabisch in Bonn, promovierte 1994 an der FU Berlin und habilitierte 2004 in Duisburg. Zurzeit forscht sie über „Women‘s Pathways to Professionalization in Muslim Asia“ und politische Aktivistinnen in den „Long 1960s“. Eine jüngere Publikation dazu erschien 2019 bei Routledge: The Japanese Left and the Muslim World; in: Colvin, S./K. Karcher (eds.): Women, Global Protest Movements and Political Agency. Rethinking the Legacy of 1968.