Das Gemeinsame als Imagination und Praxis: Wie Infrastruktur zum gemeinsamen Anliegen wird

Infrastrukturen sind mehr als nur Rohre und Leitungen. Das Konzept der Infrastrukturierung (Niewöhner 2015) will daher den Verflechtungen des Sozialen und des Materiellen Rechnung tragen. Es richtet den Blick darauf, wie Infrastrukturen Routinen des Sozialen (ko-)konstituieren und organisieren, wie sie Subjektpositionen und Öffentlichkeiten schaffen und zentrale gesellschaftliche Raum-Zeit-Arrangements (z.B. „Arbeit“ oder „Freizeit“) prägen. Als Teil der DFG-Forschungsgruppe Recht-Geschlecht-Kollektivität sind meine Kollegin Michèle Kretschel-Kratz (Genderblog-Beitrag #MeinSchreibtisch) und ich am Institut für Europäische Ethnologie den Infrastrukturierungen auf der Spur und zwar in den Feldern Geburtshilfe und Verkehrswende.

Dabei interessiert uns, wie beispielsweise über politische Mobilisierungen für gutes oder gerechtes Gebären Fragen des Gemeinwohls adressiert werden. Wenn also eine infrastrukturelle Mindestausstattung für den Kreißsaal gefordert wird, weil Gebären „uns alle“ angehe – schließlich sind wir alle geboren – weist die Bezugnahme auf Gemeinwohl über ein Individuelles hinaus, das dadurch einerseits vorausgesetzt und andererseits hervorgebracht wird. Interessant daran ist, dass gutes Gebären eben nicht mehr geschlechtsspezifisch gefasst wird, beispielsweise als Verwirklichung von Frauenrechten. Wenn stattdessen mit Vorstellungen eines allgemeinen Interesses politisch gearbeitet wird, provoziert das aus unserer Sicht und anschließend an geschlechtertheoretische Konzepte auch die Frage nach impliziten wie expliziten Ein- und Ausschlussmechanismen. Welche Auslassungen kommen zum Tragen oder verweisen solche Imaginationen auf inklusiver gedachte, alternative Konzeptionierungen des Sozialen oder sogar auf feministische Zukünfte (Daniel/ Klapeer 2019)? Mit anderen Worten: Wer sind „alle“ und „Wessen Wohl ist das Gemeinwohl“ (Offe 2019), das hier aufgerufen wird?

Eine dritte theoretische Setzung unseres Projektes spiegelt sich in der Frage, wie Recht mobilisiert und umgesetzt wird. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie der Deutsche Hebammenverband e.V. haben geburtshilfliche Infrastrukturen im Blick und erhoffen sich mit rechtpolitischer Arbeit, ihre Forderungen durchsetzen zu können. Dabei interessieren wir uns für die konkrete Arbeit mit Recht, weil die politischen Ziele in ein rechtliches Vorgehen übersetzt werden müssen, die eigenen Visionen verrechtlicht und damit in vielen Belangen auch angepasst werden. Welche Rolle Gender in dieser theoretischen Perspektivierung zwischen Infrastrukturen, Gemeinwohl und Recht spielen kann, möchte ich nun anhand meines Forschungsfeldes, der zweiten Fallstudie unseres Projektes, etwas näher darstellen.

Die „Omas for Future“ und andere Organisationen demonstrieren am 6.5.2022 für mehr Klimagerechtigkeit. Bild: Alik Mazukatow

Die Verkehrswende umsetzen: Einige Anknüpfungspunkte an Gender-Debatten

Urbane Mobilität in Berlin ist ein Politikum, etwa wenn Umweltaktivist*innen öffentlichkeitswirksam Fahrbahnen blockieren, wenn im Kiez mal wieder darum gerungen wird, ob nach dem anstehenden Straßenumbau weniger Parkraum für Autos zur Verfügung gestellt wird oder wenn Verkehrswende-Initiativen wie der ADFC oder Changing Cities vor der Frage stehen, wie bis 2030 ein Radwegenetz von über 800 Kilometern Länge in der Stadt implementiert werden kann, während journalistische Debatten sich gleichzeitig vor allem auf die Ausgestaltung von 500 Metern Friedrichstraße konzentrieren.

Der öffentliche Diskurs nutzt hier wirkmächtige Bilder von Menschengruppen, die in der Stadt unterwegs sind, oft nach Mobilitätsart unterschieden. Da werden Bilder von rüpelhaften „Radfahrern“ entworfen sowie immer wieder Personengruppen aufgerufen, die keinesfalls auf ihr Auto verzichten könnten (denken Sie nur mal an die „Krankenschwester“, „Handwerker“ oder „Gehbehinderte“ und von den rücksichtslosen „Rollerfahrern“ will ich erst gar nicht anfangen!) Politisch ist diese Diskussion in meinen Augen endlos wie müßig, weil meist individuelles (Fehl-)Verhalten kritisiert wird, anstatt systematische Komponenten der Mobilität in den Blick zu nehmen. Einer geschlechtertheoretischen, wissenschaftlichen Perspektive bietet sich hier allerdings die Möglichkeit, die vergeschlechtlichten Wissensbestände solcher sozialen Figuren zu untersuchen, die in diese Art der Imaginationen von Welt einfließen.

Politische Diskussionen um urbane Infrastrukturen werden auch deswegen so heftig geführt, weil sich mit ihnen politische Versprechen verbinden und sich bei Planung, Bau und Nutzung von Infrastrukturen diese Versprechen der Infrastrukturen (Anand et al 2018) als normative Annahmen von Gemeinwohl in die Stadt als gebaute Umwelt materiell einschreiben (Siemiatycki et al 2020). Mit einem Differenzansatz lässt sich die Normativität hinter den grundlegenden Annahmen der Ausgestaltung von Infrastrukturen kritisch hinterfragen: Ist die Stadt auf kurze, aufeinanderfolgende Wegeketten ausgelegt, die oft zu Fuß und als Begleitung einer care-bedürftigen Person zurückgelegt werden (wie Frauen sich oft durch die Stadt bewegen) oder aber auf einen längeren automobilen Weg zur Erwerbsarbeit (wie ihn überwiegend Männer wahrnehmen)? Zwar beginnen die Privilegien der Automobilität langsam zu bröckeln, damit ist allerdings Autonormativität nicht überwunden: Platzverteilungen in der Stadt sind weit davon entfernt, gerecht organisiert zu sein und auch in den politischen Debatten ist immer wieder die Gleichsetzung von Autoverkehr und Urbanität zu hören, denn eine moderne Großstadt sei nun mal nicht ohne Automobilität zu denken. Politische Forderungen nach weniger Autoverkehr werden in diesem Denkrahmen als wirklichkeitsfremde Bullerbü-Fantastereien abgetan. Dieser in meinen Augen visionslose und geschichtsvergessene Standpunkt blendet aus, dass mit den Zugangsregelungen zu urbanen Mobilitäten auch Ungleichheitsregime reproduziert werden, die es intersektional zu analysieren gilt.

Die Stadt neu denken: Verrechtlichte Debatten

Doch tragen sowohl diese Debatten in ihrer Gesamtheit als auch die Fülle von Aktivitäten politischer Mobilisierungsarbeit jeglicher politischer Couleur nicht nur zum Diskurs darüber bei, wie Mobilität in Städten ausgerichtet sein soll, sondern konstituieren das Urbane in diesen Aushandlungspraktiken auch erst ein Stück weit (Borch/ Kornberger 2015). Dabei wird ausgelotet, was Gemeinwohl unter urbanen Bedingungen von Dichte, Differenz und Heterogenität bedeuten kann. Schnell wird klar, dass ein neues Gemeinsames sich auf dieser Basis nur schwerlich auf Identitätspolitiken oder gemeinsamen Interessen gründen lässt, sondern sich auf Prozesse des Teilens und des Debattierens selbst stützen könnte (Hark et al 2015). Die Verständigung darüber, in welcher Stadt wir leben wollen, würde damit zum allgemeinen Anliegen. Und obwohl viele Meinungen und Maßnahmen konträr zueinander liegen, produzieren alle die Stadt in ihren Unterschiedlichkeiten und teils Unvereinbarkeiten als Uncommons, als gemeinsame Sache, die durch produktive Divergenzen erst zu dem wird, was sie ist (Blaser /De la Cadena 2017).

Ein Teil dieser Verständigungsprozesse ist in Form des Berliner Mobilitätsgesetzes verrechtlicht worden. Das Gesetz ist auch deswegen interessant, weil es dem Nachdenken über das gute Leben in der Stadt dem moralischen Repertoire möglicher Legitimierungen ein rechtliches Register hinzufügt. Und mit dem Recht kommen auch all seine Pfadabhängigkeiten und Logiken ins Spiel, die rechtliche Begründungen und Verfahren mit sich bringen. Gleichzeitig ist das Gesetz bereits Produkt zivilgesellschaftlicher Debatten und damit des Ringens um Veränderung, da es maßgeblich auf Betreiben des Volksentscheids Fahrrad zu Stande gekommen ist. In meiner Forschung interessiert mich, wie die Verkehrswende mit Hilfe des Mobilitätsgesetzes umgesetzt wird. Es geht um plurale Entwürfe für ein zukünftiges Leben in der Stadt, das Verhältnis sozialer Bewegungen zum Staat und die Frage, wie sich politische Normativität in die Materialität urbaner Infrastrukturen einschreibt. Ein spannendes Forschungsfeld, das sich theoretisch wie empirisch ganz wesentlich durch Gender-Themen und Gender-Theorien erschließen lässt.

 

Literatur

Anand, Nikhil; Gupta, Akhil; Appel, Hannah (Hg.) (2018): The Promise of Infrastructure. Durham: Duke University Press.

Blaser, Mario; La Cadena, Marisol de (2017): The Uncommons: An Introduction. In: anthropologica 59 (2), S. 185–193.

Borch, Christian; Kornberger, Martin (2015): Introduction. Urban commons. In: Christian Borch und Martin Kornberger (Hg.): Urban commons. Rethinking the city. Abingdon, Oxon, New York, NY: Routledge (Space, materiality and the normative), S. 1–21.

Daniel, Antje; Klapeer, Christine M. (2019): Her mit der Zukunft?! Feministische und queere Utopien und die Suche nach alternativen Gesellschaftsformen. In: Femina Politica 28 (1), S. 9–31.

Hark, Sabine; Jaeggi, Rahel; Kerner, Ina; Meißner, Hanna; Saar, Martin (2015): Das umkämpfte Allgemeine und das neue Gemeinsame. Solidarität ohne Identität. In: Feministische Studien 33 (1), S. 99–103.

Niewöhner, Jörg (2015): Infrastructures of Society, Anthropology of. In: James D. Wright (Hg.): International encyclopedia of the social & behavioral sciences. 2. ed. Amsterdam: Elsevier, S. 119–125.

Offe, Claus (2019): Wessen Wohl ist das Gemeinwohl? (2001). In: Claus Offe (Hg.): Institutionen, Normen, Bürgertugenden. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 341–366.

Siemiatycki, Matti; Enright, Theresa; Valverde, Mariana (2020): The gendered production of infrastructure. In: Progress in Human Geography 44 (2), S. 297–314.

 

Beschreibung des Titelbildes
Viele Klimainitiativen sprechen sich gegen die Verlängerung der A 100 in Berlin aus. Dabei werden Fragen der Stadtgestaltung und des Klimaschutzes gemeinsam verhandelt, hier am 18.6.2022. Bild: Alik Mazukatow

 

Alik Mazukatow forscht im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Recht-Geschlecht-Kollektivität“ an der Humboldt-Universität ethnographisch über Antidiskriminierung und die Verkehrswende. Ihn interessiert, wie Visionen eines besseren Zusammenlebens mit Recht umgesetzt werden. Seine Dissertation ist vor kurzem als Monographie erschienen: Mit Recht Politik machen. Eine Ethnographie der rechtlichen Antidiskriminierungsarbeit in Berlin. Baden-Baden: Nomos (Recht und Gesellschaft, Band 16).